s6.unx Juni 1976 Es war 6 Uhr abends und Richard auf dem Weg nach Hause. Eine roetliche Sonne lenkte atemlose Strahlen wie kleine schnelle UFO's durch die Strassenschluchten und beschwingte die Schritte der Passanten. Der Tag war warm gewesen, ungewoehnlich warm fuer Hamburger Verhaeltnisse, aber jetzt frischte der Wind auf und kuehlte kochende Koerper und Seelen. Tage wie heute, an denen er nicht nach Harburg musste, weil manche Vorlesungen noch immer in der Siemersallee stattfanden, waren das schoenste. An solch lauen Sommerabenden verschmaehte er den Bus und wanderte zu Fuss von der Uni nach Hause, am Schlump und kleinen Schaeferkamp vorbei, durch den Schanzenpark zur Sternschanze und dann in den Schnaakenmoorweg, eine heruntergekommene Parallelstrasse der Max-Brauer-Allee, jedoch wesentlich ruhiger und beschaulicher als diese. Von dort wuerde er ueber den Lerchenstieg in die Thadenstrasse wechseln und schliesslich durch das Gassengewirr von Alt-Altona beim Rathaus herauskommen. Mehrmals auf seinem Weg aenderten sich Publikum und Baustile. Beim Schlump sah man hauptsaechlich Gruppen von lachenden, schwatzenden Studenten, die sich nach den Seminaren beim Griechen oder Italiener trafen, waehrend ihm im Schnaakenmoorweg viele Fremdarbeiterkinder und Deklassierte der Unterschicht begegneten, und ein paar ausgeflippte Jugendliche. Die Welt zerfiel. Die distinguierte und schweigende Mehrheit lebte zurueckgezogen in vorstaedtischen Neubausiedlungen, sie wusste und wollte nichts von diesem Milieu wissen, es gab keinen Ausgleich. Der Umschwung setzte schon bei der Sternschanze ein. Einer der aeltesten Hamburger Bahnhoefe, Jugendstil, ueber und ueber mit wertvollen dunkelgruenen, ockerfarbenen und ehemals weissen Fliesen und Marmor bedeckt, erinnerte seine Form an eine Moschee aus dem Morgenland. Jetzt war er nur noch ein Schatten einstiger Pracht, eingeklemmt zwischen in den 50er Jahren eilig hochgezogenen Mietshaeusern, staubig und schmutzig, an vielen Stellen fast schwarz, wie von Kot besudelt; und wirklich hatten Generationen von Hunden und Betrunkenen seine glatten Waende als Abtritt missbraucht. Eine breite Oeffnung fuehrte ins Innere. Frueher waren grosse Holztueren mit fauchenden schmiedeeisernen Loewen darin eingelassen, und jeden Abend war der Bau puenktlich um 9 von einem Waerter abgeschlossen worden. Doch den Waerter hatte man laengst in Rente geschickt und auch die Tueren entfernt, seit sich ein immer groesserer Teil des staedtischen Lebens in die Nacht verlagerte. Nicht weit von hier lag die Wohnung, die die SAGA ihnen angeboten hatte. (Weil die Weidenallee hinter dem Bahnhof einen Bogen schlug, wurde die Sicht jedoch von anderen Haeusern etwas behindert.) Ein Vorkriegsbau und aehnlich heruntergekommen wie der Bahnhof, liess sich die Qualitaet seiner Architektur nicht mit dessen marmorierten Kacheln vergleichen, sondern passte nach seiner Erscheinung eher zu dem baufaelligen Wasserturm, der sich links hinten ueber dem Schanzenpark erhob und der Gegend seinen Namen gegeben hatte, ein riesiger Zylinder aus alten, dunkelroten Ziegeln, welcher mit dem daneben filigran in den Himmel stechenden Kongresszentrum seltsam kontrastierte. An seine Fuesse schmiegte sich ein Spielplatz und durch die Straeucher, welche den Park begrenzten, nahm man ein halbes Dutzend herumtollender Kinder wahr. Die Hamburger bezogen ihr Wasser schon seit Jahrzehnten aus einem Reservoir in der Nordheide, und der Vorrat im Turm wurde nur fuer Notfaelle vorgehalten, fuer jene sommerliche Duerre, auf die man im Norden meistens vergeblich wartet; in Hamburg ertrinkt man viel eher in einer Sturmflut als dass man verdurstet. Rechts hinter dem Bahnhof fuehrte die Schanzenstrasse in die Siedlungen des Viertels. Bevor sie endlich in die vierspurige Stresemannstrasse muendete, nahm sie noch allen Verkehr aus den Seitengassen auf. Vor dem Bahnhof waren Absperrstangen gezogen, die Fussweg und Strasse trennten und Autos am Parken hindern sollten. Ein Trupp junger Afrikaner mit Windjacken in schillernden Farben und amerikanischen Baseballmuetzen luemmelte darauf herum, die Ruecken zur Strasse, lachend und sich scheinbar gut unterhaltend. "Wenn nur keiner nach hinten faellt!" schoss Richard durch den Kopf. Er wuerde von den auf dem Kopfsteinpflaster wie besinnungslos vorbeirasenden Autos unweigerlich ueberfahren. Er befand sich auf der gegenueberliegenden Strassenseite und musterte die ziemlich grosse Gruppe im Voruebergehen. In einem der Ruecken meinte er Nemsi zu erkennen, und er wurde von einem sonderbaren Gefuehl der Fremdheit erfasst, nicht das einer einfachen Nicht-Zugehoerigkeit, das kannte er ... wenn andere etwas unternahmen und ihn nicht teilnehmen liessen, wenn sie einen Verein gruendeten und ihre Insidergeschaeftchen betrieben, und man selbst war der Aussenstehende - nein, einer tieferliegenden Fremdheit ... und wahrscheinlich war es Nemsi oft aehnlich gegangen, er hatte genug negative Erfahrungen mit Weissen gemacht, nicht nur bei den WG-abenden in der Klopstockterasse, und vielleicht nicht nur mit Weissen, sondern ueberhaupt mit Menschen. Neulich, bevor er auszog, hatte er eine irre Geschichte erzaehlt, man wusste nicht, ob man das glauben konnte oder ob es ein Maerchen war, das er sich fuer die Asylbehoerde ausgedacht hatte, der groesste Teil seiner Familie sei in einer einzigen Nacht umgebracht worden, als die Ugander bei ihnen einmarschierten. Sein Heimatdorf liege direkt an der Grenze, und alle paar Jahre werde das Gebiet von Soldaten besetzt, mal von der einen, mal von den anderen Seite, und jedesmal wurden anscheinend Leute umgebracht. Auf dem Pfad neben dem Spielplatz fiel ihm ein Paerchen auf, das war doch, naklar, es war Britta am Arm eines Unbekannten. Mit ihrem pinkfarbenen Pulli fiel sie sofort auf, die reine Maenner-fang-farbe, und waehrend er sich ganz nach ihr umdrehte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie Nemsis Ruecken sich ebenfalls in diese Richtung beugte. Sie hatten es ziemlich eilig und gingen weit genug an ihm vorbei, so dass er sie nicht gruessen musste. Er ueberquerte die Schanzenstrasse, ohne sich noch weiter um Britta oder Nemsi zu kuemmern. Ein paar Schritte Umweg und er befand sich in einer ruhigeren, fast stillen Umgebung, wo das Gedroehne der Autos nur wie eine leise, ferne Drohung im Aether hing. Der Schnaakenmoorweg war eine lange schmale auf eine kleine Kirche zulaufende Einbahnstrasse mit den ueblichen weinroten Ziegelbauten - Ziegelbauten, so weit das Auge reichte, und er fragte sich, wann die Hamburger in den letzten 100 Jahren Zeit gehabt hatten, so viele von diesen Haeusern zu errichten. Indem er weiterging, kam das 'Schroederstift' ins Blickfeld, ein uraltes, wenigstens 200 Meter langes Reihenhaus, das ein Kaufmann im 19. Jahrhundert fuer seine niederen Angestellten gebaut hatte. Die Beschaffenheit der Anlage war so primitiv, dass Normalbuerger darin nicht wohnen mochten und die Stadt es schon laengst abgerissen haette, wenn es nicht vor langer Zeit von fehlgeleiteten Inspektoren der Denkmalbehoerde unter Schutz gestellt worden waere. Jedoch, an wen es zu vermieten sei, liess sich das Liegenschaftsamt von der Denkmalbehoerde nicht vorschreiben; und in der Hoffnung, derweise am schnellsten damit fertigzuwerden (das heisst die Substanz zu verschleissen), hatte es ein cleverer Beamter hernach dem Studentenwerk angedient. So wurde es mittlerweile von einer unueberschaulichen Schar von Studenten und alternativen Jugendlichen bevoelkert und zu einer Art Happening Center umfunktioniert. Im Garten fanden abwechselnd bierselige Rockfeten und dilettierende Kunstausstellungen statt; und all diese Veranstaltungen hinterliessen einen Bodensatz an Rueckstaenden, und wiederholte naechtliche Farborgien anonymer Sprayer taten ein uebriges und verwandelten das dezent-weinrote Gartenlauben-Ambiente in ein grellbuntes Panorama. Die Buerokratie hatte es laengst aufgegeben und auch gar kein Interesse daran, genau zu erfahren, wer sich in den alten Gemaeuern herumtrieb und was in ihnen vorging. Er kannte hier einige Leute, hatte schon oefter mitgefeiert und auf der Wiese gelagert, und so wurden seine Schritte automatisch langsamer, als er an dem halben Dutzend Muessiggaengern vorbeikam, die sich hingestreckt auf Stuehlen und Liegestuehlen der Sonne ergaben. "Hallo, Richard", wurde er denn auch angerufen, und als er sich umdrehte, erkannte er Andreas Schaefer, am Tengerner Gymnasium zwei Klassen unter ihm und jetzt nach dem Abi anscheinend auch in Hamburg gelandet. "Hallo", sagte er und schwieg dann. Er fuehlte sich irgendwie betrunken, die gelbroten Strahlen der Sonne hatten die Welt in einen Traum verwandelt, es war, als ob sein Geist ueber seinem Koerper schwebte. "Schoen, dass ich dich treffe", sagte Andreas lebhaft und blickte ihm direkt in die Augen, "ich haette euch wahrscheinlich sowieso mal besucht, ich wusste, du wohnst hier irgendwo in'ner WG, und ich habe neulich beim Uni-Sport zufaellig den Werner kennengelernt, der mit dir zusammenwohnt, er fragte, woher ich komme, und als ich 'aus Tengern' sagte, kamen wir gleich auf dich." "Und dich hat es in den Schroederstift verschlagen", stellte Richard fest, irgendetwas musste er ja von sich geben. Andreas war ein unscheinbarer, freundlicher Junge, gegen den es wenig einzuwenden gab, ausser dass er der Spross des Tengerner Schulleiters war, was Richard automatisch befangen machte, nicht oder nicht nur der Stellung des Vaters, sondern dessen Vergangenheit wegen. Auch wenn Andreas sich frueh von ihm distanziert hatte, auf sympathische Weise, beilaeufig vom Nazitum, und vehement von den Erziehungsmethoden, unter denen ausser den Schuelern auch der Sohn gelitten hatte ... es blieb etwas uebrig, ein minimales Misstrauen, wahrscheinlich nur ein eingebildetes Vorurteil, das Richard in den hintersten Winkeln dieser treuen dunklen Augen gespiegelt sah. "Ja, aber nur voruebergehend", antwortete Andreas. "Ich wohne bei nem Bekannten, der hier ein Zimmer hat und bin dringend auf der Suche nach einer Bleibe; aber es ist in Hamburg unheimlich schwer, etwas zu finden. Werner sagte mir uebrigens, dass bei euch immer mal ein Zimmer frei wird ..." "Ja, das stimmt. Vera hat neulich gesagt, dass sie ausziehen will. Der Termin steht allerdings noch nicht fest. Allerdings muessen wir das Haus zum Jahresende eventuell raeumen. Hat Werner das erwaehnt? Nein? Es ist so: Das Gebaeude gehoert der Stadt Hamburg und wird von der staedtischen Wohnbaugesellschaft verwaltet, sehr schoen gelegen uebrigens, mit Garten und Elbblick. Aber die SAGA hat uns gekuendigt, sie meint, eine bessere Verwendung fuer das Haus zu haben, und wir sind zwar nicht damit einverstanden und wollen uns dagegen wehren, aber man weiss nicht, wie die Geschichte letztlich ausgeht, insofern ist es ein bisschen riskant, bei uns einzuziehen. - Immerhin haben sie uns eine Ersatzwohnung versprochen, so Zoff wie in der Hafenstrasse wollen sie anscheinend vermeiden, und eine der Wohnungen, die in Frage kommen, liegt da drueben im Schanzenviertel." Er wusste nicht, was ihn so leutselig machte und dazu trieb, Andreas die ganzen Details anzuvertrauen (wars dessen freundliches Wesen?), so gut kannte er ihn eigentlich nicht, und er war auch nicht direkt erpicht darauf, mit ihm zusammenzuwohnen, wie gesagt, gegen Andreas war persoenlich nichts einzuwenden, aber trotzdem ... es gab in Hamburg tonnenweise Studenten, die ein Zimmer suchten, warum sollten sie ausgerechnet den Sohn vom alten Schaefer nehmen? Wenn der Andere auch nicht verstand, was in Richard vorging, so spuerte er doch die Reserve und drang nicht weiter in ihn ein, sondern spann das Gespraech mit einigen unverfaenglichen Bemerkungen fort, wobei er nebenbei einflocht, wie sehr ihm Richard auf der Schule immer imponiert habe. Doch ist es schwierig, den Wortlaut seiner Rede genau wiederzugeben, es handelte sich nicht um plumpe Schmeicheleien, die man sofort durchschaut haette, es war der mit Bewunderung getraenkte Ton, in welchem er ueber die Vergangenheit sprach. "Anscheinend imponiere ich ihm", dachte Richard erfreut, "zum Teil ist es wohl der Altersunterschied, in den unteren Klassen kommen einem aeltere Schueler meist reif und erfahren vor, und man nimmt sie zum Vorbild ...", und bevor sie sich trennten, lud er ihn zu einem Besuch in die Klopstockterasse ein. Im Weitergehen schweiften seine Gedanken in andere Richtungen. Ihm fiel der Brief von Dagmar ein, den er morgens bekommen hatte, liebevoll und derart unbeholfen, dass die meisten ihrer Formulierungen seltsam harmonisch geglaettet waren, als sie ihm jetzt durch den Kopf gingen: "Mein Lieber, unser letzter Kuss liegt jetzt schon Stunden zurueck und bis zum naechsten ist es noch arg lange hin. Obwohl es noch nicht lange her ist, dass wir uns gesehen haben, spuere ich eine grosse Sehnsucht nach dir, und ueberlege die ganze Zeit, wie ich an die Telefonnummer deiner Eltern kommen koennte, um deine Stimme zu hoeren." (Sie musste den Brief am Samstag geschrieben haben, als er uebers Wochenende nach Tengern gefahren war.) "Dann waere ich dir schon viel naeher. Oh, bitte mach dein Versprechen wahr und rufe mich an, sobald du zurueck bist. Bis dahin muss ich mich mit meinen Erinnerungen zufrieden geben, und mit dem Photo, das du mir neulich geschenkt hast. Gestern, als du mir gegenueber gesessen hast, in deinem schoenen buntkarierten Hemd, das dir so gut steht, mit dem feinen, zaertlichen Laecheln im Gesicht, schoss es mir ploetzlich durch den Kopf: Wie habe ich den Mann lieb! Und heute beim Aufwachen, als du im Bad warst, konnte ich dich riechen, indem ich mein Gesicht ganz tief in das Kissen drueckte. Wenn ich mich jetzt darauf besinne, fuehle ich dich ganz nah und bin gluecklich. Und wenn ich dann noch an deine warme Stimme denke, die mich so lieb umfaengt, und mir vorstelle, wie du mich beruehrst, wie du mein Haar und meine Wangen streichelst, gerate ich ganz aus dem Haeuschen. Am schoensten aber ist das Gefuehl, wenn ich bei dir einschlafen, mich vertrauensvoll an dich kuscheln und die Nacht mit dir verbringen kann - auch wenn ich mir am naechsten Tag das Gemecker meiner Mutter anhoeren muss, wo ich mich wieder herumgetrieben habe. Natuerlich habe ich Angst, dass es eines Tages vorbei sein koennte, dass du mich fallen laesst, wie mein erster Freund, von dem ich dir erzaehlt habe, aber da ist ein sonderbar starkes Vertrauen, weil unsere Liebesgeschichte erinnert mich an die von Steve Dinkey (du weisst doch, von den Ramones) und seiner Freundin. Ich habe den Artikel aus der 'Neuen Revue' ausgeschnitten und fuer dich aufbewahrt. Diese Geborgenheit habe ich eigentlich schon bei unserem ersten Spaziergang empfunden, sonst haette ich es bestimmt nicht gleich so weit kommen lassen, das kannst du mir glauben. Immer wenn wir uns verabschieden, du mit deinem ironischen oder traurigen Laecheln und ich mit ewig demselben Herzklopfen, moechte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe und mir wuensche, dass es noch lange so bleibt ..." In dem Stil ging es weiter. - Dreimal hatte er bis jetzt mit ihr geschlafen und anscheinend einen kolossalen Eindruck hinterlassen, jedenfalls nach dem Brief zu urteilen. Das war ganz ungewoehnlich, normalerweise war er es, der den Frauen hinterher lief. Er war sich nicht sicher, ob ihm diese Fuegung besonders gefiel, und bei diesem Gedanken begann ihn sein Gewissen zu maltraetieren, eigentlich hatte er laengst mit ihr sprechen wollen; um Stress und Aerger zu vermeiden, hielt er sie stattdessen in dem Glauben, alles sei in bester Ordnung. Konfliktscheu nannte man das. Andererseits, dachte er, war es ihr Problem, wenn sie so auf ihn abfuhr, und keine Vorsicht walten liess, obwohl sie mit ihren negativen Erfahrungen realistischer sein sollte. Wer solche Briefe schrieb, durfte sich nicht wundern, wenn allzu hohe Erwartungen enttaeuscht wurden, besondere Versprechungen ewiger Liebe und Treue hatte er schliesslich nie abgegeben. Wenn es um die Zukunft ging, drueckte er sich absichtlich vage aus, und ueber die Gegenwart konnte man ehrlicherweise nur das Beste sagen. War es nicht immer schoen, mit einer Frau zu schlafen? (Ausser wenn sie ganz verkrampft waren, das war ihm frueher mal bei einer passiert, die gerade von ihrem Typ verlassen worden war, die hatte sich auf alles andere als den Sex konzentriert, sowas konnte man sich sparen.) Mit Dagmar war es wirklich nicht schlecht, sie war bereit und offen und sie fasste sich gut an, er fand ihren Koerper unwiderstehlich. Das Problem war, sie passte nicht zu ihm. Er haette sich mit allen arrangieren koennen, mit der Buerokratin Ursula, der Friseuse Laura, Birgitta, der Aerztin. Aber Dagmar war einfach zu ... zu maessig. Wenn er mit ihr irgendwo aufkreuzte, erntete er zuerst mitleidige Blicke (wegen ihrer Behinderung) und dann abschaetzige (sobald sie den Mund aufmachte). Ihr Haarschnitt, ihre Kleidung, nichts passte in die Szene, in der er verkehrte. Und selbst wenn es mal anders lief und seine Bekannten ueber Dagmar hinwegsahen: er genierte sich trotzdem. Sie war einfaeltig und unheimlich langsam im Denken, und schlimmer noch: das sah man ihr an. Bis eine Idee zu ihr vorgedrungen war, hatte Richard sie schon wieder verworfen. Und womit sie ihre Zeit vertat! Sie loeste Kreuzwortraetsel und las regelmaessig die 'Bravo', so dass sie sich mit T.Rex und Eros Ramazotti bestens auskannte. Wer sie aber zum Beispiel nach dem Namen der hessischen oder bayerischen Landeshauptstadt gefragt haette, waere leer ausgegangen. Und vollends schaltete sie ab, wenn man ihr - wie er neulich - beizubringen versuchte, dass der neue Kultusminister ein elender Buerokrat und sein Vorgaenger - nur einige Monate im Amt und ein Freund der Verleger - sich hauptsaechlich und erfolgreich um den Erhalt der Buchpreisbindung gekuemmert und anschliessend ein lukratives Angebot aus der Privatwirtschaft bekommen hatte, was Richard masslos erboste, da in seinen Augen zwar die Kulturschaffenden eine Lobby brauchten, nicht aber diejenigen, die das grosse Geld mit ihnen verdienten. Was hatte das mit Dagmar zu tun, dachte er dann selbstkritisch, man sollte vielleicht nicht vorschnell ueber sie urteilen. Denn es war schwer zu sagen, warum einen ueberhaupt dies oder jenes interessierte. War man ein besserer Mensch, weil man sich fuer die Wendungen eines Kultusministers interessierte? Oder fuer die Spendengelder, die die CDU von befreundeten Unternehmern annahm? Politik auf dieser Ebene, das war auch nur eine Form von Klatsch, Gerede ueber Geld und Macht und Personalien, wer sich darauf einliess, musste seine Visionen vergessen. Und selbst wer sich kritisch damit beschaeftigte, vertat wahrscheinlich nur seine Zeit. Bei Dagmar lagen die Probleme anders, einfacher. Man haette gar nicht mal sagen koennen, dass sie von Vorurteilen oder festgefuegten Meinungen beherrscht wurde, es war schlicht und ergreifend nichts da in ihrem Hirn, es fehlte der Horizont, und darum war es auch so schwer, sich mit ihr ueber wichtige Themen zu unterhalten. Das seltsame war, dass er trotzdem ganz gern mit ihr zusammen war. Mit ihr zu bumsen, war wahnsinnig entspannend, kein Stress dabei, man konnte sie ein- oder zweimal hernehmen, wobei sie voll mitging, und danach entspannt mit ihr einschlafen, oder, wenn man noch nicht muede war, herumbloedeln und irgendwelchen Quatsch erzaehlen. "Wo ich herkomme, gibt es 2 Doerfer", war ihm neulich eingefallen, "Adelshausen und Odelshausen, die nah beieinander liegen. Wohl logisch, dass die Adelshausener auf die Odelshausener herabsehen und die Odelshausener sich wegen ihres Namens ein bisschen schaemen. Aber so ist das, pfui und hui liegen oft nah zusammen", und zum Beweis griff er nach ihrem Hintern, fuhr mit den Fingerkuppen ueber den Darmausgang, und dann weiter von hinten ueber die vom Samen noch feuchte Oeffnung der Scheide. Er wusste nicht, warum er ihr solche Sachen erzaehlte, es war wohl einfach, dass er sich allzu sicher fuehlte, und deshalb fiel ihm, mangels anderer Themen, solcher Schweinkram ein. - Dagmar war es zufrieden, nach ihrer Ansicht bewies das, wie gut ihm die Liebe mit ihr gefiel, sie schloss die Augen und seufzte sinn- und hilflos gluecklich. Angefangen hatte das Ganze vor 2 Wochen, als sie ihm zufaellig wieder ueber den Weg gelaufen war, praktisch an derselben Stelle, wo er sie von den Sittenstrolchen 'befreit' hatte, nur dass jetzt Sommer war und Taghelle und das Buschwerk zum Elbufer undurchdringlich gruen. Er hatte seitdem eine Ahnung entwickelt, wer sie gewesen sein konnten, die Kandidaten hingen meist bei der Frittenbude am Klopstockplatz herum, oder beim Kiosk, wo man auf dem Weg zur U-Bahn vorbeikam und manchmal auch einkaufte, aber was solls, dachte er, es war ohnehin zu spaet, etwas gegen sie zu unternehmen. Er hatte sie schon von weitem erkannt, als sie um die Ecke bog (und sie ihn), und ihre Blicke liefen zwischen den Enden der Strasse wie Lichtstrahlen zwischen 2 Spiegeln. Er sah, wie sie sich ein wenig aufrichtete, ihre Schritte beschleunigte, wie von einem unsichtbaren langsamen Marsch oder Tanzrhythmus getrieben, so dass ihr Hinken kaum noch wahrzunehmen war, nur in seinem Kopf war es vorhanden, als Hindernis, sie attraktiv zu finden (denn es war kein anmutiges oder elegantes Hinken und weckte nur massvoll Beschuetzerinstinkte). Und als sie naeherkam, fiel ihm der weisse Reissverschluss ihrer billigen Regenjacke auf und die Bluse und der Schlag ihrer Hose, und das verkrampfte, gezwungene Laecheln auf dem breiten bleichen Gesicht. Er gruesste und wollte vorbeigehen, sie aber blieb stehen, nahm all ihren Mut zusammen und zwang mit einer Geste auch ihn zum Halten und sagte, wobei ihre Stimme stolperte wie die einer unsicheren Schuelerin beim Abfragen, so dass er zuerst nicht verstand und nachfragen musste, "was essen?", und das verunsicherte sie noch mehr, aber sie riss sich zusammen, auch wenn ihr Gesicht noch bleicher wurde, schliesslich musste sie die Situation irgendwie meistern, ja-doch, sie wolle sich nochmals bedanken und ihn deshalb zum Essen einladen, zum Italiener in der Arnoldstrasse. Seit Wochen hoffte sie auf den Zufall, ihm zu begegnen und ueberlegte dabei immerzu, was sie ihm vorschlagen koennte. Zuerst hatte sie mit der Idee gespielt, mittwoch abends, wenn die Eltern weg waren, fuer ihn zu kochen, eine verlockende Vorstellung, und billiger waere es auch gewesen, aber viel zu persoenlich fuer das erste Mal, und es fragte sich, ob man damit die gewuenschte Wirkung ueberhaupt erreichte. Wie das Geld fuer den Italiener aufzubringen sei, musste noch ueberlegt werden, von den paar Mark, die sie fuer die Aushilfe bekam, gab sie zuhause das meiste ab ... So oder aehnlich hatte sie sich das Hirn zermartet und genau zurechtgelegt, was sie ihm sagen wuerde, doch eigentlich war sie unfaehig, seine Reaktion abzuwarten, sie hatte genug mit den eigenen Reaktionen zu tun, ihr Blick wurde finster von Unsicherheit, das Laecheln verschwand endgueltig aus ihrem Gesicht und eine sonderbare Kaelte ergriff sie. Wenn er jetzt nein sagte, wuerde sie vergehen vor Peinlichkeit, wie stuende sie da, als dicke aufdringliche Nudel, deren unerwuenschte Avancen man wie laestige Fliegen abwehrte. Im Prinzip konnte er sich nichts schoeneres vorstellen als von einer wildfremden jungen Frau eingeladen zu werden, man musste selber gar nichts machen, keine Hemmschwelle ueberwinden und so weiter, und das Maedchen gefiel ihm auch, einerseits, ein bisschen jedenfalls und nach dem, was er unter Hose und Regenjacke wahrnahm. Es war nicht so, dass sie ihn voellig kaltliess oder gar abgestossen haette, wer das glaubt, hat die bisherigen Ausfuehrungen missverstanden. Natuerlich blieben die Vorbehalte. Doch die lebten auf einer anderen Ebene und gediehen auf dem Naehrboden einer Einbildung; er fuerchtete, dass er sie nicht wirklich lieben und an ihr die Methode 'Ali' praktizieren wuerde, und identifizierte auch das andere Motiv seiner Absage, was wuerden die Freunde sagen, wenn er mit dieser unbeholfenen Wachtel auftauchte? "Du, ich habe bald Pruefungen", sagte er also entschuldigend und bewusst naiv, "ich muss abends meist lernen." Das war nicht mal gelogen, das bevorstehende Examen setzte ihn gehoerig unter Druck, er musste unbedingt mit den Vorbereitungen anfangen, sonst konnte es eng werden, mit schlechten Noten wuerde er nie einen Job finden. Er spuerte ihre Verzweiflung, und darin lag ein so ueberwaeltigender Zug Weiblichkeit, das haute ihn um, es war wie wenn der Duft einer Blume oder eines Fruehlingsmorgens oder der Hauch eines besonderen Parfums ein muedes Gemuet beleben. Und natuerlich ging auch der Eindruck ihrer Figur weiter in seinem Trieb hausieren, er hatte ja keine Alternative, war einsam und fraulos, ach was, dachte er, sich ueber alle inneren Einwaende hinwegsetzend, warum sollen wir's nicht mal versuchen, wenn ich sie jetzt abweise, bereu ich es hinterher, und vielleicht versaeume ich wirklich was. Und kurz entschlossen warf er ihr nach, als sie sich, halb erstarrt vor Enttaeuschung, schon abgewandt hatte, "aber ich will jetzt gerade im Jenischpark spazieren gehen, wenn du magst, kannst du mitkommen." Sie war nahe daran, ihn nun ihrerseits zurueckzuweisen, der Selbstachtung wegen, und weil sie fuehlte, dass seine spontane erste Ablehnung tiefere Ursachen hatte. Doch dann siegten lange aufgestaute Liebessehnsuechte, sie schluckte ihre Verwirrung ueber sein paradoxes Benehmen herunter und fragte unglaeubig: "Ist das wirklich dein Ernst, ich meine, du brauchst mich nicht mitzunehmen, nur weil du jetzt etwas Zeit hast. Auf dem Spaziergang moechtest du wahrscheinlich lieber allein sein." "Nein, nein, im Gegenteil, komm ruhig mit, das heisst, wenn du magst", sagte er nachdruecklich, wobei er aufdringlich ihren Pullover fixierte, "vielleicht macht es sie sicherer", dachte er duemmlich, "wenn sie spuert, dass ich sie nicht voellig uebersehe". Weibliche Schuechternheit war ja ganz angenehm, sogar liebenswert, aber mit einer Frau, die sich staendig fuer ihre Anwesenheit entschuldigte, konnte man nicht viel anfangen. Sie mochte; und Zeit war auch kein Problem, weil sie gerade von der Arbeit in der Rathauskantine kam, wo sie die Speisen ausgab. "Ich heisse uebrigens Richard", sagte er freundlich. "... und ich Dagmar", erwiderte sie. Sie schluckte und dachte, dass seine Brillenglaeser die schoensten und ausdrucksvollsten Augen umrahmten, die sie je gesehen hatte. Er war wie ein Held, wie ein millionenfach geliebter Fernsehstar, und sie hielt sich fuer vermessen, zu hoffen, dass er sich je ernsthaft fuer sie interessieren koennte. Mit so verteilten Rollen brachen sie auf, und nach ein paar Stationen mit dem Bus die Elbschaussee hinunter, denn sein Auto stand seit Wochen kaputt in der Klopstockterasse, und ihr leuchtendes Gesicht gegen die Scheibe gedrueckt, weil sie ihn nicht staendig ansehen wollte, standen sie unweit des hohen Gatters auf dem weiten Vorplatz des Parks, von wo man alle Richtungen einschlagen konnte, zur Elbe hin oder mehr zu den alten Eichen oder zu den botanischen Anlagen. Er entschied sich fuer die Eichen, nicht ohne Hintergedanken, und zum Warmwerden vorher ein Schlenker ueber den kuenstlichen Huegel, wo Wasser hochgepumpt wurde und in Kaskaden herunterstroemte, an einigen Stellen fuehrten geschwungene Bruecken ueber den Bach, und einmal blieben sie stehen, um auffliegenden Enten nachzublicken, worauf Stille einkehrte, bis ein einsamer Frosch zu quaken begann. Er erzaehlte von seinem Studium, seinen Freunden - und vom Auto ..., dass die Lichtanlage unbedingt ausgewechselt werden musste, doch er komme zu nichts, die Pruefungen!, und sie hoerte die ganze Zeit aufmerksam-andaechtig zu. Neben den Wegen wechselte wild wachsender Wald mit Beeten, wo Planten und Bloomen in Reih und Glied gesetzt waren, dann wieder freie Flaechen, einzelne Straeucher mit Stecktaefelchen, auf denen ihre botanischen Namen verzeichnet waren, meist Begriffe, mit denen niemand was anfangen konnte und die Dagmar mit wachsendem Vergnuegen, er aber mit einer geheimen Unruhe las, beide wussten, dass er jetzt am Zug war. Die Anlage war so eingerichtet, dass man von jedem Standort das etwas erhoeht stehende weissgetuenchte Herrenhaus wahrnehmen konnte, dessen fruehere Besitzer ihr den Namen gegeben hatte. "Der Kasten sieht dem Altonaer Rathaus so aehnlich ... das muss ein und derselbe Architekt verbrochen haben", sagte er fachmaennisch, und weit und breit gab es niemand, der sein Urteil korrigierte, Dagmar nickte nur zustimmend, sie haette allem zugestimmt, was er sagte. Und wenn er uebergangslos auf ein anderes Thema kam, stoerte sie das auch nicht, im Gegenteil, sie liess ihn reden, sie war zufrieden, wenn sie selbst nichts zu sagen brauchte. Und er begann von seinem HP41C zu schwatzen, dem ultimativen Modell eines Taschenrechners, der ihn seine letzten Ersparnisse gekostet und Hewlitt und Packard reichlich Gewinn gebracht hatte. Denn der HP41C war ein Must-Have in den Praktika der Ingenieure, wer auf sich hielt, hatte ihn staendig in einer Spezialtasche am Guertel haengen; und wieder lauschte sie atemlos mit offenem Mund, so dass er ihre Zaehne sehen konnte, was ihn sonderbar sexuell stimulierte, aber nicht aus dem Takt seiner Rede brachte. So imposant sie sich gab: nicht die Villa war das kulturelle Highlight des Parks, sondern eine unscheinbare, flache, an der westlichen Grenzlinie hingezogene Holzscheune, in welcher der Bildhauer Barlach (weltberuehmter Feind der Faschisten) lange gelebt und gearbeitet hatte. Seine Werke mit ihrer seltsamen Figuerlichkeit sagten Richard nicht viel, er hatte es nicht mit Skulpturen und Plastiken, Malerei gefiel ihm viel besser. Wiewohl nur zweidimensionale Projektion, waren ihre Ausdrucksmoeglichkeiten vielfaeltiger, mit wenigen Pinselstrichen liess der Betrachter sich derartig taeuschen und Effekte von Leben und Bewegung und scheinbar organischer Pracht erreichen, die einer Skulptur niemals oder nur schwer einzuformen waren. Das Problem der Plastiken waren ihre Raender, ihre Begrenzungen; zwischen den Figuren war nicht Kunst, sondern gewoehnliche Aussenwelt. - Obwohl, einmal, in irgendeiner Stadt, die er vor Jahren mit den Eltern besucht hatte, in irgendeiner Strasse, da stand ploetzlich ein bronzener Mann vor ihnen, ein so taeuschend echter waffenstarrender Soeldner, dass der kleine Richard masslos erschrak - und vielleicht war in seiner aktuellen Abneigung gegen Skulpturen etwas von diesem Schrecken geronnen. Dagmar hatte natuerlich noch nie von Barlach gehoert, und so ging Richard gleich zum naechsten Gespraechsthema. Er kenne zwei Barlachs, zu Hause in Tengern gab es ein altes zusammengesunkenes Maennlein aus der Nachbarschaft, welches Barlach geheissen und waehrend Richards ganzer Kindheit vertraeumt und auf einen Krueckstock gestuetzt vor seinem Haus gestanden und das Treiben der Kinder beobachtet hatte, genauso regungslos wie jene Bronzefigur. Irgendwann war es gestorben und die alte Kate abgerissen worden, vorher aber hatten die Erben, das wusste er aus Erzaehlungen, einen beachtlichen Geldschatz im Bett des Alten gefunden, die jahrelang angesparte Rente, die er keiner Sparkasse anvertrauen wollte, denn er war misstrauisch nach allen Seiten und nach mehreren Inflationen und Waehrungsreformen, alles Schwindel, pflegte er zu sagen, wenn auf Banken oder Versicherungen die Rede kam ... Als sie den hinteren Teil des Parks erreichten, wo man sich hinter den Eichen unbeobachtet fuehlt, legte er den Arm von hinten auf ihre Taille, sie spuerte wohlig und aengstlich das Draengen, welches dahinterstand, und jaehes Glueck durchfuhr ihre Seele, dass ihr schwindlig wurde, nur gut dass sie sich an ihm festhalten konnte. So bewegten sie sich eine Zeitlang voran, langsamer werdend (und keiner wagte, seine Relativposition zu veraendern, allzu berauschend und gefaehrdet schien dieser Zustand), und unwillkuerlich nach abseits auf die schmalen mit Blattwerk verhangenen und vom gestrigen Regen noch klammfeuchten Wege, und ungeschickt wichen sie bald einem Trupp neugieriger Gartenarbeiter, bald einem aeltlichen Ehepaar aus, das solch heimliche Plaetze sicher nicht noetig hatte. Endlich wagte er, sie frontal an sich zu ziehen. Dagmar wusste zuerst nicht, wie sie sich drehen und stellen sollte, wie er es haben wollte, nur unbedingt rechtmachen wollte sie es ihm, und liess sich dann einfach fassen und halten, und irgendwie trafen sich ihre Gesichter, sie schlossen die Augen und verschmolzen, versanken ineinander, schoben Sorgen, Tamtam und ueberfluessigen Tiefsinn beiseite, und auch alle ueber den Augenblick hinausweisenden Empfindungen. Er konzentrierte sich auf die Weichheit ihrer Lippen und Wangen und ihres an ihn sich pressenden Leibes, er vergass ihre Unzulaenglichkeiten und begann, verschiedene besonders empfindliche Koerperstellen zu streicheln, immer gieriger werdend, wobei wiederholtes Aechzen ihm ihre Uebereinstimmung anzeigte, und verging fast ueber ihre seidene weibliche Fuelle und Ueppigkeit. Und sie, sie verlor vollends die Fassung, als sie ploetzlich unten seine Haerte spuerte, erstarrte fuer einen Moment und liess ihre Arme willenlos haengen. "So", dachte er, "das ist also der Weg, auf dem man sich gut mit ihr unterhalten kann", und es machte gar nichts, dass sie vorhin wenig zum Gespraech beigetragen hatte, nur stockendes, unsicheres Stottern und Lachen, so dass keine zusammenhaengende oder gar fluessige Konversation zustandegekommen war, nur ein frustrierendes semantisches Abtasten geringer Moeglichkeiten, nicht zu vergleichen mit dem realen Abtasten, welches er gerade an ihr vornahm und sie beide zu hoechsten Graden gegenseitigen Verstaendnisses aufsteigen liess. ------- Er waere gern laenger bei diesen Erinnerungen geblieben, kam aber jetzt ans Ende des Schnaakenmoorweges und musste sich auf den Weg konzentrieren, den Lerchenstieg hinunter, solche Steigungen gab es in Hamburg nicht viele. Er dachte an die Versammlung, die nachher stattfinden sollte, und schaute auf die Uhr. Mehr als genug Zeit bis dahin, kein Grund zur Eile. Viel Muehe hatten sie sich gemacht, allein das Flugblaetter-verfassen, -vervielfaeltigen, -verteilen! "Offener Brief an die Bevoelkerung. - Liebe Mitbuerger, wir moechten weiter hier wohnen bleiben", hatten sie geschrieben. Die Wohngemeinschaft Klopstockterasse sei schon lange in Ottensen verwurzelt, man fuehle sich wohl hier, und werde nun staedtischerseits gezwungen, das traute Heim zu verlassen undsoweiter, was man in so einer Situation eben schreibt, um die oeffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. Kein Fussbreit sollte der SAGA nachgegeben werden. Dann wurden sie unter die Leute gebracht. Man hatte sie nicht nur vor Geschaeften verteilt, sondern war damit auch abends unterschriftensammelnd durchs Viertel gezogen. Richard und Werner kaemmten die Elbchaussee und die Brunnenstrasse bis hinunter zum Arnoldweg durch, und lernten dabei die teils ungewoehnlichen, ja abenteuerlichen Lebensumstaende ihrer Mitbuerger kennen - ohne doch in mehr als oberflaechlichen Kontakt mit ihnen zu treten. Die Stimmung immerhin war allgemein positiv und aufgeschlossen. Ein paarmal wurden sie von aengstlichen Omas, einmal von einem bierbaeuchigen Bloedling nicht eingelassen, oder von allzu grossen oder lauten Hunden verscheucht; die meisten Leute aber unterschrieben bereitwillig, und viele baten sie sogar in die gute Stube, und was sie dort zu sehen bekamen, liesse sich mit Recht als 'Surrealismus im Alltag' bezeichnen, ein pensionierter Kriminaler zum Beispiel hatte sich wie Karl May in einem asiatischen Tempel, mit Baldachinen, Kandelabern und Wasserpfeifen gegen Alter und stuermische Zeiten verschanzt. Hinter seinem Baerenfell holte er zwar keine Silberbuechse, aber eine Flasche Cognac vor, und verwickelte die beiden im Angesicht dieser grandiosen Einsamkeit betreten schweigenden Freunde in einen gediegenen Dialog, erzaehlte von lange zurueckliegenden Reisen, Kreuzfahrten und Karawanen und seiner spannenden Arbeit in den 50er Jahren. Seine Unterstuetzung haetten sie auf jeden Fall, verkuendete er, nur leider, die Petition koenne er nicht unterschreiben, aus Ruecksicht auf seinen Nachbarn, einen SPD-Politiker, der sich fuer die Sanierung starkmache (und mit dem er es nicht verderben wollte, weil er oefters mit ihm einen heben ging). Auch an dessen Tuer wagten sie sich. Die verwirrte Gattin fand die hoeflichen jungen Maenner ganz sympathisch, bis der Mann im Flur auftauchte, auf einmal ganz hellhoerig. Er verscheuchte seine Frau und hielt den beiden einen ausfuehrlichen Vortrag ueber die notwendige Erneuerung Altonas. Schoen und gut, aber warum nicht trotzdem die Petition unterschreiben, konnten sie endlich fragen, darin gehe es doch nur um das Recht friedlicher Mitbuerger, ihre Wohnung zu behalten. "Das waere sein politisches Todesurteil gewesen, wenn er unterschrieben haette", lachte Werner hinterher auf der Treppe. "Ich weiss nicht; es gibt in der SPD solche und solche. Dieser war halt vom rechten Fluegel, ziemlich ruede Einstellung, ich glaube, ich habe schon mal von ihm gehoert, er hat sich im 'Kampf' gegen die Tuerken im Stadtteil einen Namen gemacht." So waren sie von Haus zu Haus gezogen und zwischendurch, als sie diese Beschaeftigung unsaeglich zu langweilen begann, und der Anblick ihrer Stammkneipe sie vom rechten Weg abzulenken drohte, durch weitere anregende Erlebnisse fuer ihre Muehe belohnt worden. In einem erst kuerzlich aufwendig renovierten Einfamilienhaus am Ende der Arnulfstrasse oeffneten zwei Toechter, kaum juenger als sie und wundersam raffiniert aufgedonnert, leider, die Eltern seien nicht da, doch warum nicht hereinkommen, auch junge Menschen wollen informiert sein, und 4 arglose strahlend-glaenzende Augen gaben zu verstehen, welch eminentes Interesse sie namentlich am Schicksal der Klopstockterasse hatten. ------ Er hatte es fast geschafft, nur noch einmal quer durch Altonas Altstadt und ueber dann Rathausplatz, dann war er gleich zu Hause. Hier kamen ihm viele Leute entgegen - die ersten Kneipengaenger, gelangweilte Muttis mit Kinderwaegen und hastige Angestellte, die auf den letzten Druecker noch einkaufen wollten. Er kam an einem neuen Bistro vorbei, und dachte noch, "solche Wirtschaften schiessen neuerdings wie Pilze aus dem Boden, Pub oder Bistro oder Cafehaus oder wie sie sich nennen", da sah er die Beine. Der Wirt hatte im Schaufenster seines Lokals zwei Tische aufgestellt, so dass sich Gaeste und Passanten unwillkuerlich gegenseitig begutachteten, wobei das trennende Glas dem Voyeurismus einen besonderen Kick gab, und an einem der Tische sass sich ein Paar gegenueber wie Fremde, sie blickten einander nicht an, ihre Augen und Koerper waren starr auf die Ferne des gegenueberliegenden Bueroturms gerichtet. Wie nebenbei lag des Mannes Hand mit dem Rist auf dem nackten Knie der flachsblonden Frau, und zwischen zwei seiner Finger nahm Richard ein schmales, weisses Etwas wahr, eine brennende Zigarette. Und eine ungeheure Begierde nach eben dieser Blondine bemaechtigte sich seiner, die sich so selbstverstaendlich zum Besitz des Anderen machte, und ein hungriger Neid auf jenen angepassten Daemelack mit seinem wohlgescheitelten Haar, der die Frau mit solcher Leichtigkeit zu besitzen schien. Doch er ging weiter, natuerlich, er vollfuehrte, was er vorhatte und was man von ihm erwartete, hielt sich ans vorgesehene Programm, das hatte er immer getan und das wuerde immer so bleiben. ------- Ein bisschen aufgeregt war er schon, als er sich spaeter in der Seefahrtschule einfand, ob alles klappen wuerde. Er sass zwar nicht mit auf dem Podium und musste kein Lampenfieber haben, aber immerhin hatte er die Veranstaltung mit organisiert und hoffte auf ihren Erfolg. Er gesellte sich zu den anderen aus der WG, Ali, Birgitta und Werner, und ueberraschenderweise auch Andreas Schaefer, "Da staunst du", sagte der laechelnd, "Werner hat mir von dem Termin erzaehlt und mich eingeladen." Vorhin, auf der Strasse, war er noch unschluessig gewesen, ob er kommen sollte, aber ploetzlich war ein kuehler Wind ueber die Wiese gegangen, schluss und vorbei mit Sonnenbaden, und da hatte hatte er sich aufgerafft. Jetzt kam noch Rolf dazu, und Martin, Laura und Kalle. Rolf war der Politik wegen hier, die andern aus Freundschaft und Neugier, fuer sie ging es um nichts, distanziert verfolgten sie den Auftrieb der Massen. Denn zusehends fuellte sich die Aula, manche strichen forsch herein, gruessten auch, andere bewegten sich langsam und unsicher am Rand zu den hinteren Reihen, manche kamen in Gruppen, andere einzeln. Ganz hinten stand auch Professor Kazmazik, Richard winkte ihm laessig, er konnte sich nicht vorstellen, dass jetzt noch viel von ihm zu befuerchten war. Rolf hatte einen Fernseher aufgestellt, den er vor den Diskussionen und in der Pause flimmern liess, damit man vom Fussballspiel Deutschland-Belgien so wenig wie moeglich versaeumte, das, fand er, war der einfachste Weg, in der Nachbarschaft Punkte zu machen. Von den Podiumsgaesten traf zuerst der Vertreter der Mieterinitiativen ein, der die Leitung uebernehmen sollte, ein junger Mensch mit speckigen pechschwarzen Halstuch und Haaren, und aufgeschwemmten Zuegen, der Richard - er konnte sich nicht helfen - an einen bekannten Komiker erinnerte, dieselben Augen, derselbe Habitus, dieselbe gemuetliche rheinische Intonation. Er begruesste Rolf mit Haendeschuetteln und die Anderen mit Kopfnicken. Dann begann er auf sie einzureden. Was er sagte, klang vernuenftig. "Wenn ihr Putz geplant habt, wartet bitte damit." Man solle zuerst ihn reden lassen, dann die Politiker, dann koenne Ali kurz ueber die Klopstockterasse berichten, "danach duerft ihr es krachen lassen". "Er hat ein falsches Bild von uns", dachte Ali, "so militant sind wir gar nicht." "Hoffentlich tritt er gegen die Abgeordneten auch so selbstbewusst auf", dachte Richard. Er war besorgt, die beiden Parteivertreter koennten ihn ueberstimmen und im Sinne des Dekans das Heft in die Hand nehmen. Als sie eintrafen, beruhigte er sich allerdings wieder. Da waren keine besonderen Polit-begabungen vorgeschickt worden, und auch keine Bosse, sondern zwei verschreckte, scheue Geschoepfe, die ihre Umgebung zu recht als unwirtliches Terrain einstuften, und sich obendrein spinnefeind zueinander verhielten. Sie setzten sich beklommen auf ihre Klappstuehle und ueberliessen resigniert dem Dunkelhaarigen das Ruder. Die CDU wurde von einen Individuum mit akkuratem Kurzhaarschnitt und grosser Knollennase vertreten, der, wie sich herausstellte, gar nicht in Altona, sondern in Blankenese zu Hause war. In Ottensen hatten die Christdemokraten nicht eben viele Anhaenger - und noch weniger Funktionaere, die einen Auftritt vor diesem Publikum riskierten. Der von der SPD war juenger, 35 vielleicht, Typ Rechtsanwalt, mit wulstigen Lippen und randloser Brille, einer, der sich jeden Satz zweimal ueberlegt, bevor er ihn ausspricht, und mit dem, was er eigentlich denkt, erst mal hinter dem Berg haelt. Der Schwarzhaarige also liess sich von ihnen nicht beeindrucken, jedenfalls merkte man ihm dergleichen nicht an, er besass genau jene Chuzpe, die ein erfolgversprechender Nachwuchspolitiker benoetigt. Mit ruhiger Stimme warf er den Anderen das groesste Unrecht vor, die geplante Modernisierung sei nicht nur aeusserst unsozial, indem sie die Armen und Schwachen aus Altona heraus- und in die Gettos am Muemmelmannsberg hineinzwinge, sondern sogar ungesetzlich, nachgerade kriminell. Momentan betraefe sie nur ein paar Studenten, doch wehre den Anfaengen, jeder koenne sich ausrechnen, wann er an der Reihe sei, die SAGA plane, das ganze Viertel auf den Kopf zu stellen. Der SPD-Vertreter, dessen Partei den Verwaltungsapparat doch erst in Bewegung gesetzt hatte, reagierte moderat, bescheiden und kompromissbereit, er befuerchtete, von allen am meisten getreten zu werden. Die Sicherheit seiner Parteimitgliedschaft konnte er hier vergessen und wuerde sie den ganzen Abend, selbst gegen Alis Beleidigungen, nicht herauskehren, im Gegenteil, er liess Distanz zur Linie des Buergermeisters erkennen. Er koenne an den Beschluessen nichts aendern, habe sie nicht gefasst und fuehle sich auch nicht dafuer verantwortlich, erwiderte er mit treuen, traurigen, sympathieheischenden Augen, und seine Lippen tanzten im Takt seiner Stimme wie Nattern bei der Begattung. Mit seinem Gehabe brachte er das Publikum zum Lachen und zu der Frage, warum man ausgerechnet ihn hergeschickt hatte, worauf er schnell umschwenkte und zu beruhigen versuchte, nur keine Angst, trotz aller Beschluesse, Ottensen werde kein 'besseres' Viertel, das habe der Stadtrat garantiert nicht im Sinn. Eindeutige Aussagen oder schon gar seine wahre Meinung ueber die Sanierung, oder ueberhaupt eine Meinung, waren ihm nicht zu entlocken, und es liess sich auch nicht schliessen, ob er tatsaechlich ohne eigene Meinung auskam und es fuer klueger hielt, in der gegebenen und jeder anderen Situation in lauen Wassern sich treiben zu lassen und mit niemandem zusammenzustossen, am allerwenigsten mit der Mieterinitiative, mit denen wuerde er in Zukunft noch oefter zu tun haben, ergo, Richards Eindruck war falsch, auch er war kein schlechter Politiker. Noch immer fuellte sich der Raum, zu solchen Veranstaltungen durfte man gern zu spaet kommen. Es war ein ziemlich grosser Hoersaal, mit nach oben hin erhoehten Holzsitzen, und einer betraechtlichen Anzahl von Reflektorlampen, um ihn bei Bedarf bis in den letzten Winkel auszuleuchten. Eine darueber wie schwebende Tribuene und mehrere kleine Emporen waren von der Schulverwaltung vorsichtshalber gesperrt worden, die Schluessel befanden sich in Kazmaziks Hosentasche. Je voller es wurde, desto intensiver empfand Richard die Spannung, und er glaubte, jeder interessierte Beobachter und auch die anwesenden Bewohner der benachbarten Strassen, wuerden diese Spannung empfinden, dass naemlich alle Mieter den Status Quo unbedingt verteidigen mussten, wenn sie ihren preiswerten Wohnraum nicht verlieren wollten, und schon gar nicht durften sie sich hereinreden lassen, wie sie zu leben hatten, wer legte denn Wert auf die neuesten sanitaeren Anlagen, wenn er dafuer hinterher von der SAGA ausgenommen wurde? ... Und wer sich in Ottensen eingewoehnt hatte, der sollte bleiben duerfen, und nicht davon gejagt werden, weil es einigen Herren in feinen Anzuegen so gefiel. Die WGler sassen in der zweiten Reihe, hinter dem Vorstand der Buergerinitiative, dahinter mischten sich junge, erwartungsvolle Gesichter aus anderen WG's der Umgebung mit denen aelterer Leutchen, die schon lange hier wohnten, mindestens seit dem Krieg. Waehrend als naechstes der Knollennasige sich seiner Statements entleerte, deutlicher Stellung beziehend, ja, die CDU sei absolut fuer die Modernisierung, man duerfe den Stadtteil doch nicht verkommen lassen!, und vom beifaelligen Kopfnicken des inzwischen von seiner Empore wie von einem Jaegerstuhl wachsam obachtenden Seeschulrektors (der sich immer noch Sorgen machte, weil er es versaeumt hatte, sich telefonisch beim Bezirksamt rueckzuversichern) und zunehmend lauteren, missfaelligen Zwischenrufen begleitet, wartete Ali auf seinen Auftritt. - Rechts entdeckte er eine huebsche Blondine. Genaugenommen war sie mehr als huebsch, sie war hinreissend, umwerfend, das schmale Gesicht braun vom Skiurlaub, bunte blumige Bluse, Goldschmuck und Schminke, in seiner Erregung war er fuer ihre Anziehungskraft besonders empfaenglich, aber natuerlich war sie auch Richard aufgefallen. Ihre Koepfe und Oberkoerper drehten sich seltsam nach rechts, aus dem einzigen Grund, weil die Blondine dort sass, und dabei begegneten sich ihre Augen, strahlende Edelsteine, und alle drei wurden ein bisschen unruhig, und Richard erinnerte sich noch lange an sie, auch als er sich klargemacht hatte, dass diese Augen auch vielen anderen Maennern begegneten, denen sie sich einpraegten, das war der Sinn solch ungewoehnlicher und gewiss nicht fuer ihn allein bestimmter Schoenheit; wenn ueberhaupt bestimmt, dann fuer ganz andere Typen als ihn. Und also, dieser Kontakt, oder wie man es nennen will, ist fuer den weiteren Verlauf der Geschichte, wie des Lebens ueberhaupt, voellig ohne Belang. Ein Fotograf machte Fotos fuers 'Altonaer Tageblatt' und ein Redakteur hatte schon seinen Bleistift gespitzt. Aber diese Leute waren nicht wirklich an ihnen oder der Stadterneuerung interessiert, dachte er, fuer sie war die Hauptsache, eine Meldung zu haben, ueber etwas schreiben zu koennen, was die Seiten fuellte, damit die Anzeigen nicht allzu aufdringlich wirkten. Ali hatte den Ansprachen der Politiker kaum zugehoert, er kannte ihre Argumente zu Genuege und war gut vorbereitet, sie gleich anschliessend in der Luft zu zerreissen. Und als er dann loslegte, brachte er alles in einem so herrlich provozierenden Tonfall heraus, dass seine Worte scharfe Kanten in die Luft schnitten, wie Saeure frassen sie sich in die Gemueter, dass selbst die gleichgueltigsten oder wohlmeinendsten unter ihnen unruhig auf den Stuehlen rutschten, was sei bloss los in Altona, man brauche mehr Wohnraum fuer aermere Leute, stattdessen werde das ganze Geld fuer teure und ueberfluessige Renovierungen verpulvert, und uebrigens fuer ein neues Buerohochhaus am Spritzenplatz, welches so entbehrlich sei wie ein Kropf. Sanierung ja, aber nur bis zu dem Punkt, wo die Mieten bezahlbar blieben, alles uebrige bedeute fuer die jetzigen Mieter eine Politik der verbrannten Erde, und genau das werde von der SAGA nicht nur in Kauf genommen, sondern systematisch gefoerdert. Er beschrieb die Situation in der Klopstockterasse, wie es sich mit einer Kuendigung und demnaechst in einem quasi-besetzten Haus lebte. Und dann hielt er die Listen mit den Unterschriften in die Luft und liess sie anschliessend aufs Podium knallen, drohte mit endlos sich hinziehenden Gerichtsverfahren, und der Reporter notierte alles begeistert. Bis der Knolle die Hutschnur platzte, er konnte nicht mehr an sich halten, eine einzige grobe Verzerrung der Tatsachen sei das, fuhr er erregt dazwischen, niemand mit einem rechtmaessigen Mietvertrag werde nach der Sanierung schlechter dastehen, darauf koennten sich die Buerger verlassen, sein Ehrenwort gebe er darauf, und nebenbei verstehe er den Kollegen von der SPD nicht, der diese einseitige Agitation so unkommentiert hinnehme. Der SPD-Vertreter war klueger und schwieg, er wusste, die Politik wuerde ihren Stiefel durchziehen, warum sollte er sich vor langwierigen Prozessen fuerchten, die ihn persoenlich gar nicht betrafen. Es kam nur darauf an, niemanden zu provozieren und solche emotionsbeladenen Versammlungen irgendwie durchzustehen. Die Meisten, die hier sassen, wuerden bei den naechsten Wahlen wieder SPD waehlen, mangels Alternative, da brauchte man sich nicht zu beunruhigen. Was hiess das schon, wenn hier die Volksseele ein bisschen kochte? Heute hatte man die Mehrheit gegen sich, aber morgen wurde das Thema von anderen Problemen verdraengt und uebermorgen war es ganz vergessen. Es schien vielen Zuhoerern eine seltsame Konstellation, dass der Vertreter der Opposition sich verpflichtet fuehlte, die Entscheidungen der Regierungspartei zu verteidigen und Ali die gebuehrende Abfuhr zu erteilen. - Jedoch, der Knolle war es herzlich egal, wenn er hier ausgepfiffen wurde. Unter anderen Umstaenden haette er versucht, aus der Situation Kapital zu schlagen, doch in Ottensen war die CDU rein chancenlos, da konnte man schon mal Tacheles reden, da war es einerlei, wie man sich auffuehrte. Der SPD-Vertreter versuchte inzwischen, die Gemueter zu besaenftigen; denn nun ging es hoch her, es brodelte geradezu in der Menge. Er habe Verstaendnis fuer die Studenten, sagte er sanftmuetig, es muesse eine fuer alle Beteiligten zufriedenstellende, aussergerichtliche Loesung gefunden werden, er sei zwar in dieser Hinsicht nicht der richtige Gespraechspartner und wolle nichts vorwegnehmen, das koenne nur von der SAGA ausgehen, aber man habe, soweit er wisse, den jetzigen Bewohnern garantiert, dass sie eine neue Bleibe bekommen wuerden. Das half, die Wogen zu glaetten, es nuetzte wenig, dass Ali vorher mit duesteren Worten beschrieben hatte, wie schaebig die Ersatzwohnungen waren, und dass man unmoeglich damit zufrieden sein konnte, Richard spuerte, das Publikum war bereit, der ruhigen Stimme, dem sich selbst Zuruecknehmenden dieses Menschen bis zu einem bestimmten Punkt zu vertrauen. Etwas spaeter wurde es doch wieder lebendig. Wenn er ihn richtig verstehe, rief unvermittelt ein aelterer Mann aus den hinteren Reihen, sollten die Studenten aus Ottensen vertrieben und das alte Arbeiterviertel danach besseren Kreisen geoeffnet werden. Aber nein, nein, beruhigte wieder der Wulst-lippige, das habe der Stadtrat durchaus nicht im Sinn, das sei in der Buergerschaft sogar Diskussionspunkt gewesen, wie sich so eine Entwicklung verhindern liesse. Man duerfe die Abgeordneten nicht mit Immobilienspekulanten gleichsetzen, im Gegenteil, und nur ja keine Feindbilder aufbauen, sie seien sich ihrer Verantwortung fuer ein gewachsenes Viertel bewusst, entsprechend werde die SAGA beeinflusst. Was so verwerflich daran sei, Wohnraum fuer Wohlhabende zu schaffen, reiche Leute zahlten Steuern und duerften nicht aus der Stadt vergrault werden, unterbrach ihn der von der CDU, jeden Ausgleich konterkarierend, und fuegte hinzu, wer nicht arbeite, duerfe nicht das meiste essen wollen, und da lachten alle hilflos ueber soviel Ignoranz, und der von der Mieterinitiative warf unter Beifallsstuermen ein, ganz offensichtlich sei dies das falsche Publikum fuer solche Stammtischweisheiten. ------- Es war noch frueh, keine halb 10, als die Versammlung sich aufloeste. Ali, Laura, Richard und Werner traten aus dem Torbogen der Schule und schlenderten langsam auf die Klopstockterasse zu. Sie beschlossen, dass der Abend noch nicht vorbei sein sollte und schlugen den Weg zur Hafenkneipe ein. Laura meinte zwar, sie werde dort immer von Schwermut befallen, liess sich dann aber doch ueberreden, besonders Werner gefiel die duestere Stimmung, das karge Ambiente, die ehrliche, nichts vortaeuschende Leere. Die Kneipe lag am unteren Ende der Palmaille, man musste eine schmale Treppe hinabsteigen, und auf halber Hoehe nach rechts, dann war da gleich die Glastuer, und dahinter ein schwerer Vorhang, wohl noch aus frueheren gutbuergerlichen Tagen. Im Innern alles ganz anders wie man sich eine 'Hafenkneipe' vorstellt, keine Netze oder Harpunen an der Wand, keine Schiffsmodelle, nicht einmal eine Holztaefelung, nur ein grosser, kahler, weissgetuenchter Raum mit zwei langen schweren Holztischen. Zwei elende Funzeln unter der Decke verbreiteten eine unwirkliche Athmosphaere. Sie waren die einzigen Gaeste. Nachdem sie sich auf den harten Baenken niedergelassen hatten, loeste sich eine Bedienung von der Wand, Bedienung ist das falsche Wort, er sah wie ein jugendlicher Ausreisser aus, mit fettigen Haaren und abgewetzten Lederklamotten, und fragte unwirsch, was sie haben wollten. - Bier und Cola und ja-auch Wasser, waere da. Werner sah sich liebevoll um. In einer Ecke stand unauffaellig ein alter Billardtisch, selbst wenn er gewollt haette, er waere gegen die beiden riesigen, massivhoelzernen Langtische nicht angekommen, die den Raum fast vollstaendig ausfuellten, und an denen man sich wie bei einer Hochzeitsgesellschaft fuehlte, oder wie in einer Schiffsmesse, wenn das entsprechende Publikum dagewesen waere. Es war ein notorisches Problem dieses Ladens, dass die meisten seine Unwirklichkeit fuer Unwirtlichkeit nahmen und lieber woanders hingingen. Einmal hatte er sonntag morgens hier gesessen, beim grossen Suedfenster, und einen tollen Blick ueber den Fischmarkt gehabt. Die Elbe, die Kais, kreischende Haendler, welche Fische, Bananen, Yucca-Palmen im Dutzend verschleuderten, das Gewusel der Massen unter schnellen bleischweren Wolken, lange Schlangen aus Menschenkoepfen, sich in entgegengesetzte Richtungen zwaengend. Und dann die Augen zurueck zum Bier gedreht, Entspannung pur war das gewesen, und nicht der einzige Grund, warum er den Landen so mochte. "Ich glaube, wir haben uns heute ganz gut geschlagen", sagte er zufrieden. "Und was fuer Gesichter die gezogen haben, als Ali ihnen die Meinung gegeigt hat." Und als er damit hauptsaechlich Schweigen erntete, wechselte er ploetzlich das Thema: "Im Spiegel bringen sie momentan eine Artikelserie ueber die deutsche Einheit und die ganzen Fragen, die damit zusammenhaengen." "Hab ich gesehen", erwiderte Ali. "Und nicht nur ueber die Geschichte seit 1870/71, sondern sie spekulieren auch ueber die 'deutsche Frage', ob ohne Adenauer die Teilung haette vermieden werden koennen, und wie es sein wird, wenn irgendwann die Wiedervereinigung kommt." "Das waere fuer beide Seiten mit Sicherheit ein wahrer Kulturschock", sagte Werner. "Die DDRler kennen uns nur aus dem Fernsehen und aus Omis Erzaehlungen, und wir wissen noch weniger ueber sie. Aber interessant ist die Vorstellung schon, und die Frage, wie die Politik in Europa aussaehe ..." "Sonderbare Debatten werden hier gefuehrt", dachte Richard schlecht gelaunt, als Ali nachlegte und lang und breit seine diesbezueglichen Ansichten zum besten gab. 'Wiedervereinigung', das Thema kam zuletzt in der Schule vor, sonst interessierte es doch keinen Arsch. Seine Deutschlehrerin ja, die hatte darauf herumgeritten, irgendwie klar, dass sie das Thema beruehrte, sie kam aus dem Osten; und auch wieder nicht klar, denn irgendwann musste man die Vergangenheit ruhen lassen. Sie war voller Ressentiments gewesen, und er hatte sich bei ihr mit seinen Kommentaren oefters unbeliebt gemacht, als er zum Beispiel einwarf, es bedeute ihm wenig, dass da Deutsche hinter der Mauer lebten, von ihm aus koennten es ruhig Chinesen sein. Er hatte das ganz unbefangen vorgebracht, unschuldig und ohne Hintergedanken, ohne Ressentiment eben, er hatte nur hervorheben wollen, fuer ihn gab es keine besonderen Verbindungen nach drueben, Deutsche und Chinesen, das waren alles Menschen, wozu einen Unterschied machen? Da man im Augenblick schlecht mit ihnen kommunizieren konnte, orientierte man sich doch sowieso nach Westen, nach Frankreich und England. Sie war fassunglos gewesen, mit ihren ueber 40 und Haardutt und Germanistinnengetue, konnte nicht verstehen, dass ihm jedes Nationalgefuehl abging und jegliches Interesse an Ostdeutschland und seiner Literatur, machte auch gar keinen Versuch, es zu verstehen, fuer sie war sein Betragen ein Ausdruck lumpiger Jugendgesinnung, die heutzutage allzu oft vorkam und leider nicht bestraft wurde, was sollte aus Deutschland nur werden? In der Lehrerkonferenz hatte sie sich darueber aufgeregt, und damit war er bei gewissen Leuten schlecht angeschrieben, wenn auch nicht bei allen, deren Verwandtschaft im Osten wohnte, mit seiner Geschichtslehrerin aus Leipzig, ueber 40 und Haardutt auch sie, kam er weiterhin bestens zurecht. Und von den anwesenden Einheimischen hatte manch einer gedacht, der Junge hat nicht ganz unrecht, die Ostdeutschen und Fluechtlinge gehen mir schon lange auf den Zeiger, machen sich breit hier, kassieren Entschaedigungen und Ausgleichszahlungen ... kann Kollegin Stroeter nicht einfach die Klappe halten? - "Wie soll das jemals laufen, Wiedervereinigung?" fragte er provozierend. "Das ist doch eine reine Phantomdebatte. Oder meint ihr, die Russen geben ihr Faustpfand so leicht aus der Hand?" "Aber es ist doch wichtig, zu wissen, was aus uns Deutschen und unserem Land werden soll, wenn sich die Russen eines Tages zurueckziehen", sagte Ali. "Schau dir zum Beispiel den Nahen Osten an. Die Palaestinenser wuessten auch gern, wann sie ihr Land wiederbekommen. Aber da sind Amis und Israelis vor; und genau darum gibt es dort die extremen Spannungen." "Mein Land, dein Land", aeffte ihn Richard nach, "ich gebe zu, in Nahost, das ist eine schwierige Situationen. Woimmer Voelker verschiedener Sprache und Herkunft allzu nah zusammenhocken, wird es irgendwann knallen, und wenn es erst mal Tote gegeben hat, waechst der Hass wie eine Lawine, man will auch Tote bei den Anderen sehen, das ist wie Blutrache. Das Hauptproblem sind immer die kulturellen und sprachlichen Unterschiede. Innerhalb eines Volkes stiftet Sprache Gemeinsamkeiten, nach aussen aber schliesst sie aus, aehnlich wie nationale Institutionen, deren Dienste nur Staatsangehoerigen zur Verfuegung stehen (und diesen das Gefuehl geben, dazuzugehoeren), und solche Ausgrenzung fuehrt ueber kurz oder lang zu Spannungen und letztlich zu Kriegen. Das kann sehr schnell gehen, oder sich ueber viele Jahre entwickeln, durchaus auch nach Jahrzehnten friedlichen Zusammenlebens. Es braucht nur mal eine Generation nicht aufpassen, einen unduldsamen Ton anschlagen ... eines Tages ist es soweit. Die einzig echte und radikale Loesung, die ich sehe, ist schnellstmoeglich eine Weltkultur zu errichten, und zwar erstens dadurch, dass sich alle Rassen soweit als moeglich vermischen, so dass sie sich rein aeusserlich nicht mehr unterscheiden, und zweitens durch eine Universalsprache und gemeinsame, globale Institutionen. Der Vorschlag klingt vielleicht utopisch, und ist es in gewisser Weise auch, gerade bei Voelkern, die sich spinnefeind sind, bei denen muesste man ja zuerst ansetzen ... doch einmal in die Tat umgesetzt wuerden diese Massnahmen jedem Rassismus und Nationalismus den Boden entziehen, und da wir uns geeinigt hatten, dass diese Beiden die uebelsten Krankheiten sind ..." "Du Richard, das kann nicht dein Ernst sein", sagte Werner, "damit wuerdest du regionale kulturelle Besonderheiten platt walzen, an deren Stelle wuerde sofort die amerikanische Einheitskultur treten, da kannst du Gift drauf nehmen. Die meisten Voelker sind aber zu recht stolz auf ihre Kultur. Ich finde, man muss das Fremde zulassen und foerdern, als Quelle der Vielfalt. Ein Universalismus, der mit der Dampfwalze alles in den westlichen Waren- und Abfall-kreislauf hineinpresst, kann nicht die Alternative sein." "Das ist schon richtig. Einerseits. Aber die Kehrseite dieser Medaille ist mir zu destruktiv. Oft ist es schwierig, Kulturstolz und Nationalchauvinismus zu trennen, daher sage ich, man muss die Nachteile des Egalitarismus hinnehmen, was nuetzt den Basken ihre Kultur, wenn sie auf die Dauer einen hohen Blutzoll fordert? Und wenn im Gegenzug auch die Spanier zugunsten der Weltkultur verzichten, ist das fuer die Basken vielleicht ein Argument. Ich wuerde sogar soweit gehen", fuhr er froehlich fort, "Ehen innerhalb einer Volksgruppe ganz zu verbieten. Ich fordere die totale Durchmischung, nur noch israelisch-palaestinensische Mischehen, nur noch Weisse und Schwarze oder Gelbe duerfen es miteinander treiben." "So eine Quatsch habe ich noch nicht gehoert", liess sich Ali vernehmen. Er spuerte instinktiv, dass Richards latente Aggressionen auf ihn abzielten. "Wieso denn?" Bevor jemand darauf antworten konnte, schaltete Laura sich ein und versuchte, das Thema zu wechseln; sie hatte stark das Gefuehl, dass ein Streit im Anzug war, und ausserdem zu dieser Art von Problemen nicht viel zu sagen, das Politisieren lag ihr ziemlich fern. "Ellen und Martin haben sich endgueltig getrennt", sagte sie, "Ellen ist vorige Woche ausgezogen und seitdem bei uns nicht mehr aufgetaucht. Sie hat ganz ploetzlich ein Zimmer gefunden, in irgendeiner WG beim Rothenbaum; ich glaube, der eine Typ hat einen Plattenladen oder eine Diskothek oder sowas, jedenfalls keine Studenten, aber sie hat nicht viel erzaehlt, und dann war sie auch schon weg." "Das war laengst faellig", erklaerte Ali befriedigt, "mich hat sowieso gewundert, wie die beiden es noch zusammen ausgehalten haben." Richard dagegen war ziemlich ueberrascht. Martin hatte ihm von Ellens Auszug nichts erzaehlt. "Ich dachte, sie haetten sich wieder zusammengerauft", entschluepfte es ihm. Dann sagte er sich, letztendlich wundern konnte einen das nicht, Ellen war weit davon entfernt gewesen, sich neu in ihn zu verlieben; wenn man die Beiden in der Oeffentlichkeit traf, hatte man schnell gemerkt, was ablief und wie sie sich nach anderen Typen umdrehte. Und wenn nichts besseres zur Hand war, hatte sie sogar Richard angemacht, einmal abends, als sie zu dritt in Martins Zimmer sassen, war sie in eine ganz ausgelassene Stimmung verfallen, hatte angefangen, mit ihm herumzualbern und ihm sein Schluesselbund weggenommen, "Huch, deine wertvollen Schluessel" hatte sie gerufen und das Bund in der Luft herumgeschwenkt, und er war darauf eingegangen, ganz harmlos, war hinter ihr hergelaufen, hatte sie in die Ecke gedraengt und es ihr keuchend aus den Fingern gewunden; und ploetzlich gemerkt, da war ein sexuelles Moment, in ihren Griffen und Bewegungen, ihrem Quiecken und Piepsen, und besonders, als sie versuchte, es ihm wieder aus der Hosentasche zu ziehen, wo er es sicher deponiert zu haben meinte, und sich auf seinen Schoss setzte, da hatte er ihre Schenkel gespuert (mein-lieber-Schwan) und ihr festes Haar hatte ihm im Gesicht gehangen, da haette man schwach werden koennen, aber immerhin war Martin dabei, beobachtete irritiert das Gebalge, und das turnte voll ab, Richard wollte das nicht, er wusste, das waere das Ende ihrer Freundschaft gewesen. Also hatte er sie abgebuegelt, im wahrsten Sinne, barsch beiseite geschoben, eine verschlossene Miene aufgesetzt und sich so hinplatziert, dass es ihr schwer gefallen waere, ihm nochmal zu nahe zu kommen. Uebrigens hatte sie es frueher schon mal ausprobiert, und da war es genauso ausgegangen, eine wuetende Ellen und zwei frustrierte Jungen, die aus derlei Situationen nichts zu machen wussten. "Anscheinend sind wie verklemmter als andere Leute", dachte Richard und betrachtete Ali, der ihm hier in der Kneipe gegenuebersass und sichtlich auflebte, und wusste nicht, ob dies ein Vor- oder Nachteil war. Auf jeden Fall war es nervig, mit einem wie Ali zusammenzuleben, der grosse politische Reden schwang und sich ansonsten skrupellos nahm, was er haben wollte; und auf einmal meinte Richard, sich in der Klopstockterasse nicht mehr wohlzufuehlen, und dachte, "vielleicht waer's doch ganz nett, mit einer kleineren WG bei der Sternschanze zu wohnen", besonders wenn Ali seine Ankuendigung wahrmachte, nach Berlin zu ziehen, wo angeblich alles viel besser war. "Mit Birgitta und Nemsi, das ist auch vorbei", sagte er eben zu Laura. "Man hat es kommen sehen, bei manchen Beziehungen kommt die Trennung fuer Aussenstehende total ueberraschend, aber bei ihnen hat man es wirklich kommen sehen, wochenlang hat es sich hingezogen mit schlechter Stimmung und so, du weisst ja, wie Birgitta ist, wenn sie ihre Launen hat, und Nemsi erst, der ist fast ausgeflippt, weil er nicht mehr randurfte, ich meine, vorher war es so selbstverstaendlich fuer ihn, und ploetzlich aus, vorbei ... sicher hat sie von der OAA Instruktionen gekriegt! Ich weiss nicht, wie sie es geschafft hat, dass Nemsi zwischendrin nicht durchgedreht ist, denn man hat gespuert, der ist in der Lage und tut ihr was an, aber letztlich hat sie ihn gut unter Kontrolle gehalten, und ihn ganz kontrolliert dazu gebracht, dass er auszieht bei uns." "Ach, ich glaube, in Nemsi verschaetzt du dich", widersprach sie, "der ist nicht gewalttaetig, ein bisschen impulsiv vielleicht, kommt eben aus einer anderen Gegend, der Junge." "Naja, ist ja egal", gab Ali nach. "Ich bin trotz allem froh, dass er weg ist, mir war die ganze Situation nicht geheuer. Wenn man diese Geschichten ueber eifersuechtige Lover in der Zeitung liest ... oder wenn er sich selbst was getan haette, das waer genauso uebel gewesen." "Wieso eifersuechtig, Nemsi hatte doch gar keinen Grund, eifersuechtig zu sein, es ist doch niemand Anderer im Spiel." "Niemand ist gut", sagte Ali veraechtlich, "die OAA ist doch ein ganzer Haufen, die warten nur die Quarantaenezeit ab, bis sie sich ueber Birgitta hermachen. Was sie mir so erzaehlt hat, gehoert sie bei denen schon ziemlich dazu, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie rueberzieht, das hat sie ganz ungeniert zugegeben, teilweise packt sie schon ihre Sachen. Sie untersucht uebrigens die OAAler auf Geschlechtskrankheiten, Tripper, Filzlaeuse und sowas sind bei denen weit verbreitet, und nimmt soweit moeglich an deren Alltagsleben teil, das heisst wenn sie nicht an der Uni ist, und irgendwie, finde ich, zieht diese unsichere Situation unsere ganze WG in Mitleidenschaft, Brigitta ist ja kaum noch zu Hause, mich hat ueberhaupt gewundert, dass sie eben in der Seefahrtschule dabei war. - Sie und auch Vera, die kann man abschreiben fuer die Auseinandersetzung mit der Stadt, und Karsten sowieso. Da bleiben eigentlich nur noch wir drei, und du kannst dir ausrechnen, wie ernst man uns letztlich nehmen wird!" Richard hatte aufgehoert, der Unterhaltung zu folgen. Er blickte starr aus dem Fenster, auf das diffuse Streulicht einer abseits stehenden Strassenlaterne. "Hast du eigentlich noch was von Dieter gehoert", wandte er sich ploetzlich an Laura. "Nicht viel, ausser dass es ihm wesentlich besser geht", antwortete sie, "er meint, die Bayern seien anders als die Hamburger, negativ anders und positiv anders, und insgesamt kommt er ganz gut mit ihnen zurecht." "Birgitta hat uns schon mehrmals eingeladen, die OAA kennenzulernen." Werner grinste ironisch. "Ich glaube, sie hofft, noch den einen oder anderen fuer den Verein zu gewinnen. Besonders dich." "Mich, wieso mich?" lachte Richard irritiert. "Naja, zu dir hat sie in unserer WG den engsten Kontakt, und glaubt anscheinend, du waerst am ehesten OAA-faehig. Nicht jeder kann bei denen mitmachen, nur die Besten werden ausgewaehlt ..." "Also ich finde, hingehen koennen wir auf jeden Fall", sagte Ali munter, "da gibts bestimmt was zu lachen. Wenn ich mir vorstelle, wie alle ruecklings auf der Matraze liegen und auf Filzlaeuse untersucht werden ..." "Ich haette Lust, sie intellektuell so richtig auseinanderzunehmen", sagte Werner kernig, "bei Birgitta wage ich mich nicht soweit vor, ich habe zwar schon oefter angedeutet, was ich von der OAA halte, aber mich nie richtig mit ihr auseinandergesetzt." "Ich finde die Vorstellung, mit denen zu reden, eher langweilig", sagte Richard aus purer Opposition. Er war unzufrieden mit sich, dass er seine Gefuehle nicht auf die Reihe brachte, zu Dagmar, und auch Ellen betreffend; wenn er sie attraktiv fand, waere es nicht besser gewesen, sich auf sie einzulassen? Vor allem war er neidisch auf Ali, der von Ellen bekommen hatte, was er haben wollte. "Man muss ja nicht mit ihnen diskutieren, wenn man nicht will", sagte Laura. "Aber ich wuerde schon gern sehen, wie die leben, mit ihrer freien Liebe und so ..." "Naja, von mir aus, wenn's sein muss", sagte er knapp. Das Thema interessierte ihn absolut nicht. Er wollte sich lieber nochmal ueber Alis Platitueden aufregen. Er konnte es nicht leiden, wenn man die USA fuer alle Probleme der Welt verantwortlich machte. Der Vietnamkrieg, okay das war schlimm, keiner hatte sie gebeten, sich da einzumischen. Aber jetzt betrieben die Chinesen dort ihre Machtpolitik, oder versuchten es zumindest. Sowas konnte man Ali natuerlich nicht sagen, auf dem Auge war er blind. "Zum Beispiel, habt ihr letzten Sonntag 'Der laengste Tag' gesehen?", fragte er. "Die Landung der Allierten in der Normandie, die Strapazen und Opfer, bis sie die ersten Brueckenkoepfe geschlagen hatten." Der Film hatte ihn maechtig beeindruckt. "Die Amerikaner haben einiges in Kauf genommen, um mit den Nazis fertig zu werden. Viele ihrer Leute, meist junge Maenner in unserem Alter, sind dabei umgekommen. Ohne sie saessen wir heute womoeglich noch immer in der braunen Scheisse." "Das sind doch Propagandastreifen", zischte Ali, "teilweise vom CIA finanziert; und gezwungen hat man sie auch dazu, die haetten lieber in Oklahoma Schafe gezuechtet. Amerika fuerchtete, den europaeischen Markt zu verlieren, das ist der einzige Grund, warum es in den Krieg eingestiegen ist." "Ach komm", sagte Richard, "du machst es dir zu einfach, da war schon auch eine moralische Komponente dabei, aber mit dir kann man nicht diskutieren, du hast eine total verdrehte Weltsicht ..." Er wurde von einer sonderbaren Wut ergriffen, die gar nichts mit Politik zu tun hatte, sondern mit Alis ideologischer Rohheit, die eine Art Krankheit zu sein schien, welche auch etwas mit seiner Gefuehlswelt zu tun hatte, und mit seinen Weibergeschichten, und besonders mit Ellen, und mit einem Mal hatte Richard keine Lust mehr, sich gegenueber dem Hausgenossen zurueckzuhalten, er sprach nun mit verletzender Schaerfe, und wenn er sich rational auch nicht voellig im Klaren darueber war, so nahm er doch in Kauf, mit dieser unnachgiebigen Rede dem Andern gewissermassen offiziell die Freundschaft zu kuendigen. "Und uebrigens, dein ganzes Gequatsche stimmt einfach nicht ..." Und als sich auch Ali nicht zurueckhielt und mit gleicher Muenze heimzahlte, war ploetzlich eine Grenze ueberschritten, die ihre Freundschaft zerstoerte. "Mir reicht es jetzt, es hat keinen Sinn, mit dir zu reden", sagte Richard zuletzt. "Du bist der totale Ignorant." Er hatte Lust, einfach aufzustehen und wegzugehen. Dann dachte er, das wuerde nach Rueckzug und Niederlage aussehen, und blieb sitzen. "Wenn hier einer ignorant ist, dann du", schnauzte Ali zurueck. "Du gehst mir schon lange total auf die Nerven. Der ganze Schwachsinn, den immer von dir gibst ..." Er spuerte, dass er fuer Richard nichts positives mehr empfinden konnte, nie mehr, eigentlich war ihm dessen ganze Persoenlichkeit zuwider, von daher war es genau richtig, nach Berlin zu gehen, alle paar Jahre brauchte man einen Tapetenwechsel und neue Gesichter. "Hoert auf, euch anzumachen!" mischte sich Laura energisch ein, "koennen wir nicht das Thema wechseln? ... - Wie solls denn jetzt, nach der grossen Diskussionsveranstaltung, in der Klopstockterasse weitergehen? Ich habe nicht den Eindruck, dass ihr gegenueber der SAGA einen grossen Schritt vorangekommen seid." "Ach, ist mir doch egal", kam es gleichzeitig von den Streithaehnen; doch zum Glueck wurden jetzt alle vom lauten Quietschen der Eingangstuer abgelenkt, und als sie sich umwandten, stand Kalle hinter ihnen und sagte atemlos: "Hier seid ihr also ... ich habe euch in halb Altona gesucht ... Laura, hast du vergessen?, wir wollten heute abend zu den 'Stranglers' ins Logo." Jemand meinte zwar: "Komm setz dich erst mal", Kalle indes winkte ab, "das Konzert hat schon angefangen, es ist besser, wenn wir uns gleich auf den Weg machen". "Ok", Laura erhob sich schnell. "Hat jemand Lust mitzukommen?" Die Anderen schwiegen, von der Band hatten sie noch nie was gehoert. Richard dachte: "Wenn Ali mitgeht, habe ich sowieso keine Lust. Der aber sagte unerwartet: "Lieber nicht, ich bin im Moment knapp bei Kasse, wegen des neuen Plattenspielers." "Vielleicht", dachte Richard, "ist ihm der Streit mit mir an die Nieren gegangen", ohne dass ihn dieser Einfall sonderlich befriedigte. Das Logo lag an der Grindelallee und war erst vor kurzem eroeffnet worden. Als sie die Treppen der Bahnstation hochliefen, umfing sie die Helligkeit der Nacht, Strassenlaternen hoch wie Fernleitungsmasten, Neonreklame an blaetternden Fassaden und in barocken oder spartanischen Schaufenstern, blinkende Ampeln und silberfarbene Blechkisten, die mit aufgeblendeten Scheinwerfern ueber den vierspurigen Asphalt donnerten. Werners Gedanken schwenkten zu Ulla, mit der er sich an der Elbe getroffen hatte, er stellte sich vor, wie sie neben ihm her ging, und wie er sich Hoffnungen gemacht hatte (sehr kurzlebige Hoffnungen); nachdem sie nun solo war, hatte er geglaubt, koennte man sich oefter mit ihr treffen, schliesslich hatte er sich immer gut mit ihr unterhalten, solange sie und Otto ein Paar waren, sie war eine der wenigen Frauen, die mit seiner schweigsamen Art umgehen konnten. Doch der Spaziergang hatte nichts eingebracht, Werner war von falschen Erwartungen erfuellt, und sie noch immer von Enttaeuschung ueber die Abtreibung und ihre vermurkste Beziehung, so dass sie seine schuechternen Annaeherungsversuche kaum wahrnahm, und was sie davon wahrnahm, mit leichter Hand abwehrte, auch nach tausend frustrierenden Ottos wuerde sie sich nicht fuer einen wie Werner begeistern, zum Reden, ok, aber es war keine Erotik dabei, oder zuwenig, um gluecklich zu werden, so grausam es klang, aber sie fand, Werner war etwas fuer Frauen in der Menopause, und man fragte sich unwillkuerlich, wie seine Vorfahren es geschafft hatten, sich fortzupflanzen. So ungefaehr gingen ihre Gedanken; doch bei der Fortpflanzung blieben sie ohnmaechtig stehen. Neuerdings schafften es nicht mal mehr Casanovas wie Otto, sich fortzupflanzen. - Auch Richard achtete nicht auf die Anderen, er brauchte Zeit, um den Streit mit Ali zu verarbeiten. Einerseits, dachte er, was sollte es bringen, ausser Stress, auf Dauer im Clinch mit ihm zu liegen, andererseits wusste er nicht, ob sich so ein Konflikt, so ein betraechtlicher Schaden jemals beheben liess, der offenbar mit Martin zusammenhing, so enge Freunde waren sie, Martins Schmerzen waren wie seine Schmerzen und Martins Begehren sein Begehren, dass sich Alis (Ex-)Liebschaft mit Ellen massiv auf sein Verhaeltnis zu Richard auswirkte. In der Hafenkneipe hatte er soviel geredet ... jetzt aber ueberkam ihn ein seltsamer Impuls, ein Ekel vor dem dauernden Homo Politicus, welcher zu sein sie vorgaben, waehrend ihre Stammhirne von ganz anderen Impulsen gesteuert wurden. Real betrachtet waren ihre Diskussionen voellig ohne Bedeutung, wirkungslos, marginaler Kleinkram, nichts als Selbstbeweihraeucherung; an der Weltpolitik wuerden ein paar studentische Dampfplauderer nichts aendern. Denn was waren die wirklichen Fragen? - Eigentlich liess sich das unschwer beantworten, man konnte nachgerade eine Dringlichkeitsliste der wichtigsten Menschheitsprobleme aufstellen: Erstens, wie kamen die seltsamen und komplizierten Naturgesetze zustande, welche die Welt beherrschten, mit anderen Worten, wie kam eine Welt zustande, in der so komplexe Wesen wie die Fruchtfliege lebten. Wie liess sich zweitens erreichen, dass die Menschen ihre Unfreiheit abschuettelten und gluecklich wurden? Drittens, wie war Erkenntnis ueberhaupt moeglich, das heisst, abgesehen von der Intelligenz des guten Funktionierens, welche sich der Evolution verdankte? Und wie fand man viertens eine Frau fuers Leben, mit der man auch noch guten Sex haben konnte? und so weiter. Die Probleme 1 und 2 waren so wichtig wie unloesbar, Punkt 3 meinte er verstanden zu haben, und auch zu 4 musste eine Loesung existieren, wenn sie auch Hornochsen wie ihm nicht zugaenglich war. Mit keiner dieser Fragen beschaeftigte er sich konsequent genug, stattdessen vertat er sein Leben in Maschinenbauvorlesungen, und konnte letzlich nicht begruenden, warum er so eifrig weiterstudierte, ausser dass er Angst hatte, spaeter kein geregeltes Einkommen zu haben, wenn er sich berufsmaessig mit Philosophie beschaeftigte; aber vermutlich ging es Vielen so, die Meisten arbeiteten nicht zum Vergnuegen, so war es immer gewesen, es gab die Freizeit, da waren die Gedanken frei, und es gab den Job, mit dem man sein Geld verdiente, und wo man keine Fragen stellte. Bei Problem 1 war auch schlicht unvorstellbar, wie es geloest werden konnte. Gewiss bestand die Antwort nicht darin, noch ein weiteres Naturgesetz aufzustellen, wie weltumspannend die Formel auch sein mochte; denn die eine Frage wuerde immer bestehen bleiben: was war die Substanz, die die Welt zu dem machte, was sie war, die sie gerade so und nicht anders erscheinen liess? Die Antwort musste ausserhalb der Wissenschaft liegen, da war er sicher, mit all ihren Anstrengungen und riesigen Apparaten wuerde keine kuenftige Physik sie je finden. Doch in welcher Richtung er auch nachdachte, ihm fiel nichts ein, was darauf passen wollte. Waren die Naturgesetze reiner Zufall oder liessen sie sich aus immer fundamentaleren Prinzipien ableiten, wie meist behauptet wurde, er wusste es nicht. Jedenfalls waren die Erscheinungen zufaellig, als Folgen sich manifestierend, auf Stufen sich stabilisierend, und oftmals das reine Chaos. Doch was waren die Ursachen? - Es gab Wissenschaftler, die davon ausgingen, dass die Welt, als sie beim Urknall anfing, wie ein ausgefrorener Kristall in rein zufaelliger Weise erstarrt war, und dass sich diese Zufaelligkeit auch auf ihre Gesetze und Konstanten erstreckte. Wenn aber selbst die Naturgesetze Zufall waren, was fuer einen Sinn (ausser dem ingenieurmaessigen) machte es dann, sich mit ihnen zu beschaeftigen, dann waren Maschinenbau (und Mathematik und derjenige Teil der Philosophie, welcher sich mit den Grundlagen des Denkens und nicht der Materie beschaeftigten) die weiseren Wissenschaften als Physik oder Biologie. Genauso gut war denkbar, dass hinter der bis dato wahrgenommenen Welt noch viele Schichten von Phaenomenen darauf warteten, erkannt zu werden, derart, dass die bekannten Naturgesetze nur effektive Theorien waren, und ihre Kopplungen gar keine fundamentalen Parameter, dass sogar scheinbar fundamentale, feste Groessen wie die Lichtgeschwindigkeit und das Planksche Wirkungsquantum bei tieferer Einsicht abgeleitet erschienen, als blosse phaenomenologische Konsequenz viel grundlegenderer Zusammenhaenge ..., und vielleicht waren sie gar keine Konstanten, sondern zeitlich oder sonstwie variabel. Auch damit verloren die Fortschritte der Physik und Chemie und schon gar Biologie an Gewicht, waren hoechstens im humanozentrischen Weltbild von Bedeutung. Was besagte es schon, dass und inwieweit sich die Gene des Lebens auf der Erde allesamt ziemlich glichen? Doch nur, dass sich auf diesem einen Planten Terra im wesentlichen ein einziger Bauplan durchgesetzt hatte. ... Und Ziel 2? Wahrscheinlich war es darum so schwer zu erreichen, weil die Vernunft der Freiheit und des Glueckes der Logik des Lebens und den Gesetzen der Natur voellig zuwiderlief! Mehr musste man dazu nicht sagen. - Das 'Logo' war ein ziemlich grosser Laden, und nicht nur durch seine Beliebtheit das ganze Gegenteil der Hafenkneipe. Ein ohrenbetaeubender Laerm rockte ihnen entgegen und im Innern war es gerammelt voll, nur Buegelbretter haetten sich ohne Blessuren durch die Gaenge gezwaengt. An den Waenden hingen Plakate mit Konzerthinweisen und Poster von Pop-Ikonen, Zigarettenrauch waberte ziellos umher und gelbweisses Licht erleuchtete die schwitzenden Gesichter der Zuhoerer. Wer zeitig gekommen war, sass an einem der wenigen Tische, die auf runden Sockeln erratisch in der niedrigen Halle verteilt waren. Ob das von Vorteil war, wuerde sich erst erweisen, denn inzwischen war es so voll, dass die Stehenden gegen alle Tische und Stuehle drueckten und den Sitzenden die Sicht nahmen. Auf dem Podium die Band, allesamt aufrechte Recken des neuen Zeitalters, die mechanisch ihre Instrumente bearbeiteten. Der Saenger und Frontmann, ein hagerer Endzwanziger, der dem Publikum am naechsten stand, war ein besonders hervorstechender Vertreter dieser Gattung. Mit hocherhobenem Kopf, gespreizten Beinen und weit vorgeschobenem Becken roechelte er ins Mikro, waehrend seine Absaetze wild auf den Boden einschlugen, und strahlte dabei eine unwahrscheinliche koerperliche Praesenz aus. Seine verhaermten Zuege erinnerten Richard an Mutzel - den alten Kommilitonen, mit dem er oft in der S-Bahn gesessen, der aber sein Studium abgebrochen hatte und jetzt arbeitslos war und beilaeufig mit Antiquitaeten dealte, und mit dem er sich gelegentlich zum Bier in der Kneipe traf, besonders seitdem seine unentschlossene Freundin ihn endgueltig sitzengelassen hatte (vielleicht ueberlegte sie es sich, hoffte er immer noch, falls es mit ihrem jetzigen Typ nicht klappte, jedenfalls war er bereit, sie jederzeit wieder aufzunehmen. Ueber so viel Liebe konnte Richard nur staunen) - und hatte doch unvergleichlich mehr Kraft in den Augen, seiner Stimme und in allen Bewegungen, im Vergleich dazu war Mutzel ein mueder, verschlafener, im Meer der Zeit treibender Gammler. Wenn sie zusammen waren, redeten sie selten ueber Politik, dafuer interessierte Mutzel sich nicht, meist sponnen sie Seemannsgarn ueber die Moeglichkeiten moderner Technik, nahmen sich vor, eine Firma zu gruenden, sobald Richard mit dem Studium fertig war, fuer den Bau von Raketen, mit intelligenten, neuartigen Antrieben, Photonentriebwerke und so, die sie von irgendeiner Wueste ins All schiessen wuerden, mit einem Oelscheich als Sponsor, der genauso raketenverrueckt war wie sie. Und ihre Augen glaenzten, nur weg von dem ewigen Hamburger Allerlei, waehrend sie den Faden weiterspannen, Raketen fuer beliebige Zwecke, fuer Nutzlasten wie Fernsehsatelliten, zum Andocken an Raumstationen, und auch fuer richtige Weltraumfluege zu fremden Sternen, ohne Widerkehr, fuer alle, die vom Leben auf der Erde die Nase gestrichen voll hatten. - Die Musik pumpte den Raum wie einen Luftballon voll (ohne doch Richard sonderlich zu beeindrucken). Trotzdem trat er vorsichtig naeher an die Tribuene heran, bis er sich kaum mehr ruehren konnte, reglos und leicht gekruemmt stand er da, als ploetzlich, waehrend eines Gitarren-solos (und spaeter noch einmal), der Saenger die Lider hob und ihre Blicke sich kreuzten, und seltsam, einen intensiveren Augenkontakt hatte Richard noch nie erlebt, es musste wohl an der Art und Ausstrahlung und dem Antglitz des Anderen liegen, intim geradezu war dieser Kontakt, wie eine Beruehrung an einer empfindlichen Koerperstelle (ja-das waren sie, die natuerlichen Fuehrer und Vorbilder der jungen Generation!), und zugleich wie eine Erinnerung an ein schoenes Erlebnis, das man mit ihm teilte, oder an einen gemeinsamen Traum, es war, als stuenden sie beide auf Bergesgipfeln und wuerden sich ueber tiefe Taeler hinweg direkt ins Auge sehen. Doch Richard erkannte schmerzlich, das Besondere war nicht in ihm, sondern in dem Anderen, der Andere stand im Rampenlicht, waehrend seine eigene Existenz und Zukunft im Schatten lag, und ploetzlich ging ihm ein grelles Licht auf, denn er begriff mit aller Deutlichkeit, dass er die erfundene Kunstfigur eines Unbekannten war, eine ferngesteuerte Marionette mit mediokren Eigenschaften, schwaechlich und unentschlossen, und nur dazu da, die Beschraenktheit des menschlichen Daseins vorzufuehren.