s7vor.unx Fruehherbst 1976 Fruehherbst. Trotz Sonnenschein liefen die Leute draussen schon wieder in Jacken herum. Es haette ein schoener 'Samstag-Nachmittag-zu-Hause' werden koennen. Fuer Richard wurde es allerdings kein schoener Nachmittag, und das lag teils an ihm, teils an den Anderen. Es war schon nach 2, als er zum Essen in die Kueche ging. Karsten und Ali sassen am Tisch und loeffelten eine Fertigsuppe. "Gut dass du kommst", sagte Ali entschlossen, waehrend sich Richard Besteck und Geschirr zusammensuchte. "Wir haben uns eben unterhalten und festgestellt, dass wir Beide zum 1.10. ausziehen wollen." Er wusste zuerst nicht, wie er reagieren sollte und tat so, als suche er etwas im Haengeschrank. Die alte Weisheit, dass man Reisende nicht aufhalten soll, kam ihm in den Sinn und mischte sich mit dem fremden Gefuehl schutzlosen Verlassenseins. "Der 1.10., das ist doch schon in zwei Wochen!" platzte er ploetzlich heraus. "Wolltest du dir nicht erst nochmal ueberlegen, ob du ueberhaupt ausziehst?" "Stimmt", erwiderte Ali kleinlaut. "Das habe ich auch getan, aber vorgestern hat mich die eine Frau aus Berlin angerufen, weisst du, die neulich hier war, jemand ist ueberraschend aus ihrer WG ausgezogen, und sie hat mir vorgeschlagen, dass ich dort einziehen kann." "Wieso kann die allein entscheiden, wer in ihre WG zieht?" "Die Anderen kennen mich auch, ich war ja schon zweimal da, sie haben nichts dagegen." "Wie schoen fuer dich. Aber was ist mit uns? Was sollen wir tun, wenn du als Hauptmieter weg bist?, die koennen uns viel leichter rausschmeissen jetzt. Was sollen wir ihnen erzaehlen, wenn der offizielle Verhandlungsfuehrer ploetzlich verschwunden ist?" "So schlimm wird es garantiert nicht kommen", warf Ali dazwischen, "ob mit oder ohne Vertrag, ihr wohnt hier, daran kommt die SAGA nicht vorbei und ihr koennt theoretisch sogar den Kampf weiterfuehren, wieso auch nicht, obwohl ..." "Ganz zu schweigen von dem Gesichtsverlust", wuetete Richard weiter. "Wir haben ihnen immer vorgegaukelt, wir stuenden wie eine Betonmauer gemeinsam gegen die Kuendigung, nun wird sich schnell herausstellen, dass unser ganzer toller Zusammenhang nur Fassade ist, ein Potemkinsches Dorf, woran du uebrigens fleissig mit gestrickt hast. Wer bleibt denn jetzt noch uebrig?, ich sehe nur mich und Werner, ihr Anderen werdet naechsten oder spaetestens uebernaechsten Monat die Flatter machen. Die lachen uns doch aus, wenn wir drohen, zu zweit das Haus zu besetzen." "Es tut mir leid, ich kann wegen euch nicht meine ganzen Plaene aufgeben. Berlin - das ist fuer mich nun mal eine ... eine Versuchung, Berlin ist etwas Besonderes, ist das Leben. Da ist viel mehr los als in Hamburg, die Kneipem sind hipper, die Sperrstunden spaeter und die Leute cooler. Ich habe mich viel zu lange in Hamburg herumgeoedet, irgendetwas muss passieren, mir brennt die Zeit unter den Naegeln, wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich nie den Absprung schaffen. Ausserdem will ich die Berliner nicht hinhalten, sie koennen mir nicht monatelang das Zimmer reservieren. Ich denke, ihr werdet auch ohne mich klarkommen. Ihr habt immer noch mehrere Optionen offen, ja wirklich. Naemlich erstens, ihr sucht euch neue Leute und besetzt mit ihnen die Klopstockterasse." Und als Richard gallig auflachte: "Doch, ich sehe das als eine reale Moeglichkeit. - Oder zweitens, ihr nehmt das Angebot der SAGA an und zieht ins Schanzenviertel oder sonstwo hin. Sie werden Euch nicht haengenlassen, ob ihr offizielle Vertraege habt oder nicht, danach hat die Stadt doch nie gefragt, und wenn ihr nur noch zu zweit seid, wird es um so leichter, euch Ersatz zu besorgen. Sieh es doch positiv, sei froh, dass du auf einfache Weise an eine neue Wohnung kommst." "Ha", schnaubte Richard. Wer wollte schon zu zweit in einer Mini-wohnung in irgendeiner Mietskaserne hausen? Er mochte Ali nicht an seine frueheren Reden erinnern, und wie er die Auseinandersetzung mit der Stadt hochstilisiert hatte, was sollte das bringen. Und er erkannte, dass der Andere seine Berlin-Plaene benutzte, um es ihm heimzuzahlen. Sie waren keine Freunde mehr, und wenn sie auch nicht geradezu Feinde waren, so mischte sich doch ein Gutteil Abneigung in ihre Konversation. Er wandte sich Karsten zu. Der hatte, durch Richards Donnerwetter unangenehm beruehrt, seinen Suppenteller beiseite geschoben hatte und fuerchtete halb, es werde nun auch auf ihn niedergehen. Er hasste Vorwuerfe und Auseinandersetzungen. Wenn Frauen so anfingen (was nicht selten vorkam), ergriff er gewoehnlich als naechstes die Flucht. Karsten war eine maennliche Schoenheit. Zumindest in den Augen der meisten Frauen muss er schoen gewesen sein, (sonst haetten nicht so viele so oft bei ihm angerufen), sein Geist kann es nicht gewesen sein, der sie in den Bann schlug. Er verband diese Schoenheit mit dem Unverbindlich-Freundlichen des Hanseaten, der unaufdringlich versucht, jedermanns Darling zu sein, wodurch es Richard noch schwerer fiel, mit ihm umzugehen, auch wenn er sich keineswegs die Zeit nahm, ueber Karsten und die Natur seiner Schoenheit nachzudenken. Er starrte ihn nur distanziert an, er hatte von ihm sowieso nichts anderes erwartet, und fragte dann katzenfreundlich: "Und du willst also auch ausziehen?" Der Andere blieb auf der Hut. "Richard, du weisst, naechste Woche sind meine letzten Pruefungen", wisperte er abwehrend. "Mein Studium ist fast zu Ende, es macht keinen Sinn, das Zimmer zu behalten. Ich habe schon einen Job gefunden, auf einem Containerschiff, und werde meine Klamotten zur Ilka nach Barmbek bringen." So einfach war das, dachte Richard. Man beendete sein Studium, und dann ab durch die Mitte. Und dabei kippte seine neutrale Miene unvermittelt ins Veraechtliche ab. Er fuehlte sich nicht in der Stimmung, Karsten seinen Abschluss, seine Schoenheit, seine fehlende Bindung an die WG oder sonst irgendwas zugutezuhalten, packte Brot und Aufstrich auf einen Teller und fluechtete, ohne die Anderen noch eines Blickes zu wuerdigen, die schwarz-weissen Kacheln waren ihm schon immer zu kalt erschienen, wie ein riesiger gebrochener Spiegel, in dem die deprimierende Existenz der Menschen sich abbildet. Er ass auf dem Bett und machte es sich anschliessend mit einem Buch gemuetlich, nach diesen niederschmetternden Neuigkeiten musste er erst mal abschalten. Um 3 klopfte es an der Tuer. Vera. Wie immer wunderte sie sich ueber die Groesse seines Schreibtisches und die sonstige Kargheit der Einrichtung, Schrank, Bett und Stuhl und ein breites Regal, in dem sich Buecher unterschiedlichster Kategorien in chaotischem Gemenge stapelten, viel Staub, keinerlei Zierrat, kein sehr gemuetliches Wohnen. "Ach, du bist hier", sagte sie zufrieden. "Ich moechte dir deine Krimis wiedergeben, echt spannend, besonders der eine ist richtig gruselig, ich habe mich hinterher so gefuerchtet, dass ich nachts das Licht anlassen musste." "Ja, sie sind nicht schlecht", erwiderte er einsilbig. "Leg sie einfach da hinten auf den Schreibtisch." "Du weisst ja, sonst steh ich mehr auf Horrorfilme. Geschriebenes kann ich mir normalerweise nicht so gut vorstellen, aber in dem Fall ..." "Jaja, schon gut", murmelte er. "Also Richard, du, ich wollte nur sagen, ich ziehe heute aus - aber das weisst du wahrscheinlich, ich hatte's dir neulich gesagt ... Also, ich wollte dich fragen, ob du mir beim Umzug helfen koenntest", und als er schwieg, fuhr sie schuechtern fort: "Karsten hat mir sein Auto geliehen, zusammengepackt habe ich schon, es sind nur wenige Sachen, und ich koennte sie selbst ins Auto bringen, aber ich hab keinen Fuehrerschein, weisst du, ich brauche jemanden, der mich faehrt." Doch er wollte ihr nicht helfen. Dass sie gerade heute ausziehen musste ... Normalerweise haette er nicht nein gesagt, er hatte nichts gegen Vera, aber dass sich jetzt alle auf einmal aus dem Staub machten, ging ihm so auf die Hutschnur, dass er innerlich fast explodierte. "Lass dir doch von Karsten helfen?" sagte er roh. Das war nicht die feine englische Art, aber schliesslich hatte Karsten auch den Spass mit ihr gehabt. "Er hat heute nachmittag keine Zeit", sagte sie, schon ziemlich entmutigt. "Ich bin froh, dass er mir den Wagen ueberhaupt geliehen hat. Du weisst, wie eigen er damit ist." "Jaso, ich habe auch keine Zeit", sagte er rasch und sie erkannte an den Obertoenen seiner Stimme, in denen etwas ebenso schrilles wie entschlossenes mitschwang, dass er sich bestimmt nicht umstimmen lassen wuerde, warf ihm noch einen seltsam ratlosen und vorwurfsvollen Blick zu, den er jedoch ignorierte, und entfernte sich dann. Und es war ihm ganz egal, was sie nun machen wuerde, und dass sie hilflos bei dem rotglaenzenden Kombi stand und hin und her ueberlegte und nicht wusste, was sie tun sollte, um dann kopflos wieder ins Haus zu rennen, liess ihn zwar nicht voellig kalt, aber wie leicht faellt es einem, unausgesprochene Vorwuerfe zu ignorieren, der sich im Recht fuehlt. Er entschloss sich spontan, einen Spaziergang zu machen. In so einer Stimmung haette sich wohl jeder von der schlechtesten Seite gezeigt, es aenderte ueberhaupt nichts, dass er Vera und ihren Hintern immer recht anregend gefunden hatte, und nett, natuerlich, nett war sie auch, und mehr als einmal ueberlegt, ob er nicht doch bei ihr landen konnte. Draussen weigerte er sich, an sie zu denken, und ob Werner oder Ali sie fahren wuerden, und dass er ihre Sympathie fuer immer verlieren wuerde, und Freundschaft schon gar, (falls so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen bestand), er dachte rein gar nichts in dieser Hinsicht, er hatte, wie er meinte - oder glaubte, berechtigterweise meinen zu duerfen - genuegend Anderes zu bedenken, zum Beispiel musste er sich darum kuemmern, was aus der Kuendigung wurde. Die Vorstellung, moeglicherweise bald als einziger ohne Wohnung dazustehen, machte ihm Angst. Wer konnte wissen, was sich Werner noch ueberlegte. Vielleicht hatte der auch schon was anderes in Aussicht. "Was solls", dachte er dann, "morgen fahr ich erstmal mit Martin nach Muenchen", das war schon laenger abgemacht, Dieter besuchen, der sich da unten gut eingelebt hatte - sagte er zumindest - eine gute Gelegenheit zum Abschalten also und einen drauf machen. Und heute abend noch der Besuch bei Birgitta. Obwohl er mit Ali auf Kriegsfuss stand, konnte er sich die Sache ziemlich lustig vorstellen, Ali wuerde den Verein mit seinen gewohnten Frontalangriffen garantiert aufmischen; aber die hatten auch ihre Schutzmechanismen, und er war gespannt, wie das ausging. ------ Als er zurueckkam, waren alle verschwunden, auch Vera, und er blieb bis zum Abend allein. Er war hier oft allein gewesen, sie waren alle ziemlich mobil und oft unterwegs. Das jetzige Alleinsein schien ihm jedoch von anderer Qualitaet, wie ein boeses Vorzeichen, was die Zukunft ihrer Gemeinschaft anging - obwohl man genaugenommen keine Vorzeichen brauchte, um sich vorzustellen, wie es in ein paar Monaten hier aussehen wuerde. Er ging in sein Zimmer, knipste das Oberlicht aus und liess nur die kleine Lampe am Bett brennen. Dann holte er eine Zigarre aus seinem geheimen Vorrat und legte die Beine auf den Schreibtisch. Er blaetterte in der 'Szene'. Die Berliner und Frankfurter hatten ganz andere Zeitschriften, aber in Hamburg war man auf dieses Kommerzblatt angewiesen, Ali hatte schon recht, wenn er die Stadt provinziell fand. Schoenglaenzendes Papier und Mainstreampop, und hinten die Kontaktanzeigen, kondensierte Lyrik hunderter einsamer Herzen, das koennte man sich auch mal ueberlegen, dachte er und las ein paar davon, aber nein, das war ihm zu peinlich; ausserdem waren die Frauen wahrscheinlich alle potthaesslich. Davor die Wohnungsannoncen. Es gab offenbar mehr als genug Leute, die ein WG-Zimmer suchten. Aber wer von denen wuerde in ein Haus ziehen, das kurz vor der Raeumung stand? Im Abaton fanden 'Fellini-Tage' statt, gestern 'Stadt der Frauen', heute 'Roma', all diese Filme, die die Wirklichkeit unter ein kuenstliches Licht zerrten, um sie dort zu verspotten, nichts als simple skurrile Phantasien, irreale Erfindungen mit einem gewissen Aha-Effekt, aehnlich beschraenkt wie vieles, was von den surrealistischen Malern kam, Magritte, Dali usw. - Er bevorzugte realistische Kunst, ohne diese seltsamen, jeder Erfahrung zuwiderlaufenden Spruenge. Auf unlogischen Voraussetzungen, fand er, konnte keine gute Kunst gedeihen. Okay, frueher hatte ihm das nichts ausgemacht, er hatte als Schueler viel Science Fiction gelesen, was einer der Gruende gewesen war, warum er ein technisches Studium angefangen hatte, doch ungefaehr seit dem Abi sagten ihm solche Stories nicht mehr viel, tote Wortketten ohne wirkliche Bedeutung. Natuerlich war realistische Literatur nicht per se gut. Da gab es genug Gegenbeispiele, oede Alltagsgeschichten, die auch nicht dadurch interessanter wurden, dass sie von besonders reichen oder kaputten Typen handelten. Oder Proust und Musil, endloses dekadentes Geschwafel ueber innere Befindlichkeiten. - Oder die zynische und distanzierte Schreibe vieler moderner Autoren, die beim Leser gut ankam, weil sie ihn zum Schmunzeln brachte und scheinbar ueber die Wirklichkeit erhob ... Es war echt schwierig, was Gutes zum Lesen zu finden. Das ganze Buchregal voll, aber das Meiste konnte man nicht zweimal in die Hand nehmen. Krimis und Horrorstories waren auch keine Alternative. Er drehte einen Bleistift in der Hand und liess das gestrige Seminar ueber 'Prozesssteuerung' im Geiste Revue passieren. Alle hatten um einen grossen Tisch gesessen und sich gross angeglotzt, dieweil der Vortrag des Dozenten immer unertraeglich konfuser wurde, und dabei hatten sich ihm ihre Physiognomien eingepraegt, dass er meinte, aus diesen Gesichtern liess sich nachgerade eine Typologie von Maschinenbaustudenten erstellen. Ploetzlich schrillte die Tuerglocke. Widerwillig stand er auf und lief durch den schlecht beleuchteten Flur nach unten, "hier muss unbedingt ne neue Gluehbirne rein", dachte er, als er an den Schemel stiess, den irgendein Trottel mitten im Gang stehenlassen hatte. Vor der Haustuer erwartete ihn ein kleiner staemmiger Mann, Ende 40, mit seiner vielleicht 5jaehrigen Tochter, der die Wohung in Augenschein nehmen wollte. Die Frau habe wegen Krankheit leider nicht mitgekonnt. Richtig, er sei Kaufinteressent, und man habe ihm mitgeteilt, das Objekt koenne jederzeit besichtigt werden. Er wisse schon, jetzt wohnten noch Studenten hier, aber die wuerden bald ausziehen. "Wie weit will die SAGA ihre Provokationen noch treiben", fragte sich Richard entmutigt. Er konnte dem Mann die Tuer vor der Nase zuschlagen, der wuerde gross gucken, und wie erst die Kleine?, aber was wuerde das bringen? Man beaeugte sich neugierig, und das Bedeutsamste, was Richard erfuhr, war, dass ihn der Andere fuer einen Soziologiestudenten hielt (Wohngemeinschaften waren bekanntlich voll von Soziologiestudenten, ganze Haufen nutzloser Soziologiestudenten, die spaeter als Arbeitslose dem Staat auf der Tasche lagen) und einen Haarschneideladen hinter dem Bahnhof Altona besass. Sehr geraeumige Zimmer, staunte der Figaro, waehrend er durchs Haus gelotst wurde. Sehr zugig, weil der Wind von der Elbe hochweht, im Winter schlecht zu heizen, entgegnete Richard. Muss eine Zentralheizung einbauen lassen, sinnierte der Andere und ueberschlug im Kopf schnell die Kosten. Dann lamentierte er ueber die hohen Hamburger Immobilienpreise, man merkte, dieser Wohlgeschorene in seinem Kunstfellmantel war fuer die Stadt nicht der ideale Kaeufer, offenkundig wusste er nicht, wie er den Kaufpreis aufbringen sollte. Ob in der Umgebung viele Tuerken wohnten, wollte er wissen, und um die Frage zu entschaerfen: er sei ja selber Fluechtling, aus Posen. Darum spricht er so komisch, dachte Richard, dann fiel ihm absichtsvoll ein: "Ja Tuerken, massenweise, und einmal pro Woche treffen sich alle vorn in der Eckkneipe, da geht es hoch her, und im Sommer ist das so eine Art Volksfest, das geht bis zur Elbe runter, sie lagern auf den Uferwiesen und grillen und spielen tuerkische Tonkunst, und ihre Kinder laufen bei uns im Garten rum." "Man wird wohl neue Fenster einsetzen muessen", sagte der Andere, indem er mit den Fingern ueber die Einfassung fuhr, und Richard war dann doch froh, nicht nur wegen der dummdreisten Spiessigkeit, als er sich anschliessend verabschiedete, "... schon irgendwie deprimierend", dachte er, "dass hier die Nachfolger durch die Wohnung rennen". Die Tochter blickte ihn noch einmal mit grossen Augen fragend an, dann waren sie weg. Etwas spaeter hoerte er unten im Flur jemand heimkommen, das musste Werner sein. Es war Werner; Richard wusste nicht wie, doch er konnte meist an den Geraeuschen erkennen, wer von der WG nach Hause kam. Dann standen sie sich im Daemmerlicht gegenueber, und da er lange Einleitungen hasste, fing er gleich an, ihm das Problem auseinanderzusetzen. "In zwei Wochen wird die halbe WG weg sein, weisst du das? Das heisst genaugenommen nicht die Halbe, sondern zwei Drittel! - Es muss unbedingt was passieren, sonst liegen wir beide demnaechst auf der Strasse, ohne der Stadt auch nur ein Haerchen gekruemmt zu haben." Obwohl er Werners Augen nicht sehen konnte, wusste er ploetzlich, dass ihm zu trauen war, weil ihm erstens die Wendigkeit und Umtriebigkeit von Ali und Karsten fehlten (und also die Alternativen) und zweitens, weil sie auf einer Wellenlaenge lagen, anders als Ali hatte sich Werner nicht von ihm fortentwickelt, wohnen mit Richard machte ihm Spass. "Ich weiss schon", erwiderte er gelassen, "wir muessen mal besprechen, wie es weitergehen soll. Rolf Schmidt hat mich uebrigens gestern angerufen, der hat irgendwie mitgekriegt, dass einige bei uns abspringen wollen, fuer sowas scheint er eine Antenne zu haben, und hat auch gar nicht mehr mit Ali gesprochen, er hat ungefaehr dasselbe gesagt wie du, 'ihr muesst da was machen', hat er gesagt, 'ihr duerft das nicht im Sande verlaufen lassen, schon aus allgemeinpolitischen Gruenden'." "Aber was stellt er sich vor, was meint er denn? Was koennen wir zu zweit schon ausrichten? Wir koennen der Stadt doch keine grosse Kommune vorgaukeln. Meint er womoeglich besetzen? Wie soll denn die Besetzung vonstatten gehen, von der Ali immer getoent hat? Du besetzt das Erdgeschoss und ich den ersten Stock, oder wie?" "Das beste, was wir tun koennen", sagte Werner ruhig, "ist die Wohnung bei der Sternschanze annehmen, die die SAGA fuer uns zurueckhaelt, das ist objektiv das sinnvollste, man muss es ganz klar sagen. - Aber was machen wir, wenn sie dahinterkommen, dass wir nur noch zu zweit sind. Die Sternschanzenwohnung werden sie uns dann nicht geben, die hat 4 oder 5 Zimmer." "Vielleicht kann man Karsten oder Vera ueberreden, dass sie offiziell bei uns gemeldet bleiben, dann haben sie denselben Anspruch wie wir." "Das waere eine Moeglichkeit, die Andere ist, so schnell wie moeglich neue Leute zu finden, um sie der Stadt als Mitbewohner zu praesentieren. Damit wuerden wir mehrere Probleme gleichzeitig loesen. Ich weiss auch mindestens einen, der dafuer infrage kommt: Andreas, dein Bekannter aus Tengern?" "Wie kommst du denn auf den?" fragte Richard gedehnt. "Naja, ich weiss, dass er immer noch ein WG Zimmer sucht, und er erkundigt sich beim Sport regelmaessig, wie es bei uns aussieht. Er macht mir ueberhaupt einen sehr passablen Eindruck." Er fuehlte sich einigermassen ueberrumpelt. "Naja", machte er. Und dann: "Ich habe bestimmt nichts gegen Andreas, er ist sicher ganz nett, ich wuerde mir trotzdem gern etwas genauer ueberlegen, ob ich mit ihm zusammenleben moechte." "Schon klar", sagte Werner grosszuegig. "Aber ich denke, wir muessen die Sache ziemlich schnell entscheiden, um die Behoerde vor vollendete Tatsachen zu stellen. Am besten, Andreas stellt seine Habe gleich bei uns unter; und wir sollten unsere Moebel auch ein bisschen verteilen, dann faellt bei Besichtigungen nicht so auf, dass die Anderen ausgezogen sind." "Apropos Besichtigungen, vorhin war tatsaechlich einer hier, ein Kaufinteressent, den haettest du sehen sollen, das war vielleicht ein Vogel ... - Aber 3 Leute sind auch noch ein bisschen wenig fuer eine WG", fiel ihm ein. Wenn er genauer darueber nachdachte, wollte er mit dem Sohn vom alten Schaefer lieber nicht zusammenwohnen, und er wunderte sich gelinde, warum Werner sich so ins Zeug fuer ihn legte. "Ja, fuer die Sternschanze wuerde uns noch jemand fehlen. Eine Frau waere ideal. Ich seh schon, wird wieder Zeit, Bewerbungsgespraeche zu fuehren", sagte er vergnuegt. Die Tuerglocke schellte. Es war Laura mit einem Typ, den sie noch nicht kannten. "Das ist Dirk", sagte sie. "Wir haben uns beim Sperrmuell kennengelernt, kann man so sagen, oder, Dirk." Dirk laechelte und nickte schuechtern. Er war juenger als sie und fast ebenso huebsch wie Karsten, wenn auch mit weicheren, wie zerlaufenden Zuegen. "Hallo", sagte Richard und zog falsche Schlussfolgerungen. "Kalle kommt auch noch", ergaenzte sie, "das heisst, er muesste eigentlich schon da sein, er bringt den Guenter mit." Als naechstes kam Ali, der sich kurz mit Laura unterhielt, ohne Richard und Werner zu beachten, und dann in sein Zimmer zurueckzog, wo man ihn Moebel schieben und auch sonst rumoren hoerte, wahrscheinlich Umzugsvorbereitungen. Er kam erst wieder heraus, als Guenters laute Stimme durch den Flur hallte. "Na, du Missgeburt", begruesste er ihn ueberschwenglich, "von dir hat man ja lange nichts gehoert." Dass Guenter mit dabei war, liess hoffen. Erstens konnte man mit den Heinis von der OAA leichter fertigwerden, und zweitens war Guenter erst kuerzlich aus der Stresemannstrasse ausgezogen, so gab es mindestens einen, der ihn nicht scheel anguckte, er merkte schon, dass er mit seinen Umzugsplaenen der Aussenseiter geworden war, zu dem sich Richard und Werner nicht mehr normal verhalten konnten. "Ich kann nichts dafuer, bei uns ist das Telefon abgeklemmt." "Na trotzdem. Haettest ja mal vorbeischauen koennen!" "Zuviel Termine! Wir haben reichlich Stress mit der Polizei, so dass wir kaum zum Luftholen kommen. Ich bin jetzt in dem Kommittee, das direkt mit der Stadt verhandelt, ihr werdet es nicht glauben, aber bei mir im Zimmer liegen haufenweise Gerichtsakten herum, mit denen ich mich auseinandersetzen muss. Heute mache ich eine Ausnahme, Laura hat mich aufgespuert und mir von Eurem Date mit der OAA erzaehlt, da konnte ich nicht nein sagen. - Wo ist denn die Kommunardin?" "Die ist schon bei ihren Kommunarden. Haelt es bei uns nicht mehr aus." "Ich muss sagen, diesen Schwenk haette ich nicht von ihr erwartet. Sie ist doch mehr der Typ hoeheres Toechterlein, der die Nase ziemlich weit oben traegt und so weiter." "Irgendwas muss ihr wohl gefehlt haben. Und nachdem es ihr der Schwarze anscheinend nicht geben konnte ... Ausserdem, so ein gewisser Snobismus wird in der OAA auch gepflegt, ich habe einen Artikel gelesen, von Einem, der bei denen ausgestiegen ist, fuer die sind wir Anderen alle unfaehige Normalos, die nichts geschnallt haben." "Den habe ich auch gelesen", mischte Werner sich ein. "Sie haben so eine Weltverbesserungstheorie, aus verschiedenen Psychoansaetzen zusammengemischt, die jetzt ueberall in Mode sind, Wilhelm Reich und so ..." ------- Die OAA Behausung befand sich in einem abseitigen Teil von St Georg, wo Richard noch nie gewesen war, in einer breiten und frueher von Patriziern bewohnten, jetzt aber ziemlich heruntergekommenen Strasse. Ueberall loesten sich Putz und Farbe von den Fassaden, provisorische Elektroleitungen spannten ueber smog-geschaedigten Baumkronen, und die letzten Hamburger Gaslaternen erwachten soeben zischelnd zum Leben. Das Haus hatte mindestens den doppelten Umfang der Klopstockterasse und wies die denkbar groesszuegigsten Raeumlichkeiten auf, wie geschaffen fuer das Zusammenleben einer groesseren Gruppe von 10 bis 15 Leuten. Vom Treppenhaus wurden sie in eine fensterlose mit dunklen Wandteppichen geschmueckte Halle gefuehrt, wo sich die Bewohner zur Begruessung der Gaeste artig gemeinsam aufgestellt hatten. Mittenmang stand Birgitta, grienend wie fuer ein Klassenfoto. "Als haette sie etwas geschenkt bekommen", dachte Richard angewidert. Und vielleicht war das tatsaechlich so. Aber aufgegeben hatte sie auch etwas, das wuerde sie schon noch merken. Ausgerechnet Birgitta! "Die laesst sich nicht beirren, die geht einen klaren Karriereweg", hatte er oft zu Werner gesagt, hier stand sie nun, von einer seltsamen Sekte abgefischt, weltfremd und ahnungslos wie eine Schuelerin auf der Abschlussfeier. Er liess seinen Blick ueber die OAAler schweifen. Die meisten der Maenner waren mittelgross und duenn, wie ausgemergelt, nur einer ragte aus der Menge hervor, er hatte schon die Begruessung uebernommen, die Leute auf ihre Plaetze dirigiert und schien auch sonst das grosse Wort zu fuehren. Die Frauen sind teilweise ganz huebsch, dachte er noch ... da begann es in seinem Hirn ploetzlich zu rucken wie wenn ein Zug auf schadhaften Schienen faehrt; und in einer sonderbaren Koerperreaktion zog sich sein Zwerchfell zusammen, dass er zu ersticken meinte. Denn er blickte direkt in wohlbekannte Augen, an die er sich ganz genau erinnern konnte, es war die Frau vom Buechertisch von damals, drei Semester war das her, die ihn so beeindruckt hatte, dass sie noch immer zuweilen in seinem Kleinhirn spazierenging, und die er seither nie wiedergesehen hatte, er wusste, sie war es, es sei denn sie hatte eine ebenso reizende Zwillingsschwester. Da loeste sich Birgitta aus dem Rudel und kam auf ihn zu. "Also, ihr duerft hier ueberall herumgehen und euch alles anschauen, damit ihr einen Eindruck bekommt, und Fragen stellen, wir werden gern Auskunft geben", sagte sie weich. "Spaeter wird der Willi dann etwas zu unserem Selbstverstaendnis sagen. Die Karin, die das sonst macht, ist heute leider nicht da." Doch wie von selbst, keine 5 Minuten spaeter stand er seiner Traumfrau gegenueber, deren Erscheinung seine Sinne verrueckt und unbewusst das Verhaeltnis zu allen Frauen beeinflusst hatte, denen er seither begegnet war. Ihre Augen waren glaesern wie Bernstein und glaenzten wie Tau. Ihr Haar war honigfarben, mehr noch, es leuchtete, wie wenn Sonne durch ein Glas frischen Honigs faellt, doch war sie weiblicher und weniger maedchenhaft als bei ihrem ersten Zusammentreffen, mit einem energischen Zug um den Mund, und er erkannte, dass sich das Aussehen und besonders der sexuelle Anziehungscharakter einer Frau uebers Jahr voellig veraendern koennen. Und obwohl er sicher war, dass auch sie ihn erkannte, hoerte er doch in dieser Richtung keine Bestaetigung, sie sah ihn an, als waere er einfach irgendein Besucher oder gar Bittsteller, waehrend ihm das Herz bis zum Halse schlug und sein Darm sich kruemmte (solche laestigen Leibschmerzen hatte er oft in kritischen Situationen) und er nicht wusste, was er sagen sollte, ausser "Hallo", was sie mit selbigem "Hallo" wie ein Echo quittierte, und er war kurz davor, sich umzudrehen und davonzumachen, aus reiner Vrzweiflung ueber diesen missglueckten Anfang, aus dem ja doch nichts werden konnte, da endlich laechelte sie erloesend und fragte: "Nun, wie gefaellt es dir bei uns?" "Oh, ganz gut, aber ich habe ja bisher kaum was gesehen und euch noch gar nicht richtig kennengelernt", sagte er zweideutig, und etwas spaeter, nachdem sie sich ueber verschiedene Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, die noch nicht einmal die OAA betrafen (denn wenn sie auch Buechertischen praesidierte, war sie doch nicht der Typ, missionarisch Reklame fuer ihre Gesinnung zu machen) und ihn immerhin ueber ihren Vornamen in Kenntnis setzte, nahm er schnell seinen ganzen Mut zusammen, denn er musste damit rechnen, dass sie bald unterbrochen wurden, und fragte unbeholfen: "Sag mal, Doreen, ist es moeglich, dass wir uns verabreden? Ich wuerde dich gern zum Essen einladen." "Das geht leider nicht", kam es entschieden und ebenso schnell zurueck. "Warum nicht?" insistierte er. "Ich haette Lust, dich irgendwo anders zu treffen, wo wir unter uns sind, und uns rein privat unterhalten koennen." "Ach, unterhalten koennen wir uns auch hier", meinte sie leichthin. "Aber nicht so gut. Hoer zu, seit unserer Begegnung damals an der Uni habe ich mir immer gewuenscht, dich wiederzusehen, weil ... weil ... weil du mir so gut gefallen hast. Koennte es nicht ausnahmsweise doch moeglich sein?" bat er eindringlich, er wusste selbst nicht, woher er die Chuzpe nahm. Der Hinweis auf ihre Bekanntschaft schien sie zu irritieren, denn sie lachte hilflos und sagte: "Wirklich, es tut mir leid, aber es geht nicht", und er verstand, es war unmoeglich, sie hier loszueisen, ganz gleich ob durch aeusseren oder inneren Druck, und sein Mut schwand dahin, "... immer dasselbe", dachte er, "an die Frauen, die man wirklich haben will, ist nicht heranzukommen, entweder sie wollen nicht oder sie haben laengst einen Begleiter, und in diesem Fall steckt eine ganze Organisation dahinter", und Schwermut senkte sich wie eine schwarze Wolke ueber ihn, er war voll Neid auf die wieselnden wuscheligen Wirrkoepfe, mit denen sie hier zusammenwohnte, die sie wahrscheinlich alle schon gehabt hatten, selbst der Beschissenste von den Typen hier, und wusste sich nicht anders Luft zu verschaffen, als das Porzellan ihrer nicht existierenden Beziehung zu zerschlagen. "Wieso bist du ueberhaupt hier gelandet", fragte er provozierend. "Hat es dir beim MSB nicht mehr gefallen?" "Nein", antwortete sie kurz angebunden, wobei sie seinem Blick standhielt und er sich fragte, welche Welterfahrungen sich hinter jener Zurueckhaltung und ueberhaupt hinter dem huebschen Gesichtchen verbargen. Er wuerde es nie erfahren. Er schlenderte durch die allesamt von Vorhaengen verdunkelten und nur von Kerzen erhellten Raeume. Viele Tueren waren verschlossen, aber von irgendwo klang Rockmusik herueber, und als er den Klaengen folgte, entdeckte er in einem der hinteren Raeume Birgitta auf einer Tanzflaeche. Minutenlang folgte er ihrem Auftritt. So geloest und ergeben hatte er sie in der Klopstockterasse niemals erlebt. Dann uebertoente ploetzlich ein scheppernder Gong die Musik. Sofort drehte sie den Verstaerker ab und ohne ein Wort zu verlieren, nahm sie ihn an der Hand, und durch weite Flure schwebten sie in die Halle zurueck und in den angrenzenden Gemeinschaftsraum, wo sich nun alle sammelten. Dort standen Buecher, eine teure Anlage mit riesigen Lautsprechern und vielen Platten und Cassetten, ein großer Schreibtisch und zwei seltsame Sitzkonstruktionen, die entfernt an einen Luegendetektor erinnerten oder einen elektrischen Stuhl, wenn auch Pluesch und Zierart die Strenge milderten. Auf dem frisch lackierten Holzboden waren flauschige Flokatis und Unmengen von flachen Sitzkissen verteilt. Sie kamen zufaellig neben einen der Apparate zu stehen und Guenter, der sich zu ihnen gesellen wollte, verfiel auf die Idee, sich frech hineinzusetzen, wobei seine untersetzte und ziemlich massige Gestalt den Schemel fast zum Umfallen brachte, was ihn jedoch nicht irritierte, im Gegenteil, er wippte in dem staksigen Gestell herum wie ein Kind in seinem Schaukelpferd. "Ist das euer Fernsehsessel?" fragte er unverschaemt, von Birgitta mit Blicken durchbohrt, aber keiner Antwort gewuerdigt. Darauf nahm er eine Tuellmuetze aus dem hinterstehenden Regal, hob sie hoch und liess sie auf seinen Fingerspitzen in der Luft kreisen. "Und dies Muetzchen setzt du beim Fernsehkucken auf, damit dir der Kopf nicht kalt wird", und dabei drueckte er es sich selbst schief auf die Stirn und sah damit so komisch aus, dass Richard grinsen musste. Jetzt wurde es Birgitta entschieden zu bunt, und auch Willi blickte indigniert herueber. "Bitte lass das, Guenter", wies sie ihn zurecht, "du bist hier zu Gast und solltest dich entsprechend benehmen." "Schon gut, reg ich nicht auf", rief er abwehrend und sprang hoch, wobei er beide Haende von sich streckte. "ist sowieso nicht besonders gemuetlich da drin." Dabei griff er in seine Jackentasche und zog eine Zigarette heraus. Bevor er sie anzuenden konnte, zischte sie zornig: "Du sollst in der Wohnung nicht rauchen, kannst du nicht lesen?", und zeigte auf zwei grosse Nonsmoking-Aufkleber an den Waenden. In der OAA war das Rauchen seit dem letzten Sommer-Kongress verboten. Er ueberlegte einen Moment, ob er sich das gefallen lassen musste, dann steckte er den Glimmstengel gehorsam zurueck in die Tasche. Nun begann Willi mit seiner Ansprache. Willi war der grosse, gebraeunte Mittdreissiger, der ihnen gleich am Anfang aufgefallen war, weil die anderen maennlichen OAAler vor ihm zu kuschen schienen. "Die Frauen hat er wahrscheinlich auch alle im Griff", dachte Richard, und schielte zu seiner Traumfrau. Auf seinen Wink setzten sich die OAAler und zoegernd auch ihre Gaeste auf die Sitzkissen und -teppiche. Ali schnitt eine Grimasse, bevor er sich zwischen Laura und Werner niederliess, im Stehen haette man den Strauss leichter ausfechten koennen. "Es ist schoen, Euch hierzuhaben, auch wenn ich bei einigen noch skeptische Gesichter sehe", begann Willi freundlich, "aber das ist wohl ganz natuerlich so ...", und erklaerte, warum das im Moment noch so sein musste, aber sich ganz bald aendern werde. Richard konnte sich auf das Gerede nicht konzentrieren, weder auf den Vortrag noch den nachfolgenden Streit, obwohl es ziemlich hoch herging, denn er war von dem ueberraschenden und unerquicklichen Zusammentreffen mit Doreen ziemlich erschuettert, und hauptsaechlich damit beschaeftigt, seine hilflos umherirrenden Gedanken und Impulse wieder einzufangen. ------- "Also wie warn wir?" fragte Guenter selbstgefaellig, als sie nach Hause gingen. "... eigentlich ganz gut; aber es ist schwer zu sagen, welchen Effekt wir erzielt haben", meinte Werner. "Die ganze Veranstaltung ist doch so abgelaufen, dass eine Menge geredet worden ist, jedoch die OAAler im Grunde nichts von sich preisgegeben haben, man weiss nicht, was in der Gruppe WIRKLICH ablaeuft, jedenfalls nicht mehr als was in der Zeitung steht und was Birgitta schon erzaehlt hat." "Man sollte nicht denken", sagte Ali, "dass jedes Kommuneexperiment so vermurkst ist. In Berlin gibt es neue Versuche ganz ohne hierarchische Muster." "Ja, so ein Projekt gibt es bei uns in der Hafenstrasse auch, ich bin aber skeptisch, wieweit sich solche Inseln auf Dauer halten koennen", sagte Guenter. "Das haben schon Andere versucht und sind gescheitert." "Es ist ein grundsaetzliches Problem", unterbrach ihn Richard. "Sobald sich irgendwo eine Alternative bildet, ist sie gezwungen, mit dem Aussen zu kommunizieren, zum Beispiel auch Handel zu treiben, und wird dadurch von dessen Denkfiguren infiziert, zum Beispiel Reduktion von Mensch und Materie zur Ware und so weiter." "Aber man MUSS sich nach aussen hin vertreten", fuhr er unbeeindruckt fort. "Ich denke, das waere schwierig mit einer voellig antiautoritaeren Struktur. "Wenn ein Projekt Erfolg hat", sagte Werner, "stossen Leute dazu, denen es kaum um die Inhalte geht, sondern die sich einen materiellen Vorteil versprechen, das ist so ein bestimmter Menschenschlag ... Oft setzt er sich gleich an die Spitze, weil es ihm nur um die Macht geht und er sich um die Inhalte nicht kuemmert." "Damit musst du dich abfinden. Selbst wenn man 'offiziell' auf eine Hierarchie verzichtet, breitet sie sich inoffiziell doch wieder aus. Ob man das gut oder schlecht findet, es wird immer Leute geben, die die Faeden ziehen, weil es ihnen gelingt, andere auf ihre Seite zu bringen, und eine Hausmacht zu bilden." "Da muessten entsprechende Hebel ueberlegt werden, um das zu verhindern. Mit deiner Position, so etwas erst mal hinzunehmen und einfach zu sehen, wie weit man kommt, rennt man gesetzmaessig in die immergleiche Spirale, die einen nicht weiterbringt. Vielleicht muss man doch nach dem GANZ ANDEREN suchen." "Mich wuerde mal interessieren", sagte Richard, "was fuer Lehren die OAA aus einem derart misslungen Abend zieht. Sie haben definitiv zu viele kritische Leute auf einmal eingeladen, die sie nicht mehr kontrollieren konnten, beim naechsten Mal werden sie mit ihren Einladungen vorsichtiger sein. Birgitta hat beim Abschied nicht eben gluecklich ausgesehen. Wenn die man wegen uns keinen Rueffel bekommt." "Du hast dich ja mit Kritik ziemlich zurueckgehalten", giftete ihn Ali unversehens an. "Wolltest Birgitta nicht auf den Schlips treten, was? ... oder haben die dich mit ihrem Scheiss etwa beeindruckt?" "Keins von Beiden. Ich denke nur, dass wir uns den Besuch haetten schenken koennen, weil die sich sowieso nicht ueberzeugen lassen." "Wer weiss", meinte Laura, "vielleicht haben wir ein paar Koernchen Zweifel gesaet."