Versuch über Sartre

 

Wissenschaft und Philosophie, und ganz allgemein unsere analytischen Denkfähigkeiten, sind sehr gut darin, das Funktionieren aller möglichen Teilaspekte unserer Existenz zu verstehen. Sie haben es in vielen Fällen geschafft, hinter oberflächlich wahrnehmbaren Phänomenen das Wirken elementarer Prinzipien zu enthüllen, die im weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte oftmals auf noch grundlegendere zurückgeführt werden konnten. Doch das wahre Problem der Philosophie, die metaphysische Frage nach dem letzten Seinsgrund, haben sie nicht gelöst. Woher kommen die Substanz und die Regeln, nach denen sie operiert?

Man kann dem Problem ausweichen, indem man behauptet, dies sei eine falsch gestellte, sinnlose Frage, allein schon weil unsere Methoden, Fragen zu beantworten, an die Natur derjenigen Phänomene gebunden sind, die der Mensch im Laufe seiner Evolution auf der kleinen Erde kennen und zu hinterfragen gelernt hat, oder anders formuliert, weil ein letzter Grund nicht mit der Konzeption des menschlichen Denkens zusammenpasst. Wie sollte auch die Antwort auf diese Frage lauten? Gründe und Kausalität gibt es doch nur für ein Ereignis, das auf andere folgt.

Man kann das Problem verlagern, indem man den Begriff der Zeit (und des Raumes) erweitert. Bei der Frage nach dem letzten Grund geht es ja möglicherweise um Vorgänge, die schon vor dem Anfang des Universums und außerhalb des beobachtbaren Kosmos stattgefunden haben. Ein Vorher und ein Außen sind durchaus denkbar, wenn man sich vorstellt, dass unser Universum beim Urknall aus der Kondensation eines heißen Tetrongases innerhalb eines größeren 6-dimensionalen Raumes hervorgegangen ist, der unser Universum auch heute noch umfängt.

Bei näherer Betrachtung stellt diese Art der Argumentation allerdings nur eine Verschiebung der ursprünglichen Frage dar. Dadurch mögen metaphysische Probleme wie das des letzten Seinsgrundes zwar zu Einstiegspunkten für neue physikalische Erkenntnisse werden; die Probleme selbst werden damit aber nicht gelöst, sondern nur immer weiter hinausgeschoben. Ob die unter den Bedingungen unserer terrestrischen Umwelt entstandenen Gehirne bzw Ich-Bewusstseine eine Letztbegründung der Welt überhaupt denken können oder nicht, ist eine Frage, die weiter oben bereits diskutiert worden ist. Dass dabei speziell dem menschlichen Dasein ein metaphysischer Sinn zukommt, würde ich eher verneinen. Am Ende müssen wir uns wohl einfach damit abfinden, dass unser eigenes Dasein absurd und sinnlos ist.

Der Begriff des Seins steht auch im Zentrum der sogenannten Existenzphilosophien. Diese sind zumeist Lebensphilosophien, die weniger das physikalische als das individuelle und soziale Sein des Menschen betrachten. Letzteres ist noch stärker von Zeitlichkeit und Vergänglichkeit bestimmt als der Kosmos als Ganzes, und menschliche Grundbefindlichkeiten spielen hier eine tragende Rolle.

Der Existentialismus und auch all das, was man im weiteren Sinn als Existenzphilosophie bezeichnet, beschäftigt sich mit der Naturphilosophie, die in meinem Denken einen zentralen Platz einnimmt, ausdrücklich nur am Rande. Existenzphilosophie geht normalerweise von einem Dasein des Menschen aus, das gewissermaßen außerhalb der organischen und anorganischen Natur und innerhalb eines sozialen Situationsrahmens stattfindet; der Mensch, sein Geist und Bewusstsein stehen im Mittelpunkt, nicht wie bei der naturwissenschaftlich begründeten Ontologie die Materie. Dass sie materiellen Wirkungen auf die Gesellschaft zu wenig Rechnung trägt, ist ein offensichtliches Manko dieser Art von Philosophie.

Historisch ging es dem Existentialismus vor allem darum, sich von den hermetischen, tendenziell menschenverachtenden Systemen in der Nachfolge Hegels abzusetzen, deren Verbreitung in Europa mit dem Zeitalter des Manchesterkapitalismus korreliert war und erst ungefähr mit den Weltkriegen ein Ende nahm. Die Erfahrung dieser Kriege zusammen mit einem technischen Fortschritt, der trotz aller Schattenseiten immer mehr Menschen immer größere Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten eröffnete, hat dann jene veränderten Grundeinstellungen innerhalb der abendländischen Philosophie hervorgebracht bzw befördert.

Wie bei einschneidenden neuen Geistesströmungen nicht unüblich, kommen bei den abstrakten Begriffsbildungen der Existenzphilosophen einige andere Aspekte der klassischen Philosophie zu kurz. Etwa in Heideggers auf Innerlichkeit zielendem Ansatz, in welchem Begriffe wie Sorge, Geworfenheit, Mitsein, Möglichsein und Verstehen im Vordergrund stehen und dabei wichtige Tatsachen nicht mitreflektiert werden wie die, dass der Mensch ein zutiefst biologisches Wesen ist, das in einer hochtechnisierten Massengesellschaft dennoch gut funktionieren und sich dabei dem Anschein nach sogar sehr wohl fühlen kann. Gar nicht wird über die Rolle der organischen Natur bei der sich oftmals selbstähnlich restrukturierenden Organisation von Ich und Gesellschaft nachgedacht, und zu wenig über die Verschiedenartigkeit der individuellen psychischen Konstitutionen oder über die Klassenstrukturen und das Interessengemenge konkreter Gesellschaften, die unser aller Dasein determinieren und damit die dieses Dasein beschreibenden Theorien eigentlich dominieren sollten.

Genug Gründe, sich die Behandlung der zumindest anfangs nazibegeisterten Koryphäen Heidegger, Jaspers und Co, in deren konservativem Denken Eliten und/oder Führer eine allzu große Rolle spielen, zu ersparen. Stattdessen konzentriere ich mich auf Sartre, den Progressiven unter den Existenzphilosophen, dessen Denken ich zwar nicht in Gänze teile, dessen Ideen zur menschlichen Freiheit mir aber durchaus faszinierend erscheinen. Bei aller Bewunderung werde ich im Folgenden vor allem auf das abheben, was mich von Sartre trennt und dabei nicht gerade zimperlich mit ihm umgehen.

Wie bereits angesprochen, ist die Materie für den Existenzphilosophen nur ein Beiwerk, auf dessen Hintergrund sich das eigentliche Sujet seiner Philosophie, das Sein (gemeint ist das soziale oder individuierte Dasein des Menschen) entfaltet. Im Gegensatz dazu haben materielle Dinge keine wirkliche Tiefe, sie sind nur für uns da und an sich ohne Daseinssinn. Erst der Mensch verleiht ihnen durch Verwenden und Reflektieren Bedeutung und Leben. Sein Tod ist ein Wiedereintritt seines Körpers und der von ihm bearbeiteten und verwendeten Dinge in das undurchdringliche Nichts der Materie.

Anders als in der Naturphilosophie lässt sich auf Ebene der gesellschaftlichen Existenz ein letzter Seinszweck scheinbar leicht ausmachen. Er ergibt sich aus der Bedürfnisbefriedigung der Individuen, aus ihrem Gut-leben-wollen, sowie auch dem ihrer Klasse und der gesamten Gesellschaft. Dies setzt einen hohen Grad der Naturausbeutung voraus, eine stabile Geburtenrate, und dass man sich eventuell mit Nachbarn um Ressourcen streiten muss (zuweilen in kriegerischen Konflikten).

Da das Individuum, wie sich in der Geschichte gezeigt hat, in verschiedenen Gesellschaftsformen überleben kann, ist deren Form nicht exakt festgelegt. Der Mensch kann in kleinen Gruppen existieren, in einer straff durchorganisierten Tyrannei oder einer liberalen Demokratie.

Eine Metaphysik, die behauptet, der Begriff des Seins lasse sich nicht aus der Perspektive des konkret Seienden analysieren, kann nur für das Bewusstsein und die Begriffe gelten, die es formt, jedoch nicht für das physikalische Sein (=die Dinge-an-sich). Auch die Aussage, die Seinsfrage verweise auf den Menschen, gilt nur (und dort trivialerweise) für das Sein des Ich und für die dem Bewusstsein zur Verfügung stehenden Pointer. Daher ist festzustellen, dass der Begriff des Seins nur in dem Sinne auf den Menschen verweist, in dem jeder Begriff auf den Menschen verweist.

Der Mensch hat nicht nur als Herr über die Begriffe, die er verwendet, ein Seinsverständnis, sondern auch, weil er ein materieller Bestandteil des Universums ist. Seine Einbettung in den physikalischen Kosmos bestimmt und beschränkt seine Erkenntnisfähigkeit ebenso wie jenes Seinsverständnis. Der Mensch definiert die Begriffe, kann aber die Gesetze an sich nicht ändern.

Auch seine Fähigkeit zur Einsicht in soziale und ökonomische Dynamiken ist begrenzt. Immerhin hat er eine wenngleich beschränkte Möglichkeit, auf diese Einfluss zu nehmen. Der Grad seines Einflusses hängen von seiner Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie ab.

Wenn man sagt, das Seinsproblem könne nur im Kontext einer durch das Dasein getätigten ursprünglichen Verzeitlichung gelöst werden, darf das nur so verstanden werden, dass diese die Art und Weise bestimmt, wie der Mensch sein eigenes Sein begreift und empfindet. Denn das physikalische Sein der Materie gibt es auch ohne den Menschen, und dessen Gesetzmäßigkeiten sind anscheinend unwandelbar. Daher bleiben dem Menschen nur die Randbedingungen, die er ändern und bereitstellen kann, um seine Maschinen zum Laufen zu bringen.

Werden und Vergehen, die üblicherweise im Zusammenhang mit dem Sein genannten dynamischen Begriffe, sind in der physikalischen Wirklichkeit einfach Zustandsänderungen, die an der grundlegenden Eigenschaft des Seienden, zu sein, nichts ändern.

Aufgrund der so beschriebenen Beschränkungen ist jeder existenzphilosophische Ansatz automatisch mit folgenden Unzulänglichkeiten behaftet:

-der existentialistische Anthropozentrismus, der ohnehin der menschlich allzu menschlichen Tendenz entgegenkommt, alles aus der subjektiv-interessen-gesteuerten Sicht des selbst ernannten homo sapiens zu sehen, führt leicht zu philosophischer Selbstüberschätzung. Er steht damit im Gegensatz zu der von mir vertretenen ganzheitlichen Philosophie, wo das Sein der Menschen und das der Natur sich mindestens gleichberechtigt gegenüberstehen, nur teilweise als dialektische Gegenspieler.

-er führt insbesondere zu einer fragwürdigen Haltung gegenüber Umweltzerstörungen. Diese sind aus Sicht der Existenzphilosophen nur dann kritikwürdig, wenn sie das Dasein der Menschen beeinträchtigen, statt es zu verbessern oder bequemer zu machen. Das liegt daran, dass die ungenutzte und unbearbeitete Umwelt ja angeblich über keine Tiefe verfügt und auch kein Gut an sich ist, das neben den Interessen des Bewusstseins bestehen könnte. Wenn es dem menschlichen Wohlleben dient, ist selbst die gnadenlose Ausbeutung der Natur, auf welcher unser Wohlstand maßgeblich beruht, in jedem Fall gerechtfertigt.

-der existentialistische Antinaturalismus führt zu einer fragwürdigen Haltung gegenüber den Naturwissenschaften. Diese haben schon lange herausgefunden, dass das An-sich-sein der Dinge komplexen Gesetzmäßigkeiten folgt, die von sehr großer Tiefe zeugen - auch und gerade im Vergleich zu den banalen Triebimpulsen, denen das menschliche Verhalten oft unterworfen ist. Dabei sind viele dieser komplexen Naturerscheinungen mit Sicherheit noch gar nicht entdeckt, viele Gesetze noch gar nicht gefunden, und die experimentellen Produktionsmittel werden wohl nie ausreichen, um die Tiefe der Materie vollständig auszuloten.

An dieser Art der Tiefe ist aber der Existentialismus ohnehin nicht interessiert. Sondern es geht ihm um die Tiefen und Untiefen unseres psychischen und sozialen Ich-Bewusstseins, die dazu führen, dass viele gesellschaftlichen Strukturen und Kommunikationsvorgänge äußerst fragile Gebilde sind, wo im Extremfall ein hochmütiger Blick, ein Blinzeln zur falschen Zeit eine schreckliche Fehde auslösen kann.

In seiner äußersten Form mündet der Anthropozentrismus in die polemische Frage: "Was hat denn die Natur für mich / für den Menschen getan, dass ich sie schützen soll?", um auf die Antwort: "Sie ist die Grundlage allen organischen Lebens und lässt zum Beispiel die Früchte gedeihen, die an den Bäumen wachsen." zu erwidern: "Hast du schon mal einen Wildapfel probiert?"

Dies ist der egoistische Standpunkt des Ackerbauern und Viehzüchters, der der unabhängigen Natur keinen Raum bieten will, geschweige dass er ihr ein gleichwertiges Existenzrecht zugesteht. In Wirklichkeit hängen natürlich die kultivierte und die 'wilde' Natur untrennbar zusammen, und Beides greift vielfach bestimmend in das Sein des Menschen ein. Das wahre Problem ist die Ignoranz, mit der man sich auf diese Weise quasi über den materiellen Kosmos stellen zu können meint. Eigentlich kann das niemand im Ernst vertreten, und so stellt es wohl letztendlich nur eine innere Rechtfertigungsstrategie für die erwähnte gnadenlose Naturausbeutung dar.

Nota bene ist der Anthropozentrismus nicht nur ein wesentliches Element der Existenzphilosophie, sondern all jener philosophischen Ansätze (insbesondere auch des Hegelschen), die Natur und Materie als eher nebensächlich für ihr Denksystem betrachten. Gewiss ist der Hegelsche Zugang noch abstrakter. Doch teilt er mit dem Existentialismus und jeder Innerlichkeit die Konzentration auf die Begriffe und Konstruktionen, die der Mensch sich für sein Leben in der Gesellschaft und in der Geschichte zurechtlegt, und benutzt sie als Ausgangspunkt der philosophischen Überlegungen - dies übrigens einer der Gründe, warum Sartre mit Erfolg auf Hegelsche Denkfiguren zurückgreifen konnte.

Jedes rein geisteswissenschaftliche Schema wird nämlich bei der Frage nach dem (Grund des) Sein letztlich versagen. Weil es beim Sein der Materie versagt, versagt es dann auch beim Sein des Menschen. Es kann zwar alle möglichen Fragen bezüglich Befindlichkeiten, Reaktionen und Beziehungen der Individuen in sozialen Strukturen analysieren, wird dabei aber immer an der Oberfläche der Phänomene verbleiben, d.h. diese nur phänomenologisch beschreiben statt sie von fundamentalen Prinzipien her zu begreifen. Erstens, weil die Seinsfrage dem Grunde nach auch eine naturwissenschaftliche Komponente aufweist, und zwar eine biologische (der organisch-chemische Aufbau des Menschen, seines Hirns und seiner Genetik) sowie eine physikalische (das Biologische als Unterabteilung des anorganischen Kosmos, in den wir mindestens ebenso geworfen sind wie in die Gesellschaft). Und zweitens, weil die menschliche Existenz in sich absurd und daher womöglich unbegründbar ist. Dieses Argument wurde bereits im Abschnitt über Letztbegründungen näher ausgeführt.

Typische geisteswissenschaftliche Ansätze wie der Sartresche Existentialismus treffen unentwegt nur beschreibende Feststellungen bzgl des menschlichen Daseins, ohne zu fragen, welche Dynamik den geistigen (und damit auch den sozialen) Phänomenen zugrundeliegt. Feststellungen wie
-"Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Er taucht in der Welt auf, erfasst sich als existierend für nichts, als überflüssig."
-"Die Dinge erscheinen als das, was sie sind und sind nichts als die Gesamtheit ihrer Erscheinungen. Sie sind, was sie sind, undurchdringlich, ohne Daseinssinn, überflüssig: sie sind an sich."
-"Es zeigt sich andererseits ein Sein, das nicht darin aufgeht zu sein, was es ist, und dies ist das Bewusstsein. Das Bewusstsein ist kein Ding, keine Substanz. Das Bewusstsein entspringt als das dem Sein Entgegengesetzte, als sich selbst durchsichtiger Bezug zu ihm."
offenbaren das Grundproblem aller Existenzphilosophie: sie ist nur rein deskriptiv und gibt selten Gründe für die beschriebenen Phänomene an. Woher stammt aber das Bewusstsein? Was steckt hinter den konstatierten Relationen? Woher kommen das Ich und die Anderen? Wieso entfaltet sich diese denkwürdige Dynamik des gesellschaftlichen Seins? Das Prinzip der evolutionären Selektion, das man hinzuziehen könnte, beantwortet solche Fragen nur relativ vage, und so wird man auf der Suche nach tieferen Erklärungen auf den naturwissenschaftlichen Zugang, d.h. auf die Suche nach dem neuronalen Korrelat des Bewusstseins geführt.

Dabei geht es zunächst um das Problem, in welchen Teilen des Gehirns unser Bewusstsein vorrangig lokalisiert ist und wie es sich aus der Aktivität von vielen verschiedenen Neuronen als ein qualifizierter und stetiger Gesamtzustand herausbildet. Hierbei muss man klar feststellen, dass Sartres Bewusstseinsbegriff ein anderer ist als der von mir im Kapitel über Bewusstes und Unbewusstes verwendete. Für mich gehören Ich und Bewusstsein zusammen. Sie sind nicht identisch, liegen aber konzeptionell sehr nah beieinander, mit so viel Überlapp, dass man in vielerlei Hinsicht von einem Ich-Bewusstsein sprechen kann. Ich habe ja bereits früher anlässlich der Diskussion von Kants 'Transzendalbewusstsein' eingefordert, dass philosophische Ansätze auf künstliche Trennungen unseres Ich-Seins besser verzichten sollte. Sartre sagt, das Bewusstsein sei kein Ding, keine Substanz. Andernfalls könne es kein Bewusstsein von etwas sein. Ich hingegen meine, das Bewusstsein ist in erster Linie in der Hirnmasse verankert und biochemisch gesteuert. Als Bewusstsein ist es FÜR-MICH etwas subjektiv Empfundenes, das objektiv wird und eine materielle Macht erst durch sein Handeln, Bearbeiten der Umwelt und die Gesellschaft vieler anderer Bewusstseine.

An anderer Stelle wurde erläutert, wie sich die Fähigkeit des Gehirns, die Realität zu reflektieren und gezielt zu verändern, aus der rein materiellen Struktur seiner Proteine ergibt. Daraus folgt, dass man das Bewusstsein nicht idealistisch zu etwas ganz Anderem hypostasieren muss, um seinen Umgang mit der Welt zu verstehen. Ich bevorzuge für das Bewusstsein das Bild eines Wurmfortsatzes, der die Oberfläche der Welt, mit der er verbunden ist und bleibt, eigenverantwortlich zuerst beäugen und dann auch materialiter modifizieren kann. Die Existenzphilosophen betrachten hingegen die Natur des Bewusstseins als von der der Materie gänzlich verschieden, als metaphysikalisch, und diesen idealistischen Irrtum teilen sie mit einem Großteil der griechischen und auch der abendländischen Philosophie.

Die radikalste künstliche Trennung, die Sartre vornimmt, besteht darin, zu behaupten, das Ego erscheine dem Bewusstsein als jenseitiges An-sich, als Existenz der menschlichen Welt, nicht des Bewusstseins. "Ich ist ein anderer." Was unserem Sein die persönliche Existenz verleihe, sei nicht der Besitz eines besonderen Ich, sondern das Faktum der Selbstgegenwärtigkeit. Selbstgegenwärtigkeit okay, dem stimme ich zu. Darüberhinaus ist aber doch das Bewusstsein unseres eigenen Selbst ein wesentliches Element des speziellen Ich, das wir sind. Kurz gesagt: das Bewusstsein gehört nach meiner Meinung zur Ich-Struktur dazu und sollte nicht künstlich von ihm getrennt werden.

Wenn ich in mich hineinsehe, beobachte ich in meinem Selbst eine große Schnittmenge zwischen den Bereichen des Ich und des Bewusstseins. Sartre hingegen unterscheidet das Bewusstsein als reine, unpersönliche Spontaneität vom Ich, das zum An-sich Sein des Menschen gehöre und von seinen Seelenzuständen, Erbanlagen und seiner sozialen Entwicklungsgeschichte determiniert werde. Das Bewusstsein trete auf, um dieses Ich zu nichten, und durch diese Nichtung sei der Mensch frei; sie löse den Menschen von sich selbst und zwinge ihn, sich bewusst zu definieren, beziehungsweise, wie Sartre sagt, zu entwerfen.

Demgegenüber existieren für mich die Ich-Bewusstseine einfach als Folge des Überlebenmüssens in der materiellen Welt, d.h. sie sind eine biologische Antwort auf eine biologische Herausforderung. Das schließt keineswegs aus, den Menschen als nichtende Überschreitung des Gegebenen zu definieren, der ununterbrochen dabei ist, sich selbst und seine Realität zu hinterfragen und nach eigenem Willen in Freiheit zu modifizieren.

Allerdings gehört ein Teil unseres Bewusstseins immer dem gesellschaftli-chen Kollektiv bzw seinen Unterkollektiven an. Das Kollektiv der Familie, der sozialen Gruppe und der Gesellschaft oder ihrer Eliten samt einer gehörigen Portion Zufall legen fest, in welcher Weise wir Einzelnen und unsere Kultur sich entwickeln. Eine produktive Nichtung des Ich kommt nur zustande, wenn es zu Kritik und Selbstkritik willens und fähig ist (und ich meine hier nicht in einem von oben verordneten Sinne). Hinsichtlich dieser Option unterscheiden sich die Individuen beträchtlich. Jemand, der sich im Mainstream wohl und zuhause fühlt, braucht sich außer in Zeiten des Untergangs i.a. nicht großartig neu zu erfinden. Will sagen: Mitläufernaturen sind in diesem Sinne niemals frei, und auch all die Gecken nicht, die andauernd irgendwelchen Moden hinterherrennen. Das Einzige, was ein Mitläufer benötigt, ist eine gewisse, aber nicht zu große, Abgrenzung seines eigenen Ich-Bewusstseins gegenüber den Bewusstseinen der Anderen.

Der Mitläufer und der Opportunist haben sich anscheinend frei für ein Leben entschieden, für das gar kein großer Entwurf erforderlich ist, allein schon deshalb, weil es mehr als genügend Vorbilder gibt, denen sie nacheifern können. Da die Mehrheit immer aus Mitläufern besteht und ohnehin jeder von uns im täglichen Leben beinahe ununterbrochen mitläuferische Kompromisse eingeht, betrifft dies einen so großen und wichtigen Teil unseres Daseins, dass man ihn nicht als bloßes An-sich-Sein am Rand, sondern recht eigentlich im Zentrum unserer immer mediokren und letztlich absurden Existenz verorten muss. Indem ich mich anpasse, bin ich und bleibe ich - oder kann mich zumindest über Wasser halten. Um so besser geht es allerdings denen, die die Puppen auch noch für sich tanzen lassen können.

Die von Sartre implizit eingenommene, gegenteilige Position besteht darin zu behaupten, entscheidend sei, was der Mensch jenseits seiner Anpassungen ist; erst diese Aktivitäten machten ihn frei, machten sein Menschsein aus und brächten z.B. einen Dichter dazu, trotz schwerer Krankheit nicht zu resignieren, sondern sich ihr kraft seines Willens mit immer neuen Texten unermüdlich entgegenzustellen.

Abgesehen von dem existentialistischen Voluntarismus, der in diesem Argument besonders deutlich zutage tritt, gibt es viele Menschen, deren psychische Konstitution gar nicht ausreicht, sich einer schweren Krankheit 'entgegenzustellen'. Sartre muss sich fragen lassen, ob er 'den Menschen' hier nicht zu sehr universalisiert, statt die relevanten Unterschiede zu beachten, i.e. die körperlichen und seelischen Verfasstheiten der Individuen, die wiederum stark von genetischen Dispositionen abhängig sind.

Der Existentialismus ist eine Utopie; denn wer nicht frühzeitig untergehen will, darf nur sporadisch auf die Seite der Freiheit sich schlagen. Je mehr ein Ich-Bewusstsein in den Gegensatz zu Anderen oder zu gesellschaftlichen Traditionen gerät, um so mehr wird es sich i.a. aufreiben und schwächer werden, weil es Kraft kostet, die immer neuen Widerstände zu überwinden. Normalerweise ist die angepasste Komponente zu fast jeder Zeit der dominante Anteil unseres Ich-Bewusstseins, und fast immer behält sie die Kontrolle über das Ich. Oft sind wir uns darüber nicht einmal bewusst, und meist sind wir damit sogar zufrieden. Es reicht uns vollkommen, wenn wir unsere Vernunft in den Dienst jenes Überlebens und Wohlseinlassens stellen, um welches auch das Tier vor allem besorgt ist. Die verbreitete Überhöhung der menschlichen Intelligenz im Vergleich zu der des Tieres, die sich durch die gesamte philosophische Literatur zieht, bemäntelt nur dieses so simple wie allgemeine Muster unseres Handelns. Auch für diejenigen, die gesättigt in einer schützenden Hochkultur zuhause sind, geht es vor allem um gutes Überleben in ihrem sozialen Umfeld. Allerdings werden hier von der Instinkt-Vernunft andere Verhaltenstechniken erwartet und angewendet als wenn es um die Ausbeutung der Natur und die Bewältigung ihrer Gefahren geht.

Gemäß Sartres Philosophie ist der Mensch dazu verurteilt, frei zu sein. Das sehe ich anders. Der Mensch ist hauptsächlich angebunden und unfrei. Außerdem entwickelt sich Vieles ohne unser freies Zutun 'einfach so', d.h. aufgrund gesellschaftlicher Umstände oder natürlicher Gegebenheiten. Für einen wirklich freien Menschen gäbe es keine biologische Wesensbestimmung. Er könnte sich sein Wesen, seine Persönlichkeit und alles andere selbst erschaffen, könnte die Grenzen seiner Freiheit immer weiter hinausschieben, bis zur vollständigen geistigen und körperlichen Durchdringung des Universums. Grenzen wären nur dazu da, überwunden zu werden, und erst, wenn ihm die Stun-de schlüge, müsste er ins Dunkel des (individuellen und sozialen) Nichts zurücktreten.

Allerdings ist Sartre auch der Philosoph, der sagt, dass die menschliche Freiheit nicht in einer impotenten Welt existiert, sondern nur zusammen mit einer konkreten historischen Situation zu denken ist. Sie ist keine universelle, reine Freiheit im oben beschriebenen Sinn, sondern lebt gerade durch ihre Bindung an soziale Gegebenheiten.

Hiermit räumt er ein, dass die realen Möglichkeiten der Freiheit gegen die Natur und die historisch gewachsene Gesellschaft gering sind. Vielleicht liegt die tiefere Wahrheit von Sartres Freiheitsbegriff in der zumeist erfolglosen Auflehnung gegen das Bestehende, von der jedoch, wie oben bemerkt, nicht jeder von uns in gleicher Weise erfasst wird.

Die Behauptung, der Mensch habe zu jedem Zeitpunkt mehrere reale Alternativen, ist auch insofern Utopie, als sie nur innerhalb eines gewissen, mehr oder weniger breiten Potentialrahmens zutrifft, welcher durch die von Gesellschaft und Natur auferlegten Zwänge bestimmt wird. Seine Situation unterscheidet sich durchaus in ihrer Komplexität, nicht aber prinzipiell vom Tier. Das Tier, das etwa ein anderes jagt, tut dies instinktmäßig, und doch auch bewusst und unter Zuhilfenahme einer 'Vernunft', die seine Reaktionen auf die Fluchtversuche seiner Beute steuert. Es hat dann zu jedem Zeitpunkt mehrere Möglichkeiten zu reagieren, den linken Weg zu wählen oder den rechten - oder aus Einsicht in die etwaige Aussichtslosigkeit des Unterfangens einfach stehen zu bleiben. Umgekehrt stößt es bei erfolgreichem Jagdverlauf eine Nichtung des Gegebenen (vulgo Tötung seines Opfers) an, und wird sich im Rahmen seines rudimentären tierischen Ich-Bewusstseins darüber auch durchaus bewusst sein.

Man könnte einwenden, diese Nichtung führe zu nichts außer einem vollen Bauch und gehe ansonsten auf Kosten eines anderen Lebens. Bei der menschlichen Freiheit hingegen komme es darauf an, worauf sie gerichtet sei. Kunst, Utopie - es müsse eine transzendente Komponente existieren bei allem, wohin ich mich frei entwerfe. Nur IRGENDetwas tun zu können, sei keine Freiheit.

Dann aber stellt sich automatisch die Frage, was Frei-Sein überhaupt bedeutet, außer einer abstrakten Möglichkeit, die vielleicht gar keine reale Grundlage hat. Wo sind denn die historischen, die neurologischen, die ontologischen Bedingungen der Freiheit? Bildet der Mensch sich seine Freiheit womöglich nur ein? Ist sein Handeln in Wahrheit nicht komplett determiniert?

De facto entwickelt sich unser Leben, unsere persönliche Historie doch so: wir rutschen in etwas hinein, oder sind von Geburt aus schon drin, geraten in im Großen vorfestgelegte, doch im Detail zufällige Situationen und reagieren entsprechend unserem Temperament und teilweise auch unter Anwendung der Vernunft. Manchmal stellt die Situation auch nur einen eher irrelevanten, statischen Welthintergrund für unsere Befindlichkeiten dar. In diesem Fall entschließen wir uns spontan zu etwas, wozu wir Lust haben - oder es kommen Pflichtgefühle dazwischen, denen wir nachgeben oder auch nicht. Wie wir denken und was wir letztendlich tun, darüber entscheidet auch unser Charakter. Dieser reiht sich ein in die Liste derjenigen Faktoren, die die Form unsere Freiheit bestimmen:

-innere Bedingungen wie (i) Charakter und Naturell eines Menschen und (ii) seine Instinkte und unbewussten Impulse

-äußere Umstände (i) physikalischer und (ii) sozialer Natur

Nota bene, handelt es sich hier nicht durchweg um Beschränkungen unserer Freiheit, weil sie den freien Willen, wie er in der Welt ist, in gewisser Weise erst definieren. Siehe hierzu das Kapitel über die menschliche Freiheit.

Freies Handeln als Ergebnis lang andauernder Reflexionsprozesse - das gibt es natürlich auch. Man könnte daher meinen, die Freiheit, sich dann so oder so zu entscheiden, sei alles andere als spontan. In Wahrheit setzt jedoch die endgültige Durchführung kurz vor dem Handlungsereignis ein erneutes, spontanes 'Ich will' voraus, bei dem unser Unbewusstes ein entscheidendes Wörtchen mitzureden hat.

Es besteht eine offenkundige Verbindung zwischen dieser Diskussion und den Einsichten, die wir an anderer Stelle aus der Erkenntnistheorie gewonnen haben. Dort war von Impulsen die Rede, die aus dem Unterbewusstsein vorschießen, das Korsett der strengen Analysis sprengen und unser Denken zu neuen Ideen führen können. Genau solche Impulse sind auch für die zuweilen erratische Wahl des Handelns verantwortlich, die wir auf der Grundlage unserer Freiheit treffen, weil sie es sind, die uns dazu bewegen, uns so oder so zu entscheiden, zuweilen auch entgegen Abwägung und jede Vernunft. Ein Korollar aus dieser Bemerkung: jede Erkenntnis ist frei, sonst wäre sie keine. Sie macht von demselben Zusammenspiel von Bewusstem und Unbewusstem Gebrauch wie die Freiheit des Handelns. Allerdings gibt es Grenzfälle; wenn wir uns etwa durch gute Argumente von Anderen gezwungen sehen, etwas als Wahrheit anzuerkennen, was wir zuvor partout nicht glauben mochten.

Ein wesentliches Element dieser Freiheit ist also die Spontaneität der Wahl. Aber ist das wirklich schon Freiheit? Sind nicht spontane oder erratische Entscheidungen zumindest statistisch vorhersehbar, und können sie überhaupt eine Bedeutung im Hinblick auf die Freiheit haben? Mehr noch: was kann der Begriff der Freiheit uns Menschen bedeuten, außer dass wir dann und wann unseren Willen bekommen, der zu einem Gutteil von unserem Egoismus und von dunklen Impulsen des Unterbewusstseins gesteuert wird. Ganz abgesehen davon, dass wir nicht selten am Ende bereuen, was wir zuvor in inbrünstiger Freiheitssucht erstrebt bzw uns eingehandelt haben.

Sartre behauptet, wir verlören durch die Verwendung der Freiheitsfunktion unsere Identität. Weil wir uns dadurch neu erfänden, zu neuen Ufern aufbrächen, konstruierten wir ein neues Selbst, das sich auf den Widerstand gegen das Gegebene gründe. Dies ist die bereits früher besprochene Negativität der Freiheit.

Im Gegensatz dazu ist der Horizont des soeben beschriebenen Freiheitsbegriffes viel enger. Indem er es für sich instrumentalisiert und meist bloß minimal zu verändern trachtet, stellt er das Gegebene nur selten grundlegend in Frage.

Freiheit bei Sartre ist nicht Freiheit von der äußeren Situation, sondern Freiheit ist die (u.U. infinitesimale) Bewegung über die Grenze dieser Situation. Diese Grenze wird durch die sozialen und natürlichen Rahmenbedingungen festgelegt, und wenn man der naturgesetzlichen Dynamik ihren Lauf ließe, würde sie nie überschritten. Eine Steppe voller Gräser und Sträucher bleibt ohne den Menschen wie sie ist; allenfalls wird sie sich über viele Jahre dank eines veränderten Klimas in eine Wüste oder einen Regenwald verwandeln. Objektiv gibt es hier keine Freiheit, keine Zwänge. Alles fließt so, wie es den physikalischen Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten entspricht.

Freiheit ist wirksam erst mit dem Auftritt des Menschen auf dieser Bühne, wenn er sich in bewusster Weise für eine Umgestaltung des Geländes entscheidet, zu Weide oder Ackerland, zu einem Gewerbegebiet oder zu einem Naturpark voller Spazierwege. Selbst wenn er beim Anlegen dieser Spazierwege einen Unfall erleidet, und z.B. in einem tiefen Erdloch gefangen und zum Nichtstun verdammt ist, kann er durch Planung sich noch über diese Situation hinaus entwerfen, darin besteht seine Freiheit, egal ob er am Ende überlebt oder scheitert. Das Scheitern ist nicht der Gegensatz zur Freiheit, sondern einfach eine Möglichkeit, die sich aus der Freiheit ergibt. Die Dinge an sich leisten keinen Widerstand, sondern es sind die Entwürfe, also letztendlich das Bewusstsein, durch das die Dinge für uns zu einem Widerstand werden.

So kann man das durchaus sehen. Allerdings sind unsere Bewusstseine selbst für-uns nicht völlig frei, sondern dahingehend gebiast, dass sie ihr gesellschaftliches und materielles Überleben immer im Blick haben. Bevor wir uns frei entscheiden, wägen wir instinktiv und egoistisch (und rational) Vor- und Nachteile ab, und im Grunde bewirkt solcherlei Berechnung eine Fehlfärbung der Freiheit. Demzufolge sind die inneren Grenzen unseres freien Willens teils durch Instinkte, teils durch Vernunft festgelegt, und Freiheit besteht eben darin, die Grenzen auszuloten und gegebenenfalls zu überschreiten oder auch nicht.

Diese Aussage bezieht sich nicht nur auf Fälle, in denen man der Natur etwas abzutrotzen versucht oder sich dann doch frei dagegen entscheidet, sei es, weil man keine Lust dazu hat oder der Aufwand zu hoch erscheint, sondern auch auf soziale Situationen, in denen die Grenzen unserer Freiheit von Anderen gezogen werden. Dabei kann es sich sowohl um scheinbar eherne Regeln und Gesetze handeln als auch um Trugbilder einer Ideologie oder auch nur um den Druck einer vorherrschenden Meinung, mit denen wir leichter gefügig gemacht werden sollen.

Darüberhinaus gibt es historisch wie auch milieubedingt starke Schwankungen in dem, was eine Gemeinschaft frei durchgehen lässt, und umgekehrt auch krasse Unterschiede in dem, was Menschen sich gegenüber Anderen herauszunehmen wagen: für den einen bedeutet es bereits ein no-go, sich mit unbequemen Meinungen auch nur ein bisschen unbeliebt zu machen, der andere kann einiges aushalten und entwirft sein Leben bewusst im Gegensatz zum Mainstream. Ein Dritter findet nichts dabei, Streitigkeiten im Notfall mit Gewalt auszutragen. Wenn die Freiheit auf den Tod hinausläuft, verzichten die meisten allerdings lieber auf sie, außer sie sind in eine Situation geraten, einen Krieg etwa, in der ihnen scheinbar der Heldentod abverlangt wird, oder sie hängen am Tropf einer Ideologie, die ihnen weismacht, dass ihr Ende gleichzeitig ihr größtes Glück bedeutet.

Auf die Tatsache, dass die Menschen sehr verschieden sind, wurde schon mehrfach hingewiesen. Obwohl wir uns alle körperlich und auch in Hinsicht auf die intellektuellen Basics ähneln - andernfalls wäre eine Kommunikation zwischen den Individuen kaum möglich - gibt es enorme Unterschiede bzgl des Denkens, des Charakters, des Sozialverhaltens, der Interessen usw.

Solche Unterschiede bestehen nicht zuletzt zwischen der sogenannten schweigenden Mehrheit auf der einen Seite und den Anführertypen jeglicher Colör, zu denen nicht nur alle Chefs und Opinionleaders, sondern auch berühmte Philosophen wie Sartre, Heidegger, Hegel und Co zu zählen sind, Typen eben, die sich in jedem sozialen Umfeld, jeder historischen Situation nach oben bewegen und an denen beispielsweise anstrengende körperliche Arbeit immer vorbeigehen wird.

Tatsächlich gibt es verschiedene klassische Methoden, andere dazu zu bringen, für einen zu arbeiten. Am einfachsten sind natürlich Gewalt oder Gewaltandrohung, also Versklavung, und in der modernen Gesellschaft die Bezahlung mit Geld. Eine der ältesten und effektivsten Methoden besteht aber auch darin, im weitesten Sinne für die Aufrechterhaltung der Moral zuständig zu sein, d.h. durch schöngeistige Reden, lustige Witze oder ein ansprechendes Musikprogramm für gute Stimmung zu sorgen - mit anderen Worten: ein 'Popstar' zu sein. Für Popstars arbeiten viele Menschen gern und ohne zu murren. Und nicht nur, weil sich im Umfeld von Reich&Berühmt mehr Geld verdienen lässt als in Armenvierteln.

Popstars, zum Beispiel der Philosophie, sehen sich einem eigenen Selbst gegenüber, das ihnen in vielen Situationen fremd vorkommen muss, weil es intern extrem egoistisch ist (um den einmal errungenen Status zu sichern und auszubauen), während es nach außen das glatte Gegenteil signalisiert, eine Uneigennützigkeit nämlich, die darin besteht, der Öffentlichkeit scheinbar permanent dienstbar zur Verfügung zu stehen. Während er den Anschein zu erwecken versucht, vollständig in Willen und Weltbild seiner Bewunderer aufzugehen, ist alles Trachten des Popstars in Wirklichkeit auf das eine Ziel ausgerichtet, formelle oder informelle Macht über die Anderen zu gewinnen, letztlich um die damit verbundenen Privilegien genießen zu können.

In den Köpfen solcher Menschen entsteht dadurch naturgemäß eine Art von Schizophrenie, das Gefühl eines Widerspruches zwischen dem gewöhnlich in der Jugend verinnerlichten universellen Ehrlichkeitsideal und der Tatsache, dass sie der Öffentlichkeit permanent eine Rolle vorspielen. Genau diese Schizophrenie liegt ihrem Einfluss auf die Massen zugrunde. Um diesen aufrecht zu erhalten, muss sich ihr Ich-Bewusstsein streng in zwei Sphären teilen: das ihnen selbst fremd erscheinende Ich, das den Anderen gekonnt etwas vorspielt, und das es beobachtende Bewusstsein. Das Ich übernimmt die Herrschaft über die Masse (etwa die Community der Philosophen), indem es sich ihr durch Beifall heischende kluge Reden scheinbar unterwirft. Dabei wird es vom Bewusstsein beobachtet, welches die Angst des existentiellen Alleinseins niemals vollständig verdrängen kann und sein überangepasstes Ich im Grunde verachtet.

Auch bei dem, was Sartre als 'Liebe' bezeichnet und analysiert, fällt auf, dass es ihm letztlich um in-Szene-setzen und um Manipulation geht. Er behauptet, das vom Bewusstsein entfremdete Ich sei ebenso sehr seine Verbindung zum Anderen wie das Symbol des absoluten Getrenntseins. Der Schlüssel zum eigenen Selbst liege in dem "Versuch, die Freiheit des Anderen in die Hand zu bekommen, indem man sich zum faszinierenden Objekt für den Anderen macht, ihn verführt." Liebe dient Sartre demnach hauptsächlich dazu, "die Definitionsmacht über das eigene Ich zu erlangen, indem man die Freiheit des Anderen in seinen Bann zieht", so dass man - möglichst allein und ausschließlich - für den Anderen die Welt bedeutet.

So habe ich persönlich Liebe nie erlebt, und ich glaube wohl, dass es daran liegt, dass ich kein Verführer bin, d.h. einer, dem es leicht fällt, Andere von seiner politischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Meinung oder von körperlichen oder sonstigen Vorzügen zu überzeugen. Wie wohl den meisten Normalsterblichen ist mir diese Fähigkeit nicht gegeben. Doch für Selbstvermarkter wie Sartre und all die anderen Koryphäen des Weltgeistes ist sie essentielle Voraussetzung ihres Wirkens.

Auch hat die Art von Befreiung, die ein Verführer am Ende erlangt, wenig mit jenem emphatischen Begriff der Freiheit zu tun, den ich in diesem Werk beschreibe, weil sie auf dem Rücken des Verführten stattfindet. In Wahrheit ist es einfach nur die oben beschriebene uralte Sozialtechnik, mit der man erreichen will, sich in der Welt beliebt zu machen, damit die Anderen für einen arbeiten. Der Verführer muss sich verstellen, muss sein eigenes Interesse zunächst zurückstellen und scheinbar zum Diener werden, oder zum bewunderten Führer anerkannt kluger Reden; er muss dem Anderen etwas erzählen, was dieser goutiert - eine Schmeichelei oder eine faszinierend schlüssige Explikation - mit dem verdeckten Ziel, ihn am Ende zu unterjochen. Indem er sklavisch tut, kann er versklaven. Darin besteht einer der Techniken des Hierar-chisierens - auch auf Terrains, die zuvor keine Hierarchie kannten.

Obwohl als Befreiungsprozess angepriesen, ist dies offenbar nicht der Weg zur Freiheit, denn diese verliert sich durch ein solches Verhalten, diffundiert in die Kanäle von Täuschung und Schauspielerei; sondern es ist ganz im Gegenteil eine der effektivsten Methoden, Macht auszuüben, ohne auf Militär- oder Polizeigewalt zurückgreifen zu müssen. Solche Herrschaft verbürgt eine Stabilität, von der viele Tyrannen nur träumen können.

Unter den Gurus und 'Popstars' dieser Provenienz gibt es viele, die die eigene Schizophrenie nicht wahrnehmen und das Volk daher um so bedenkenloser manipulieren. Wobei die Masse der Verführten kein homogenes Gebilde ist. In erster Linie besteht sie zwar aus jener grob geschätzt Hälfte der Menschheit, die immer gern der Mehrheit und einem Anführer folgt; in gewissen, als heroisch empfundenen Situationen schließen sich aber auch Andere dem Begeisterungstaumel an, so dass leicht eine Zweidrittelmehrheit zustande kommen kann.

Das Handeln der realen Menschen ergibt sich natürlich immer als eine Mischung aus verschiedensten Impulsen, und das gilt auch für die Verführer. Sogar die übelsten politischen Demagogen haben Träume und verhalten sich nicht immer als die Machtmaschinen, als die sie die Geschichte im Nachhinein wahrnimmt. Mag also sein, dass ich auch Sartre an dieser Stelle zu einseitig sehe, denn er sagt auch, dass man durch die Liebe nicht mehr überflüssig und verloren ist, sondern gerechtfertigt zu existieren. Gleich darauf schränkt er aber ein, eine Freiheit, die sich im Anderen verliere, zerstöre sich als Freiheit. Im Liebespaar wolle jeder Objekt sein, in dem sich die Freiheit des Anderen entfremdet. Daher gelte: "Wenn der Andere mich liebt, enttäuscht er mich radikal durch seine Liebe."

Solche Bemerkungen hören sich tiefsinnig an. Nach meinen Erfahrungen sind sie aber sekundär, zu abstrakt und abgehoben, als dass sie der Liebe zweier Menschen gerecht werden würden. Es gibt mehrere andere Mechanismen, die eine weitaus wichtigere Rolle spielen. Ich möchte darauf an dieser Stelle aber nicht weiter eingehen, sondern verweise auf die umfangreiche Literatur zum Thema 'Psychologie der Liebe'.

Sartre konstatiert, dass jedes Ich am liebsten an-und-für-sich wäre, das meint, genuine Ursache seines Selbst, so dass alles biologische Verlorensein und alles soziale Außer-sich-sein (alle Entfremdung) aufgehoben wäre. Doch dieser Wunsch muss natürlich Utopie bleiben. Bestenfalls kann man auf eine relative Überwindung der Entfremdung hoffen, auf wessen Kosten auch immer. Das Für-sich kann sich im Verhältnis zu Anderen überwinden, d.h. stabilisieren, entweder (i) im Für-andere-sein, oder (ii) indem es sich in den Dienst einer Sache stellt. Das sind die beiden prinzipiellen Richtungen, in die der Mensch sein Leben entwerfen kann. Je nach Persönlichkeit und individuellen Interessen entscheidet er sich so oder so.

Es wurde bereits erwähnt, dass über fast allen menschlichen Aktivitäten unser Überlebenswille steht. Von dieser Warte aus betrachtet verhalten sich diejenigen besonders egoistisch, die nicht in irgendeiner Form eine Serviceleistung für die Gesellschaft erbringen, sondern stattdessen eine Sache verfolgen, die ein rein privates Steckenpferd zu sein scheint und anderen nichts nutzt. Doch manche Menschen können nicht anders; und zuweilen ergibt sich ein allgemeiner Nutzen für die Menschheit am Ende auf indirektem Weg. Das ist wohl einer der Gründe, warum die Philosophie existieren darf.

Wie Sartre richtig feststellt, ist der Andere in der Lage, mein Verständnis von mir mit einem einzigen Blick, einem einzigen Laut zu verändern - vorausgesetzt, dass ich diesen Blick oder diesen Laut auch wahrnehme. Genauso wie ich den Anderen zu meinem Objekt machen kann, verstehe ich, wenn der Andere mich zu seinem macht.

Doch welche realen Folgerungen ergeben sich aus dieser Alltagserfahrung? Ändern Sie mein Verhalten oder meine Selbstverortung im Sozialgefüge? Ich kann natürlich, wie bei Hunden, versuchen, den Anderen wiederum mit meinem Blick zu unterwerfen, aber das wird dann nicht funktionieren, wenn ich in der sozialen Hierarchie unter ihm stehe. Am wirkungsvollsten und auch am schädlichsten für meine Ich-Konstitution sind hingegen umgekehrt missbilligende Blicke des Machthabers auf mich, beruhend auf jenen asymmetrischen sozialen Strukturen, die das öffentliche Dasein der Menschen dominieren. Eigentlich müssten solche Blicke voller Scham sein über die Anmaßung seiner Herrschaft, doch diese Scham scheinen die Herren nicht zu kennen. Stattdessen nutzen sie jede Möglichkeit zur Zementierung ihrer Macht. Entscheidend ist hier im Übrigen nicht ein einzelner vernichtender oder aufmunternder Blick, sondern die Gesamtheit der involvierten Kommunikationsvorgänge und die Frage, ob der Beherrschte dem Herrschenden schon öfter negativ aufgefallen ist. Sie bestimmen letztlich darüber, wer die Arbeit macht, wer die Putzfrau zu spielen hat und wer in Notzeiten als Erster vom Wagen gestoßen wird.