November 1975 Monate spaeter, am Ende des Sommers, hatten sie ihre Zeit hinter sich. Wie das so ist mit manchen Liebesbeziehungen: sie sind endlich und leben von den Hoehepunkten der ersten Wochen, die er gluehend-erregt durchlebte, auch von ihr zwar genossen, doch mit erfahren-feinsinniger Reserve. ... nicht bezueglich der Leidenschaft - es handelte sich um eine vernunftmaessige Skepsis wegen des Altersunterschiedes, sie schloss aus seinem sich auf die verschiedensten Lebensbereiche erstreckenden, jungenhaft ueberquellenden Enthusiasmus, dass er zu unreif sei und sie als fast Dreissigjaehrige unmoeglich mit ihm zusammen bleiben konnte. Es hatte die ueblichen Darbietungen gegeben, an den langen Abenden jenes Sommers, kurze Spaziergaenge die Elbe entlang, wenn sie mittags frei hatten, laengere an den Abenden (Einmal, nach einem Regen, lag ein riesiger Regenbogen ueber den Industrieanlagen am jenseitigen Ufer, der vollkommene Halbkreis. Unweit der Koehlbrandbruecke ueber einem fern-winzigen Schlot aufsteigend, ueberragte er alles, was Menschen geschaffen hatten, und veroedete im der noerdlichen Heide), stuermische Kuesse in der Daemmerung, er hatte ihren nachgiebigen Koerper abgetastet und sich entspannt und unbeschwert gefuehlt wie nie zuvor im Leben. Es schien keine Grenze ihres Entgegenkommens zu geben, und meist waren sie nicht weit gekommen, denn wenn sie engumschlungen weitergingen, konnten sie bald nicht anders, als umzudrehen und schnellstens nach Hause zu stolpern, den Elbpfad entlang und schliesslich hinauf zur Klopstockterasse in seine Kammer, wo sie keuchend kopulierten. Beim ersten Rendezvous war es noch ziemlich steif zugegangen, sie hatte wenig Zeit gehabt, und da befuerchtete er, sie wuerde ihm wieder entgleiten, und er war vor der zweiten Verabredung noch aufgeregter und konfuser gewesen und hatte sich auf nichts konzentrieren koennen; doch dann war sie gekommen und hatte ohne grosses Geplaenkel mit ihm geschlafen und so alle Schleusen geoeffnet, und von da trafen sie sich haeufiger, abwechselnd bei ihm und bei ihr. So war es gewesen, immer wieder hatten sie sich getroffen, und von ihm aus haette es immer so weiter gehen koennen. Er betrachtete sie eigentlich als seine feste Freundin, obwohl sie sich ihm oefters entzog und ihre eigenen Wege ging. In ihrer WG waren die meisten aelter als er, und entsprechend fand er dort alles viel ordentlicher und reinlicher als zu Hause, wo mitunter das blanke Chaos regierte und zu selten saubergemacht wurde, und fuerchtete, sie koenne daran Anstoss nehmen, aber natuerlich sagte sie nichts, obwohl ihr der Dreck ganz schoen negativ auffiel, sie beschwerte sich nicht, kam gar nicht auf die Idee, ihn deswegen zu kritisieren, sie wusste, dass eine WG von 20jaehrigen gar nicht anders aussehen kann; wozu die ohnehin endliche Beziehung mit solchen Konflikten belasten? An ihrem Geburtstag lernte er ihre Mitbewohner gewissermassen offiziell kennen. Man hatte gemeinsam an einem langen, ordentlich gedeckten Tisch gesessen, und viel geredet, und im Nachhinein hielt er es fuer denkbar, ja sogar fuer wahrscheinlich, sein Verhalten - oder besser Nicht-verhalten - waehrend dieses Essens sei der Hauptanlass fuer das Scheitern der Beziehung gewesen. Er hatte sich nicht gerade danebenbenommen, beileibe nicht, aber die meiste Zeit vorsichtig geschwiegen, er wollte nichts falsch machen und ausserdem floessten ihm die Aelteren, meist Berufstaetigen einen nebuloesen Respekt ein. - Und das war ein Fehler gewesen, denn so hatten sich Ursulas Vorurteile in ihrer Freunde Augen bestaetigt, und auf den Stirnen hatte sie lesen koennen, was jedermann dachte. Sie hatte schon vorher gewusst, dass sie die Beziehung beenden musste, wenn sie nicht eines Tages, mit 40, allein dastehen wollte, mit nichts als der Erinnerung an einen unreifen Juengling, der sie bloss aufhielt und blamierte - und verlassen wuerde, sobald er eine Juengere fand. Nicht lange nach dem Geburtstag wars dann soweit, sie hatte ihn vor vollendete Tatsachen gestellt, ihm mitgeteilt, sie wolle sich nicht mehr mit ihm treffen, und nach einem kurzen "Warum?", worauf sie erwiderte, sie liebe ihn nicht, hatte er das scheinbar ganz cool weggesteckt und war sich hinterher vorgekommen wie ein Vertreter von Sauerbier, denn natuerlich hatte ihn das umgehauen, Stolz und Ego verletzt, und tagelang hatte er tief in den dunkelsten Eingeweiden seiner Seele laboriert, einsam und darmseelenkrank. - Doch er war jung und stark und relativ schnell wieder auf die Fuesse gekommen, er wusste oder ahnte, dass so verlassen zu werden nichts Ungewoehnliches ist und ihm in Zukunft noch haeufiger zustossen konnte. Das Thema uebrigens, wodurch sie sich kennengelernt hatten, die drohende Kuendigung, war waehrend der ganzen Zeit kaum beruehrt worden, Ursula hatte angeblich nichts Neues in Erfahrung bringen koennen, entweder man hatte sich hoeheren Ortes eines besseren besonnen, ohne die Sanierungsabteilung darueber zu informieren, oder einfach eine besonders lange Sommerpause eingelegt, jedenfalls schien der ganze Vorgang im Bermudadreieck der Buerokratie verschwunden. Der WG war es recht so, fuer sie war am bequemsten, wenn alles beim Alten blieb und das Thema begraben wurde. An dem Morgen, von dem hier die Rede ist, lag die Trennung von Ursula schon Wochen zurueck. Der Sommer war definitiv vorbei und Richard hatte schlecht geschlafen, das kam in letzter Zeit haeufiger vor und war nicht weiter bemerkenswert, ausser dass man dadurch ein klein bisschen aggressiver und unruhiger war als sonst. Beim Aufstehen aergerte man sich ueber die Kaelte oder den Ofen, der nachts ausgegangen war oder ueber die vergammelten Matrazen, die auf dem Holzboden staendig verrutschten, so dass Ritzen entstanden, die einen nachts stoerten und albtraeumen liessen, nach aussen aber hatte er sich viel zu gut unter Kontrolle, um andere seinen Seelenzustand merken zu lassen, er wuerde gewiss einen perfekten Ingenieur und Krisenberater abgeben. Er hasste es, nach dem Aufwachen lange im Bett zuliegen, und war frueh aufgestanden und und in die Kueche getappt. Im Treppenhaus hatte er beobachtet, wie eine aus Veras Zimmer schluepfende maennliche Gestalt hurtig - und anscheinend erleichtert, nicht bemerkt zu werden - durch die Haustuer ins Morgengrauen verschwand, und das hatte ihm, wie er meinte, fuer heute schon wieder den Rest gegeben. Draussen fielen dicke Tropfen vom Himmel und Fensterreflexe von Regenschlieren wanderten als fluechtige Schatten auf den Fliesen umher, bis er resigniert das Licht anknipste. Das konnte noch heiter werden, wenn es in Brokdorf auch so regnete; der Wind wuerde das Wasser nur so heruntertreiben. Naja, Segelzeug wollte er sowieso mitnehmen, und Gummistiefel, aber es war trotzdem nicht angenehm, den ganzen Tag in Plastikklamotten durch den Regen zu rennen. Er deckte fuer alle den Tisch, und fing, als sich sonst niemand blicken liess, mit Essen an. Im Flur surrte das Telefon. Ausser ihm war anscheinend noch keiner wach, und im Obergeschoss hoerte man das Klingeln sowieso nicht richtig, weshalb sich die drei vom Parterre schon beschwert hatten, sie seien nicht die Telefonisten der Anderen, und zuweilen einen Anruf unterschlugen, "Ich glaube Richard ist nicht da", hiess es dann, weil man zu faul war, ihn von oben zu holen, und nur wenn der Anrufer energisch nachfragte "Glaubst du es oder weisst du es?" oder "Koenntest du nicht mal nachschauen. Es ist sehr dringend", wurde er doch endlich geholt. Er legte das Messer beiseite und schwang sich die Treppe hoch. Leicht atemlos nahm er den Hoerer ab. Eine Frau fragte nach Karsten, und entschuldigte sich sofort, Richard so frueh zu stoeren. Sie habe die Woche schon zweimal angerufen, doch Karsten sei jedesmal unterwegs gewesen, da habe sie es einmal fruehmorgens versuchen wollen. Sie besass eine wunderbar melodische Stimme, die den imaginaeren Raum hinter dem Telefon voellig ausfuellte. Richard war allein von der Stimme derart fasziniert, dass er seine Umgebung vergass und sich ganz in die Welt hinter dem Hoerer verlor und fast gefallen waere, als er sich auf den nicht am ueblichen Platz stehenden Hocker setzen wollte. Wenn Karsten ihr seine Telefonnummer gegeben hatte, musste sie obendrein huebsch sein. Es war unglaublich, aber Karsten wurde von wildfremden Frauen angesprochen, die sich mit ihm verabreden wollten, Richard hatte das selbst mal erlebt. Neid auf den Mitbewohner vermengte sich mit dem Wunsch, die Anruferin kennenzulernen. In Karstens Dunstkreis schwirrten beachtliche Mengen abgelegter Freundinnen herum, von denen sich leider noch nie eine fuer ihn interessiert hatte. Er gehoerte zu jenen Menschen, welchen sich die Welt weniger mit den Augen, sondern zuerst mit den Ohren erschliesst. Eine Stimme am Telefon konnte fuer ihn so verlockend sein wie fuer Andere ueppige Haare oder ein kaum verhuellter Busen. Den Meisten speichern sich wichtige Erlebnisse vornehmlich als optische Eindruecke, als eine Art verschwommenenes Negativ, das mit jedem Abruf im Gedaechtnis schwaecher und namentlich modifiziert erscheint, fuer ihn waren sie haeufig mit einer Melodie oder einer besonderen Geraeuschfolge verknuepft, und es kam oefters vor, dass er beim Spielen einer Musik im Radio, waehrend er vielleicht mit einer wichtigen dringenden Taetigkeit beschaeftigt war, ploetzlich aus dieser herausgerissen und in die phonetische Welt seiner Erinnerungen entfuehrt wurde. "Karsten ist leider nicht da", sagte er, wobei er versuchte, seiner Stimme durch moeglichst tiefes Ansetzen eine ebensolche Fuelle zu geben, was ihm jedoch wegen seiner heute grundsaetzlich schlechten Laune einigermassen misslang, es war mehr ein verkatertes Kraechzen, was aus seiner Kehle sich quaelte. In dem Schweigen am anderen Ende der Leitung spuerte er die Enttaeuschung und normalerweise haette er das Gespraech kurzangebunden beendet, wenn er nicht so besessen gewesen waere, von dieser Stimme noch mehr zu hoeren. Daher legte er nach: "Er ist seit gestern nachmittag wieder auf See, weisst du, er wird drei Monate weg sein, hat er dir das nicht erzaehlt?" "Nein, davon wusste ich nichts", gab sie kleinlaut zu, es fiel ihr schwer, sich damit abzufinden, wie bedeutungslos sie fuer Karsten war. Richard aber dachte, wenn Karsten seine ganzen Flammen immer ueber alles unterrichten wollte, was er vorhatte, haette er viel zu tun. Gespraechiger, als es seine Art war, fuehrte er aus: "Karsten studiert an der Seefahrtschule und da muessen die hoeheren Semester die Haelfte ihrer Zeit auf See verbringen. Er ist im Fruehjahr schon einmal drei Monate weggewesen, und jetzt wieder. Es ist auch nicht ohne weiteres moeglich, ihn auf dem Schulschiff zu erreichen, das heisst es ist schon moeglich, aber nur in wichtigen Faellen. Sonst musst du warten, bis er wieder da ist. Ich kann ihm einen Zettel hinlegen, dass du angerufen hast." "Nein, so wichtig ist es nicht, aber lege ihm bitte den Zettel hin, schreibe, dass Monika angerufen hat", erwiderte sie hoeflich. Mehr gab es von ihrer Seite nicht zu sagen, sie wollte zu dem Thema auch nichts mehr hoeren oder gar mit Richard plaudern, und verabschiedete sich eilig. Naja, dachte er abgeklaert, so waren sie, diese Tage, an denen man schlecht geschlafen hatte: nichts lief wie es sollte. Und als habe es die vom Telefonstimme aufgeruehrten Gefuehlswallungen plattweg nicht gegeben, fruehstueckte er ungeruehrt zu Ende. Soweit war er noch nicht, sich von einer kurzen Unterhaltung mit irgendeiner Tussi den Tag durcheinander bringen zu lassen. Das Leben ging weiter. Die Zeit schritt unaufhaltsam fort. Das Glueck liess sich zwar nicht festhalten, jedoch glueckliche Erlebnisse konnten dem Gedaechtnis auch nicht genommen werden. Fuer das Glueck bestand die Zeit aus Augenblicken, wie fuers Unglueck, fuer die Vernunft bestand es aus Ereignissen, welche nach einem ganz anderen Schema geordnet waren. So war die Zeit etwas merkwuerdig gedoppeltes (oder gemehrfachtes, wenn weitere Zustaende des Bewusstseins ins Spiel kamen), was immer die Naturwissenschaft ueber sie sagen mochte. Zwischendrin stellte er das Radio an, im Kauderwelsch der Sender fand er sich gut zurecht und hatte sofort 'Take another little piece of my heart' in den Boxen; Janis Joplins Tod jaehrte sich, ein grauenhafter, laecherlicher Herointod, weil sie nicht aufgepasst hatte und mit dem Zeug anfing, weil ihr alles egal war, oder weil sie meinte, sich alles leisten zu koennen. Frueher hatte er geglaubt, eine Musikerpersoenlichkeit lasse sich durch ihre Musik verstehen, doch angesichts dieses sinnlosen Todes daemmerte ihn das Gegenteil, dass sie ein Leben abseits aller Bilder gefuehrt haben musste, die das Publikum sich von ihr gemacht hatte, er haette sich nicht vorstellen koennen, wie sie das gefaehrliche Zeug spritzte. Bis heute wusste niemand, ob es Unfall oder Selbstmord gewesen war, bei Heroin liess sich schlechtweg nichts ausschliessen. Selbstmord, das waere noch happiger, und fuer Richard total unvorstellbar, dazu hing er viel zu sehr am Leben, mit oder ohne Freundin, und hatte vor'm Tod viel zu viel Angst; war aber unter Jugendlichen angeblich relativ weit verbreitet, obwohl und gluecklicherweise sein Bekanntenkreis auch davon bisher verschont blieb, er hatte nur einmal erlebt, als unbeteiligter Passant, wie Einer von einem Hochhaus gesprungen war, was heisst Hochhaus?, 8, 9 Stockwerke tief war er gefallen und ziemlich jung gewesen, der Mann, daran erinnerte er sich, und dass er dann weitergegangen war, da sich andere um ihn kuemmerten. Joplins Musik war fuer ihn ein besonderes Souvenir, er hatte ihre Platten mit Kornelia zusammen gehoert und getauscht, in seinen letzten Monaten in Tengern, waehrend der Abi-Zeit, und war sich mit ihr einig gewesen, dass sie tolle Musik machte, und spaeter im Laufe jenes langen und lange zurueckliegenden Jahres, als Kornelia in unerreichbare Ferne gerueckt war, weil sie zu ihrem Freund nach Giessen gezogen war, hatte er sie allein gehoert und noch spaeter sich der Reihe nach alle Platten von ihr gekauft - nicht der Musik sondern der Erinnerung wegen. - Nun spielten sie sie auf allen Kanaelen, als Requiem, denn als er weiterdrehte, um jenen Reminiszensen zu entrinnen, die er vor Jahr und Tag dann ad acta gelegt hatte, stiess er gleich wieder darauf, es war kein Entkommen; und da stellte er jaeh das Radio ab. Im Haus herrschte Stille, anscheinend hatte das Telefon keinen geweckt, oder (wahrscheinlicher!) wer davon wach geworden, hatte sich nochmal auf die Seite gerollt. Ihm sollte das recht sein, wenigstens hatte er so seine Ruhe. Nach dem Fruehstueck, auf dem Weg nach oben, oeffnete sich ploetzlich im Erdgeschoss Veras Tuer und sie stellte sich ihm entgegen, gleichsam schamlos und breitbeinig entschlossen wie ein Tribut fordernder Zoellner. "Kannst du mir eben mal helfen", forderte sie ohne Umschweife, "mein Bett ist zusammengekracht und ich weiss nicht, wie ich es wieder hinkriege." In dem geraeumigen Zimmer herrschte ein gelindes, nicht ganz ungeordnetes Chaos. Die rechte Seite wurde von einem weitflaechig zerwuehlten Bett und einem wuchtigen Kleiderschrank ausgefuellt, aus dessen geschlossenen Tueren helle Kleider wie Fetzen vorsahen. Ein Haufen schmutziger oder auch frischer Unterwaesche lag in der linken Ecke. Nicht weit davon standen zwei feingliedrige Sessel unter einer Jugendstillampe. (So unglaublich es klingt, trotz der staendigen Wechsel hingen in einzelnen Zimmern noch Luester (und manch anderes Geschirr) der Urbesitzer, handgeblasenes Glas, fuer manches waeren beim Troedler betraechtliche Summen faellig gewesen. Die WGler fanden es schick, sie haengenzulassen und waren ehrlich genug, sie beim Auszug nicht mitzunehmen.) Duestere Portraits bekannter Popmusiker schmueckten die Waende wie eine Ahnengalerie. Warum sie sich so was wohl aufhaengte? Er fand, bunte Plakate a la Warhol haetten besser zu ihr gepasst. (Aber was wusste er denn von ihr?) "Wahrscheinlich ist der Lattenrost durch den Rahmen gefallen und muss wieder hochgehievt werden, ich hatte das neulich schon mal," analysierte sie, sich halb nach unten beugend und auf die hintere Bettkante deutend. Er konnte nicht anders als an ihr herunterzugaffen, nie, dachte er, auch nicht bei Ursula, hatte er Schoeneres, Vollendeteres, Begehrenswerteres gesehen, es gab echt Unterschiede zwischen den Frauen, und dieser Anblick, wie sie so nah und zugleich unerreichbar vor ihm kniete, und mit welcher Gleichgueltigkeit und Gedankenlosigkeit er auch dargeboten wurde, wuerde ihn lebenslang verfolgen, ihn ueberfallen, manchmal beim Einschlafen und seltener bei Geschaeftssitzungen, und spaeter in der Einsamkeit des Ruhestandes, wie uns manche besonderen Eindruecke der Jugend eben verfolgen, an die wir uns bis ins hoechste Alter erinnern, waehrend die Namen und Gesichter unserer Kinder und Enkel uns laengst entfallen sind. Sie bemerkte sein Zoegern, seine wie tranigen Bewegungen, als er sich neben sie kniete, um das Bett zu untersuchen, liess sich von seiner doppelten Bereitwilligkeit sozusagen inspirieren (obwohl sie an diesem Morgen schon genug Inspiration gehabt hatte), waehrend er sich am Bett zu schaffen machte und die Matraze ganz zur Seite schob. "Hier an der Seite ist das Holz weggebrochen, das den Rost gehalten hat", knurrte er endlich, und sie kam heran, scheinbar um sich das Malheur anzusehen, in Wahrheit wollte sie mit ihrer Naehe nachhelfen, dass er es reparierte. "Wie kann sowas denn passieren", fragte sie naiv. "Eigentlich darf sowas nicht passieren", sagte er, "so stabil muss ein Bett sein, dass es den Lattenrost traegt, unter allen Umstaenden ... aber schau, das war ja hier nur geleimt, das musste irgendwann abgehen", und nach einer Pause: "Ich glaube, es macht keinen Sinn, es einfach wieder anzuleimen. Das beste ist, ich versuche, es mit einer extra Schraube festzumachen. Obwohl ... ich weiss nicht, ob die haelt, das Holz ist hier ja schon ziemlich bruechig ... ach ich werd's trotzdem versuchen. Wart mal kurz, ich hole n paar anstaendige Holzschrauben und meinen Werkzeugkasten." Damit war er verschwunden und kehrte kurz darauf mit einem armvoll Metall zurueck. Sie hatte sich einen Frotteemantel umgebunden, worin sie wesentlich ungefaehrlicher aussah, und half ihm, den Lattenrost ganz herauszuheben, und dann machte er sich an die Arbeit, wobei er sich fragte, warum ausgerechnet er und nicht einer ihrer Liebhaber zu dieser Arbeit herangezogen wurde. Hinterher meinte sie, ihn nicht ganz klanglos verabschieden zu koennen, er solle sich hinsetzen und "Ich mach uns mal einen Tee". Doch das Teetrinken gab ihm allzuviel Gelegenheit, sie anzustarren und sich zu ueberlegen, ob er nicht doch bei ihr landen koennte (wenn auch 'ueberlegen' das falsche Wort fuer diesen Vorgang ist, es war mehr ein Fordern seines Stammhirns, dem der Verstand folgen musste). Nachdem sie sich eine zeitlang in seiner Bewunderung gesonnt hatte, machte sie ihm aber unmissverstaendlich klar, dass er in dieser Hinsicht nichts zu erwarten hatte, indem sie offen ueber ihre Gefuehle und ihr Geschlechtsleben plauderte. "Vielen Dank, Richard", sagte sie, "ich weiss wirklich nicht, wie ich ohne Dich zurechtgekommen waere. Eigentlich haette Karsten das Bett reparieren muessen, der benutzt es schliesslich mit am haeufigsten. Aber du weisst ja, Karsten ist immer auf See ...", und nach einer wohlkalkulierten Pause, in der sie ihn emotionslos musterte, und noch bevor er irgendetwas dazu sagen konnte: "Er ist schon ein toller Mann, nicht nur vom Aussehen ... auch von seiner ganzen Art her. Ausserdem verstehen wir uns super im Bett, mit keinem anderen hat es mir soviel Spass gemacht. Leider ist er so oft unterwegs, dass man nicht viel von ihm hat und sich nach anderen Leuten umsehen muss, wenn man Zuwendung braucht oder sonstwie Probleme auftreten." Er hatte verstanden und nutzte desillusioniert die erste Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen (was ihr recht war). Als er in den Flur trat, fand er eine Ansichtskarte auf dem Boden. Die WG hatte keinen Briefkasten, sondern nur einen Schlitz in der Haustuer, und der eifrige (oder eilige) Bote feuerte die Post meist schwungvoll in die Diele, wo sie sich auf dem Teppich verstreute. Heute war nur die eine Karte gekommen, von Birgitta aus Afrika, mit einer Reihe kleiner Photos auf der Vorderseite, die wohl einen Eindruck von dem Land geben sollten, in Wahrheit aber ein Gefuehl abstrakter Wahllosigkeit hinterliessen (was sollte man mit den paar zusammengestoppelten Miniaturen von Voegeln, Nashoernern, Orchideen und Affenbrotbaeumen und Maerkten mit wuselnden Menschenmassen auch anfangen?), und auf der Rueckseite mit - wie er fand - Belanglosigkeiten vollgeschrieben, die wenn ueberhaupt etwas, eine erstaunliche Ausgeglichenheit oder sogar Ausgelassenheit der Verfasserin kundgaben, welche ihr in Hamburg gewoehnlich abgingen. Er ueberlegte sinnloserweise, auch Birgitta kaeme als Freundin in Frage, ihr schoen-lang-blondes Haar, das schmale feine Gesicht mit den grossen Augen wie auf Gemaelden alter Meister, wie oft hatte sie gesagt, dass sie ihn nett fand... - Aber war nicht jemanden 'nett finden' ungefaehr das Gegenteil von erotischer Anziehung? - Ausserdem hielt er sie fuer ein bisschen exzentrisch und wusste im Innersten, dass sie nicht zu ihm passte. Einmal hatten sie zusammen auf einer Verkehrsinsel gestanden und auf den Bus gewartet, waehrend Dutzende PKW's auf beiden Seiten vorbeidonnerten. Westwind brauste und ruettelte die Verkehrszeichen und wehte ihm ihr Haar ins Gesicht. Sie waren nur zufaellig gemeinsam aus der Tuer, und er erinnerte sich nicht, worueber sie gesprochen hatten, irgendetwas Bedeutungsloses, um die Warterei zu ueberbruecken. Und waehrend sie ihm zulaechelte, ohne dass er im entferntesten gewusst haette, was in ihr vorging, wahrscheinlich, dachte er jetzt bitter, hatte sie sich bestaetigt gefuehlt, was fuer ein unansehnlicher Typ er war, die Haare vom Wind nach hinten geweht betonte das Fliehende seiner Physiognomie, die Stirn, das Kinn, der allzu neugierige Zinken (in Wirklichkeit war sie mit den Gedanken bei Freunden, die sie treffen wollte), war ihm die naemliche Frage gekommen, wie es wohl waere, mit ihr zusammen zu sein, und er fixierte sie pruefend, doch als haette sie seine Idee erraten, gefror ploetzlich ihr Laecheln, und sie wandte sich ab, und gleich darauf und wie ein Echo der Abweisung war ein Bus gekommen und mit ihr verschwunden. - Er legte die Karte beiseite und schob die nutzlose Erinnerung in eines der hinteren Schliessfaecher seines Geistes. Genug Frust fuer heute; er wollte mit Frauen nichts mehr zu tun haben, Ablenkung war angesagt, und erstmal stand Einkaufen auf dem Programm, das wuerde ihn auf andere Gedanken bringen und war auch dringend noetig, wer weiss, wann sie von Brokdorf zurueckkamen; und Montag war Feiertag. Er holte den Mantel aus der Garderobe, steckte den abgegriffenen Geldbeutel achtlos in die Tasche und schlug die Haustuer hinter sich zu. Draussen warf der Herbst kuehle Nebeldecken ueber die Stadt, man konnte keine zwei Haeuser weit sehen. Wenigstens regnete es nicht mehr! Die Menschen in ihrer hektischen Betriebsamkeit liessen sich weder durch das eine noch durch das andere beirren, sobald er die Elbchaussee erreichte, brachen sie ueber ihn herein, und ihm blieb nichts anderes, als sich dem allgemeinen Zug anzuschliessen und seine Schritte zu beschleunigen. Ueberall waren Arbeiter beschaeftigt, Laub zusammenzuharken oder die Strasse aufzureissen oder Gerueste aufzustellen oder abzubauen, als sei die ganze Stadt in einen sonderbaren Taumel kollektiver Nervositaet verfallen, welche in der Naehe des neuen Supermarktes ihren Klimax erreichte. Dort war man dabei, einen Bueroturm zu renovieren, mehrere grosse Baugruben auszuheben und gleichzeitig ein baufaelliges Jugendstilhaus abzureissen, welches sich bereits gefaehrlich zur Seite neigte, so dass halbe Mauern und Holzbalken wie Waesche von den Seiten herunterhingen. Ein Crescendo Forte, ein Dreiklang von Saegen, Bohren und Presslufthammern erfuellte die Luft und zerfetzte jeden Gedanken. Er waere diesen bedrohlichen Ort des scheinbaren Chaos am liebsten geflohen, an dem machtvolle und wohldurchdachte Plaene am Werk waren, von visionaeren Politikern oder Managern ersonnen, von detailverliebten Architekten projektiert und gepuzzelt, damit auch jeder Sockel, jede Wand, noch jedes Schraeubchen zum Anderen passte, und alles so reibungsfrei als moeglich vonstatten ging, und in diesem Moment, in seiner augenblicklichen Verfassung konnte er sich nicht vorstellen, an solch kollektivem Wollen jemals beteiligt zu sein. Was bewegte die kleinen Raedchen im Getriebe, die Bauarbeiter, immer weiterzumachen, und die grossen Raeder, was bewegte die, nicht aufzuhoeren, bevor nicht alles reibungslos und wie ein Tischlein-deck-dich funktionierte? - Er wich einem grossraeumig rangierenden Bulldozer aus, der sich wie selbstverstaendlich auf dem Fussweg breitmachte, und erst als die Tuer des Supermarktes hinter ihm zuschwang, war er dem Laerm halbwegs entronnen. Man schien in eine andere Welt zu treten, aus Stahl und Licht und Glas ... und doch wars der Zwilling des ganzen Drecks da draussen. Denn wo gehobelt wird, da fallen Spaene, und erst am Ende, wenn die Architekten ihre letzten Pausen umgesetzt und alle Module zusammengefuegt hatten, wuerde ihr Wirken eine ebenso glueckliche Fuegung nehmen wie hier drinnen, das behaupteten sie zumindest, und wuerden zur naechsten Baugrube weiterziehen. Und die Arbeiter wuerden mitziehen, obwohl sie aelter wurden und muede und versuchten, aus dem System herauszukommen, indem sie umschulten und so frueh wie moeglich in Rente gingen. Ueber kurz oder lang wurden sie sowieso entlassen, weil es genuegend Juengere gab, und Willigere aus den Randlaendern des Wohlstandes, die weniger verlangten und mehr leisteten. Also scholl es auf den Baustellen in vielen Sprachen wie beim Turmbau zu Babel; und doch verstand man einander; nicht das Wort wies die Richtung, sondern das Geld. Das Geld aber war nicht nur ein Zahlungsmittel, welches komplizierte Tauschgeschaefte ersetzte und vereinfachte, oh nein, es war viel mehr, das sah man hier im Supermarkt, wo die Waren in langen Kolonnen wie eine schlachtbereite Armee auf nur ein Ziel ausgerichtet waren. In vorbildlicher Formation warteten die Getraenke, die Wasser, Limonaden, Biere und Spirituosen in der einen Reihe, in der naechsten Konserven, Essig, Oele, das Tierfutter, alles in masslosem Ueberfluss, es gab ein Bataillon Haushaltsgeraetschaften, ein Regiment fuer Drogeriebedarf, Kompanien, Brigaden, Schwadronen und Korps, und ganz hinten in einem Geviert warteten riesige surrende Kuehlaggregate wie weltmeerdurchfluegende Flugzeugtraeger (oder wenigstens wie brummende Bomber auf ihrer Startbahn), dass man sich zu ihnen geselle, und nur wenigen wurde das Herz kalt von all den toten Puten und Huehnern, die hier fuss-kopf-federn-los erstarrt und in Folie gepresst herumlagen, einmal das Leben gewesen (wenn auch in Mastfarmen), jetzt aber endgueltig auf ein oder zwei Eigenschaften reduziert, wieviel weisses Fleisch sie brachten und so weiter, auf dass sie sich messen liessen und abwiegen in Geld. Ein paar Zahlen und Streifen, englische, lateinische und vulgaeroekonomische Wortfragmente, mehr oder weniger poetische Verzehr- und Verwertungs-anweisungen, wolkig und knapp war die Sprache der Warenwelt, von jener der Werbung darin verschieden, dass sie ein letztes Fuenkchen Funktionalitaet zu enthalten hatte, die Ware selbst wie ein Schrei. - Warum regte er sich so auf? Wahrscheinlich war sein Genoele dem Frust mit Ursula zuzuschreiben; er war so sicher gewesen, mit ihr zusammenzubleiben, trotz aller Anzeichen, hatte sich das Ende nicht vorstellen koennen, er war doch ein ganz ansehnlicher Typ, das war seine Meinung gewesen, solange das Verhaeltnis anhielt, heute stellte sich das anders dar, als Irrglaube, heute war seine Maennlichkeit verletzt, er fuehlte sich ziemlich wertlos und unerotisch. "ACH SCHEISSE!!!", dachte er verzweifelt, und etwas scharfkantig Schleifendes fuhrwerkte in seinem Gehirn. - Doch flugs tauchte er unter dem Inferno hervor. "Vergiss sie!!" schnauzte er sich im Geiste an und machte sich lieber am Obststand zu schaffen. Hinter den Gemueseregalen, bei den Suessigkeiten im naechsten Gang hoerte er ploetzlich sprechen ganz rauh und kraechzend, als habe jemand ein Reibeisen verschluckt, das klang fast wie Dieter, und lachen, das konnte Otto sein, und dann hoerte er Britta rufen "Otto lass das, gib mir die Hanutas, ich hatte die ganze letzte Woche keine, du kannst doch nicht das ganze Fach ausraeumen, nur weil du mich aergern willst. Pass auf, gleich kommt der Geschaeftsfuehrer. Schau, wie die Kassiererinnen kucken." "Die kucken, weil du hier so einen Staub aufwirbelst", gluckste Otto, dann hoerte man ein Geraeusch wie steppende Sohlen, als liefe jemand geschwind hin und her, und Richard, der sich hatte davonschleichen wollen, weil er in seinem Unglueck die extrovertierte Meute nicht ertragen konnte, ueberlegte es sich, er wollte auch eine Packung Hanuta, schlenderte um die Ecke, und tat wie wenn nichts waere, der ganze Aerger mit Ursula nicht, schluckte seine schlechte Laune herunter und verwandelte sich im Nu in den frohgemuten Juengling, als der er gewoehnlich die Welt sah. Da standen die Freunde, Britta mit Otto balgend, der sich von ihr hatte fangen lassen, die Koerper spielerisch verschraenkt, als waeren sie eins in ihren schwarz silbergrau gestreiften Pullis, die Rechte hielt er nach oben gestreckt darin die begehrten Hanutas. Britta versuchte vergeblich, sie zu fassen zu kriegen und verkrallte sich immer wuetender in seine Arme. Dieter stand doesig daneben; haette selber gern mit ihr gerungen, sie an sich gedrueckt, nach Beinen, Ruecken, Taille und Huefte gefasst, ihren Atem gerochen. Doch solche Scherze fielen ihm im Umgang mit ihr niemals ein, wie auch?, wenn er jedesmal Angst hatte, es sich mit ihr zu verderben. Diese Zurueckhaltung war sicher ein Fehler, irgendetwas zu tun war besser als gar nichts zu tun. Doch zu ernsthaft war seine Zuneigung, und seine Wuensche standen wie Mauern zwischen ihm und jedem gelassenen Vorgehen. Sie umringten Richard, und wuergten derart seine schlechte Laune vollends ab, und verspruehten ueberschaeumende Jugend ueberall in den Laden und irritierten die Hausfrauen, waehrend er in ihrer Mitte seinen Einkaufswagen mehr oder weniger schweigend vor sich her schob. Unklar, ob sie sich seiner Malaise bewusst waren, Dieter gewiss, die Anderen kaum, aber egal, sie waren zum Einkaufen hier und zum Spassen aufgelegt; auch Dieter, nachdem das Objekt seiner Sehnsucht von Otto abgelassen hatte, bekanntlich war Otto gebunden, da konnte kaum-was passieren, Ulla passte schon auf, und mit Leuten zusammen einkaufen war auf jeden Fall besser als in der Klopstockterasse, wo sie allein und mit haengenden Koepfen losgingen. Er war zufrieden, jederzeit nach ihr schielen zu koennen, und schielte oft nach ihr, und wenn sie es bemerkte, spiegelte sie seinen Blick, ohne sich viel dabei zu denken, sie wohnte schon fuenf Monate bei ihnen und nie war er aufdringlich geworden wie andere Kerle. Sie war von widerspruechlichem Charakter, beinahe so sproede wie Birgitta und schien doch immerfort zaertlichkeitsversessen (wie er!), scharfsinnig, doch den Impulsen des Augenblicks folgend. Eigentlich haette sie blond sein muessen, ihre ganze Verwandtschaft war blond, ihre Haut hell wie Elfenbein und ihre Augen leuchteten strahlend wie sonnentrunkene Amethyste. Doch Haare und Brauen waren dunkel wie bei Italienerinnen, und oft verspruehte sie deren verwegene Lebenslust. Wenn Richard sie ansah, musste er unwillkuerlich an lichtgeflutete Haenge der Toskana und fruchtbare Weinberge denken. Er kannte sie recht gut, nicht nur von seinen zuletzt sporadischen Besuchen bei Dieter. Sie hatte vordem ein Verhaeltnis mit Ali gehabt und so haeufig in der Klopstockterasse uebernachtet, dass sie zu einer Art Dauerfreundin avancierte. Dann hatten die Treffen ploetzlich aufgehoert, ohne dass ein Aussenstehender jemals erfuhr, woran die Beziehung gescheitert war. Weibliche Haartrachten schienen ihm mit verschiedenen Zeitaltern assoziiert, langes (ungepflegtes oder auch glattes) Haar brachte er mit dem Mittelalter in Verbindung, stellte sich unwillkuerlich vor, wie solche Frauen auf einer alten von hohen Mauern umgebenden Burg verschiedenen Taetigkeiten des Naehens, Kochens oder Lastenschleppens nachgingen, oder als Burgfraeulein vor einem halb-blinden Spiegel sich kaemmten; schwere ungebaendigte Locken mit der viktorianischen Epoche, er dachte sich jene Gesichter in die dicken altersschwarzen Holzrahmen gefasst, die bei seinem Opa gehangen hatten und jetzt im Keller der Eltern verstaubten, Bilder von Gross-Kusinen und -Schwaegerinnen, welche alle die naemliche Haarpracht besassen (und trotz ihrer Schoenheit aus dem Bewusstsein seines Familienzweiges verschwunden waren, wahrscheinlich hatten sie laengst das zeitliche gesegnet, zumindest war ihre Schoenheit lange perdu). Britta dagegen verkoerperte die mediterrane Moderne, Monet und die farbigen Schnitte und Flaechen Picassos. Ihr Antglitz und Haar waren wie frei gezeichnet, gehorchten keinem Gesetz, und auch Geist und Verhalten lehnten sich nicht an die Vorgaben einer Muettergeneration an, sie schien ein ganz neuer Frauentyp, aus dem Fehlen von Zwaengen und Maengeln geboren. In Wahrheit war dies ein aeusserlicher, oberflaechlicher Eindruck. Sie neigte zur Schwermut (immer wenn sie keinen Liebhaber hatte), das begriff aber nur, wer sie naeher kannte, indem er zum Beispiel Tuer-an-Tuer mit ihr zusammenwohnte. Dieter hatte sich in sie verliebt, kaum dass sie eingezogen war, bei ihrer hektischen Suche nach einem neuen Freund hatte sie ihn bisher aber nicht ins Auge gefasst, hatte ihn schlicht uebersehen (wie man das Nahliegende uebersieht, wenn man den Blick verzweifelt in der Ferne herumirren laesst). Seit dem Ende ihrer letzten Beziehung war sie im Grunde todungluecklich. Der Werbekaufmann hatte in derselben Agentur gearbeitet, das war aber nicht das Problem, sie hatte ihn geliebt und bewundert fuer seine hemdsaermelige, grosspurige Art, fuer die Faeltchen in seinem stets gebraeunten Gesicht, seine Karriereaussichten, seinen Schlag bei Frauen, und war bei ihm eingezogen. Laenger mit ihm zusammen zu wohnen war aber unmoeglich, aus genau diesen Gruenden; er brachte es nur voruebergehend fertig, monogam zu bleiben, bloss eine Frau pro Saison, wenn sie auch huebsch und begehrenswert war: das fasste er als Zumutung auf, loeste wochenlange Depressionen aus, er liess sich gehen (gegen sie und im Job), und ganz zum Schluss, wenn er es nicht mehr aushielt, warf er sie aus der Wohnung. So war es auch Britta ergangen, ein schwer zu verwindender Schock. Sie meinte ihn noch immer zu lieben (weil wir dasjenige besonders begehren, was wir nicht bekommen koennen, und weil er saumaessig gut aussah), sie litt und fand erst nach Monaten ihr Gleichgewicht wieder, und es blieb eine grosse Narbe zurueck und die Erfahrung, dass man nicht alles bekommen kann, und unter den wenigen Maennern, die sie wirklich interessierten, viele nicht mit ihr konnten (und von den Andern, den Meisten, hatte sie nach der ersten Nacht genug), eine Narbe, die wir von jeder verlorenen Liebe und Hoffnung zurueckbehalten, die uns abgeklaerter macht und bedauernswert haerter und einen Schritt naeher an den Abgrund bringt und zu der Befuerchtung, dass wir dereinst nicht nur die eine, sondern alle Hoffnungen verloren haben werden, und zu der Frage, warum sollen wir leben. Sie gehoerte zu jenen Frauen, die alle Maenner verrueckt machen, wenn sie ihnen nur eine zehntel Sekunde zu lange ins Auge sehen, schon vor langer Zeit, spaetestens nach ihrem 16. Geburtstag, als sie herum experimentierte und nach intensiven Blickkontakten beim Busfahren bis in den Stadtpark verfolgt wurde, war sie vorsichtig geworden, und setzte ihre Waffe nur noch bei denen ein, auf die sie es tatsaechlich abgesehen hatte, alles andere fuehrte zu nicht endenden Schwierigkeiten, die hoffnungsfrohen Verehrer wieder abzuschuetteln. Um so mehr meinte sie Anspruch auf einen besonderen Partner zu haben, besonders attraktiv, erfolgreich und besonders in Wesensart und Veranlagung. Von allen Kandidaten schien der kreative Kaufmann ihre Ansprueche am ehesten zu erfuellem, oft dachte sie, die Trennung sei nur ein Missverstaendnis und eine Rueckkehr nicht ausgeschlossen, indem man ihn noch einmal betoerte. Aber der Arme stand sich selber im Weg. Ach, und ihr Herz wurde weit und klopfte bedenklich. Mit Otto immerhin konnte sie wunderbar bloedeln, er konnte nicht ernst sein. Wenn sie ihn irgendwas fragte, egal was es war, er wuerde den Kasper vorkehren, und die gewuenschte Auskunft nur indirekt geben, zog sie jedoch mit seinem Schabernack so in den Bann, dass man ihm unmoeglich boese sein konnte. Mittlerweile musste sie schon lachen, wenn er nur auftauchte, zwischen ihnen herrschte einfach eine positive Stimmung, eine starke Sympathie, Gewogenheit, Gefallen, wie immer man das nennen wollte, aus der sich bei Gelegenheit etwas machen liess, oder auch nicht, Otto hatte zu vielen Frauen solche Kontakte, im Moment nur keine Gelegenheit, sie zu nutzen. Er war sehr frueh aufgestanden, wie haeufig in letzter Zeit, weil er gelesen hatte, dass Charly Parker morgens um vier seine beruehmten Soli uebte, jawohl, auch Otto hatte Vorbilder, trotz aller Albernheiten und Verachtung von Vorbildern, Jazz war vielleicht das Einzige, woran wirklich sein Herz hing. Bei vier Uhr konnte er nicht mithalten, aber um fuenf war er heute auf den Beinen gewesen und um halb 6 in dem schalldichten Uebungsraum, den er sich mit befreundeten Musikern teilte. Hatte dann zwei Stunden Saxophon geuebt, bis ihm die Lunge aus dem Hals hing, und fuehlte sich wie Charly persoenlich, danach hungrig ins Casa gestuerzt, Kaffee und drei Broetchen bestellt und Zeitung gelesen, das Fruehstueck zwar teuer, Ulla wuerde garantiert schimpfen; wenn er abends ne Stunde laenger Taxi fuhr, hatte er das Geld aber locker wieder drin, heute war samstag. Otto war wie viele Witzbolde, ein hektisches, wuseliges Wiesel, aber auf Draht, und hatte, als Britta noch ihren verrutschten Pullover zurechtzog, ihre Hanutas laengst in den Wagen geschmissen, war unter linkischem Ausholen seiner langen Arme und geschmeidigem Beckenschwingen an der Regalwand entlang gefedert, und bei einem bunten Plakat stehengeblieben. "Schaut mal, hier gibt's Reis mit Gewuerzen und Trockengemuese, nach italienischer Rezeptur", rief er begeistert und hielt ihnen eine der bunten Tueten vor die Nase, die in mehr als dreifacher Groesse auf dem Plakat abgebildet waren. "Echt geil. Ich liebe Italien ... und hier hat man ganz Italien in einer Tuete" wiederholte er die Werbebotschaft. Und dann roch er an der verschweissten Plastiknaht und tat, als stroeme ihm betoerender Duft entgegen. "Otto", sagte Dieter vorwurfsvoll, "das ist doch ueberteuertes Zeug, mit dem sie die Hausfrauen ueber'n Tisch ziehen, vergleich doch mal mit dem Preis von normalem Reis hier ..." "Reispreis hin Preisreis her, da ist doch nur Reis drin, aber HIER ... liess selber", und in einem unnachahmlich hohen nasalen Singsang las er vor "Basilikum, Oregano, Zucchini, Artischocken, Aprikosen, ..." "Ich brauch unbedingt noch Salz", sagte Britta, die sich in den Streit nicht einmischen wollte, und verschwand in die entgegengesetzte Richtung. "Weisst du, wie viele Tueten wir davon kaufen muessten, um alle satt zu werden?" fragte Dieter. "Wir haben dann fuer nix anderes kein Geld mehr, kein Kaese, kein Fleisch und so weiter, und wollen doch jeden Tag was Warmes essen." "Dann muessen wir die Hanuta gleich wieder rausnehmen", sagte Otto, und eh man sichs versah, hatte er sie zurueck ins Regal gestellt (um sie gleich hinterher wieder in den Wagen zu werfen). "Wann wollt ihr denn was warmes essen? Ihr seid doch vor 3, 4 Uhr nachts garantiert nicht zurueck. Letztes Mal haben die Busse Stunden gebraucht, uns alle wieder aufzulesen, und dann lange im Stau gestanden, ich weiss es noch genau." "Um so hungriger werden wir sein, wenn wir heimkommen, von dem bisschen Feinschmeckerreiss wird doch keiner satt." "Aber ich will ihn unbedingt probieren, lass mich wenigstens eine kleine Packung kaufen. Britta", rief er mit sich festigender und nach oben geschraubter Stimme (da sie zurueckkam), "bitte bitte koenntest du den Reis fuer mich kochen, echt italienisch, ich lasse auch deine Hanutas liegen." "Ich such schon die ganze Zeit das Salz, wo ist hier bloss das Salz", stiess sie hervor, ohne ihn zu beachten, und taenzelte unruhig ein paar Schritte voraus, um sich dann wieder umzudrehen, "hat denn keiner das Salz gesehen, in dem ganzen Laden scheint es kein Salz zu geben". "Ich suche dir dein Salz, aber du musst mir versprechen, diesen Reis zu kochen. Abgemacht?" Sie nahm ihm die Packung aus der Hand. "Das ist ein Fertigprodukt, das kannst du auch selber, gehoert nicht viel dazu." "Ach Britta, du kochst immer so prima, du koenntest ...", doch er wurde in seinen Uebertreibungen und seiner gespielten Hilflosigkeit unterbrochen. Dieter war blitzschnell verschwunden und im Nu mit Salz zurueckgekehrt. "Wo hast du das denn gefunden?", fragte Britta erfreut. "Gleich hier auf der anderen Seite", nuschelte er zufrieden. Ihr einen Gefallen zu tun, war das Hoechste! Otto aber nutzte den Moment der Ablenkung, um seinen Reis in den Korb zu schmuggeln. "Lass mal sehen", und sie schob den Wagen in die angezeigte Richtung, und als sie vor dem Salzfach stand, suchte sie das allergroesste Paket und stellte es in den Wagen, Richard fand das reichlich seltsam, so viel Salz wurde nur feucht, doch die anderen schien das nicht zu interessieren, in der Lippmannstrasse wurde spontan und bedenkenlos eingekauft, auch ueber Ottos Reis musste Dieter schlussendlich hinwegsehen. Die drei waren indessen in alle Richtungen davongeflogen und suchten, was sie sonst noch in ihren Wagen packen konnten und auch Richard begann, den Rest seiner Liste abzuarbeiten, und als er bei den Milchflaschen ankam und sich drei davon einlud, sah er aus den Augenwinkeln, wie Otto an der Kaesetheke auf eine jungen Frau einredete. Er hielt unwillkuerlich inne, Fetzen wie "bei deiner Figur brauchst du doch keinen fettarmen Joghurt", drangen zu ihm herueber, und dann irgendein Knaller, der sie zum Quietschen brachte, und fortgesetztes Auf-sie-einreden, aber auch wenn er von dem Schmu mehr Einzelheiten mitbekommen haette, er haette es nicht wiedergeben koennen, es handelte sich gewissermassen um eine ganz andere Sprache, welcher er nicht maechtig war und niemals maechtig sein wuerde, wie wenn Otto aus einem fremden und Richard gaenzlich unbekannten Land stammte, wo man Frauen mit Woertern wie mit dem Lasso einfaengt und fuer einen Augenblick des Erkennens an sich bindet. Das Maedchen trug einen Dufflecoat und sah ziemlich uebernaechtigt aus, als sei sie nach einer deprimierenden Party zu frueh wach geworden; doch war sie jung, ihre Anziehungskraft litt nicht darunter. Otto amuesierte sie dermassen, dass sie halb meinte, im Supermarkt nachzuholen, was sie auf der Party verpasst hatte. Wie viele Frauen war sie ganz auf Empfang gepolt, Empfang seiner Erfahrenheit, seiner Spaesse und vielleicht seines Samens. Maenner wie Richard oder Dieter, die sich jeder Schoenen nur muehsam, vorsichtig, bedaechtig und bierernstig naehern, kannte sie zur Genuege, von denen liefen mehr als genug herum, mit der Zeit erkannte man die schon aus der Ferne und ging sofort in Abwehrstellung, wenn man ihnen begegnete. - Otto dagegen, Otto war richtig nett, und seine Possen verdraengten etwas von dem Stoerenden, was gewoehnlich zwischen Maennern und Frauen steht, besonders wenn sie sich nicht richtig kennen. Was ging wohl in ihm vor, waehrend er auf sie einredete? Sicher, er fand sie einigermassen begehrenswert, doch wenn er genauer darueber nachgedacht haette, was er jedoch nicht tat, nur nebenbei streifte es seinen Geist, er haette vom ersten Moment befuerchtet, sie koenne ihm ebenso langweilig wie Ulla werden. Dennoch verspruehte er laessig noch etwas Leben um ihren Leib, man kann ja nie wissen, und erreichte, dass sie ihn gar nicht mal traurig abziehen liess. Heute war ohnehin nicht ihr Tag, und gewiss nicht aller Tage Abend, vielleicht traf man sich mal auf der Strasse im Viertel, anscheinend wohnte er hier in der Naehe. Denn ganz zum Schluss, als sie sich schon abgewandt hatte, fiel ihm noch beilaeufig ein: "Morgen findet ne Fete in der Stresemannstrasse 136 statt, die ich mit organisiere. Wenn du willst, du bist herzlich eingeladen. Wir haben sie auf Sonntag gelegt wegen der Leute, die nach Brokdorf fahren, es wird garantiert ein rauschendes Fest ... echt geiles Feeling." Mit sicherem Blick pruefte er ihre Aufmachung. Nein, die fuhr nicht zur Demo, aber zur Fete wuerde sie vielleicht kommen. "Also nicht vergessen, Hausnummer 136, und falls jemand fragt, Otto hat dich eingeladen." "Aber ich kenne dort niemanden", haette sie sagen wollen, doch da schoss er davon, denn seine Freunde standen schon an der Kasse, sie mochte kommen oder auch nicht. Auf der Strasse trennte man sich von Richard, den wir jetzt allein zum Bioladen schlurfen lassen, wo er von der vertrauten Tuerbimmel und allerlei seltenen Dueften empfangen wurde und sich zwischen engen hellstaubigen Regalen mit Mueslis und Nuessen, Koernern und Mehlen und Marmeladen und Mussen herumdruecken und wiederum seiner Schwermut nachhaengen konnte. Die Lippmannstrasse trollte sich heim, die letzten paar hundert Meter liefen sie lachend, da es zu regnen begann, und draengelten durch die alte verschnoerkelte Holztuer samt Eisengatter. Das Haus war nicht so vornehm wie die Klopstockterasse und lag in einem ziemlich versifften Viertel, das heisst, es war gar kein richtiges Viertel, mehr so ein Zwischenterrain, an dessen Zustand auch die aufwendigste Sanierung nicht ohne weiteres viel aendern wuerde, doch Schulterblatt und Schanzenquartier, mit ihrem gewissen maroden Charme waren nicht weit, es war so ein typisches Viertel, wo der Sonntagmorgen nicht von Kirchgaengern, sondern von Saeufern bestimmt wird, die die Realitaet fuer eine Illusion halten, welche durch Mangel an Alkohol entsteht und davon traeumen, die gerade beendete sonn-abendliche Sause baldmoeglichst fortzusetzen; doch der Geist ist willig, allein das Fleisch schwach, und so schleichen sie an den Haeusern entlang, ohne die jungen Leute zu wecken, die meist im billigen Parterre wohnen und hinter geschlossenen Fensterlaeden noch lange fest schlafen. Die Lippmannstrasse war auch alltags eine ganz ruhige, fuer ihre Schlagloecher beruechtigte Gasse, um die meisten Fahrzeuge einen Bogen machten, und nur gelegentlich wurde die Ruhe gestoert, wenn einer bei offenem Fenster die Anlage zu weit aufdrehte oder ein anderer wuthaemmernd auf seine bockige Ente eindrosch. Und trotz ihrer Mehrstoeckigkeit machten die meisten Haeuser einen geduckten Eindruck, als ahnten sie, dass eines Tages in nicht zu ferner Zukunft erbarmungslose Abrissbrigaden hier anruecken wuerden. Auch unsere Helden wohnten parterre, ihre Wohnungstuer befand sich gleich hinter dem Eingang, was nicht nur darum stoerte, weil beide Tueren nicht zeitgleich geoeffnet werden konnten, sondern auch, wenn andere Mieter mit Muelltonnen, Fahrraedern, Kinderwaegen oder anderen Fahrgestellen und Geraetschaften vorbeischepperten, Regenschirme zum Trocknen stehen liessen oder mit lautem Rasseln und Quietschen die Briefkaesten oeffneten. Gleich links und rechts fuehrten Holztreppen nach oben, in Keller und Garten. Ottos Zimmer lag zum Garten hin, doch die Terassentuer war kaputt, liess sich partout nicht aufkriegen, und er hatte es nicht fuer wert und zu kompliziert erachtet, das Schloss zu reparieren, so dass er den Garten nicht nutzen konnte. Der bot auch an und fuer sich ein trostloses Bild, man haette ihn bepflanzen oder ganz asphaltieren muessen, aber niemand fuehlte sich zustaendig, und so lagen Steine und Holz, Bauschutt und Muell in buntem Chaos auf wuchernden Graesern. Als er sein Saxophon kaufte, hatte er sich vorgestellt, im Sommer gelegentlich im Freien zu ueben, obwohl das Instrument war einfach zu laut, das haetten die vielgeprueften Nachbarn denn doch nicht ertragen. Die Wohnung war ebenso unscheinbar wie das Haus. Vor Monaten hatten sie in einem Anfall kollektiver Arbeitswut alle Zimmer gestrichen, und von Ulla so lange Druck bekommen, bis ein Handwerker beauftragt wurde, im Bad eine neue Dusche einzubauen. Im uebrigen wurden nur die unvermeidlichsten Reparaturen vorgenommen, es gab keinen Bastler wie Kalle, dem Handwerkern Spass machte. Der Flur war ein langer, duesterer, von Britta und Ulla einigermassen in Ordnung gehaltener Schlauch, an welchem die Schlafraeume aufgereiht waren wie an einer Perlenschnur. Ganz hinten zweigte nach rechts eine fensterlose Kueche ab, in deren Daemmerlicht sie sich jetzt versammelten und verschnauften, und sich aus Pullovern und Jacken pellten. "Ich geh mal schauen, ob Ulla schon aufgestanden ist", sagte Otto beilaeufig und verschwand. Dieter war froh, dass der Andere sich endlich verduennte. Er war eifersuechtig und neidig und fand, mit Otto konnte man nicht wirklich befreundet sein. Es war unmoeglich, normal mit ihm zu reden, weil er alles sofort ins Laecherliche zog, gewiss auf heiter humorige Art, die besonders bei Frauen gut ankam; doch wer taeglich damit umzugehen hatte, brauchte echt gute Nerven. Staendig schob er sich mit irgendwelchen Unwichtigkeiten in den Vordergrund, waehrend er seine Pflichten, zum Beispiel im Haushalt, vernachlaessigte, und sich ueber all jene Themen, die Dieter erregten und wochenlang beschaeftigten, nur lustig machte. Von Politik hielt er wenig, hauptsaechlich wolle er seinen Spass, Leben nach dem Lustprinzip, das sei die wahre Selbstbefreiung. Den meisten Leuten fehle jeder Lebensgenuss, und die eigentliche Auseinandersetzung finde nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen Asketen und Hedonisten statt, das sei schon immer so gewesen, bei den alten Griechen schon, die haetten das klarer erkannt als heute, dass die Asketen den Hedonisten die Freiheit vorenthalten wollten, ein ewiger Kampf. Er lasse sich aber von Tugendwaechtern nichts vorschreiben, er werde immer tun, was ihm passe und angenehm sei. - Mit diesem Gerede brachte er sogar Ulla derart in Rage, obwohl sie weder mit Hedonisten noch mit Asketen viel anfangen konnte, dass sie mit der Nudelrolle auf ihn losgegangen waere, wenn es in der Lippmannstrasse eine solche gegeben haette. "Was nimmst du eigentlich mit auf die Demo", fragte Britta, "ich meine, was sollte man deiner Meinung nach alles mitnehmen?" Auf so eine Frage hatte Dieter nur gewartet. Mit wichtiger Miene fischte er ein Papier aus seiner Gesaesstasche und faltete es auseinander, ein Flugblatt, das vor der Mensa verteilt worden war, und woran sich seine Unsicherheit festhalten konnte. "Tips fuer die Demo!" stand in grossen Lettern obenauf, und ueber den Sinn des Ausrufungszeichens haetten Gelehrte ausgiebig streiten koennen. "Also", sagte er, "erstmal, man soll sich bei der Verpflegung abstimmen". Keine schlechte Aussicht, sich mit Britta abzustimmen. Er war froh, dass Otto nicht mitfuhr, so konnte er die Vorbereitungen allein mit ihr treffen. Guenter, der nahm ganz andere Dinge mit und war sowieso keine Konkurrenz. "Da kann uns ja nichts mehr passieren", erheiterte sie sich, nachdem er alles aufgezaehlt hatte, "nicht so wie letztes Mal, wo jeder nur'n Apfel und Kaugummis mithatte." Nichts Geistreiches wollte ihm darauf einfallen. Also las er, wie zur Entschuldigung, noch zwei Paragraphen aus dem Flugblatt vor. Und in das folgende abtraegliche Schweigen kam Otto gluecklicherweise zurueck und stellte hoerbar irritiert fest: "Ulla ist ja gar nicht da," und ueberfluessigerweise: "sie muss irgendwo hingegangen sein." Aha, dachte Dieter geringschaetzig, wenn seine Ulla um ihn herumscharwenzelt, geht sie ihm meist auf die Nerven, sobald sie aber eine Sekunde nicht verfuegbar ist, faengt das Gejaule an. "Ist sie tatsaechlich ohne dich weggegangen?" fragte Britta anzueglich, und dann, wie zum Ausgleich: "Sag mal, wann willst du eigentlich deinen Reis? Die Busse fahren um zwoelf beim zentralen Busbahnhof ab. Ich muss also spaetestens halb zwoelf hier aufbrechen, also in einer Stunde." "Hat Otto jetzt zwei Frauen, die fuer ihn die Arbeit machen?" aergerte sich Dieter ueber ihre Bereitwilligkeit. "Von mir aus jetzt gleich", sagte dieser beglueckt. "Ich bin schon um fuenf aufgestanden und hab vielzuviel Kaffee getrunken, mein Magen knurrt wie verrueckt," und da trollte er sich kopfschuettelnd und schicksalsergeben in sein Zimmer. Etwas spaeter stand eine lecker dampfende Schuessel auf dem Tisch. Otto rieb sich erwartungsvoll die Haende und lud eine doppelte Portion auf den Teller. Echt appetitlich angerichtet, schoen locker und koestlich, die bunten Fruechte hatten beim Kochen kein bisschen Farbe verloren und schimmerten wie Edelsteine im Schnee. "Probier doch erst mal, ob's dir ueberhaupt schmeckt", riet sie vorsorglich. "Klar wird's mir schmecken, sieht gut aus, ich freu mich unheimlich." Schwungvoll setzte er den Loeffel an und kaute begeistert. Doch dann hielt er inne und verzog das Gesicht: "Sehr salzig ... du, die haben das Zeug total versalzen." Aber er muehte sich tapfer weiter, um erst nach dem neunten oder zehnten Loeffel das Besteck aus der Hand zu legen. Unmoeglich. Da konnte man das Salz gleich so fressen. "Du, Britta, ich kann das nicht weiteressen", rief er verlegen (da sie sich soviel Muehe gegeben hatte) in den Flur, wo sie an ihrem Mantel nestelte, und als sie in der Kuechentuer auftauchte, fuegte er hinzu: "Das muss wohl die italienische Kueche sein. - Aber wer bringt die Italiener dazu, so was gut zu finden? Das schmeckt doch gar nicht?" Zuerst wollte sich Britta wieder durch Schweigen um die Wahrheit herummogeln, doch dann ueberwand sie sich und sagte: "Mensch Otto, das Salz hab ich doch rein getan, ich hab die neue Salztuete aufgemacht und dann ist mir der Loeffel abgerutscht, tut mir leid. - Hast du echt geglaubt, dass Reis dermassen salzig verkauft wird?" Otto war sprachlos, erst das Theater um das bisschen Reis, den sich angeblich keiner leisten konnte, und dann dies Fiasko, aus reiner Schludrigkeit. Doch als die berechtigten Beschwerden wie eilige Fahrgaeste aus seinem brennenden Schlund stuerzen wollten, hielt er sie mit den Lippen zurueck. So ein Missgeschick war fuer Britta ganz untypisch, normalerweise kochte sie hervorragend, Nachlaessigkeit war eher seine Domaene, und da er es nicht mit ihr verderben wollte und ausserdem ihre spitze Zunge fuerchtete (er konnte sich schon denken, was sie sagen wuerde, es waere schoen, wenn du auch mal irgendwas taetest und dich nicht immer nur bedienen laesst, zum Beispiel dir den Reis selber kochen), schaltete er schlagfertig auf seine gewohnte Spritzigkeit um: "Ja, habe ich echt geglaubt, warum auch nicht? Andere Laender, andere Sitten, habbich gedacht." Diese taeppische Aeusserung, in unnachahmlich alberner Intonation vorgebracht, hob die Stimmung wie eine Rakete, brachte beide minutenlang zum Lachen, sie kriegten sich gar nicht mehr ein vor Gegackere, steckten sich gegenseitig immer wieder an, das Salz schien wie Aufputschmittel zu wirken, "Jetzt weiss ich, warum du im Supermarkt das grosse Paket eingepackt hast", bruellte Otto in den Raum, und ruderte mit den Armen. Sie kicherten noch immer, als Dieter vom Radau angelockt neugierig und widerwillig zurueckkam. Seine Bewegungen wirkten unkontrolliert, die Augen wie schmale Schlitze, seine Eifersucht fand das gar nicht komisch. Er ahnte oder glaubte zu ahnen, was sich in der Kueche abspielte, eine Annaeherung, die er nicht tolerieren mochte, weil er Britta so bitter begehrte und innerlich fuer sich beanspruchte, und die ausserdem Otto bestimmt nicht verdiente. "Du Dieter, Otto will mir nicht abnehmen, dass ich den Reis versalzen habe. Er hat gedacht, der Hersteller ...", sagte sie etwas gezwungen, doch mit ueberaus gewinnendem Laecheln, sie haette ihn gern in ihre Ausgelassenheit einbezogen, und damit reagierte sie eigentlich zum ersten Mal sichtbar auf sein permanent seltsames Benehmen, nicht abweisend, sondern beschwichtigend, fast muetterlich beruhigend, und auch ein Erkennen lag mit darin. Doch der hilflose Toelpel liess die Gelegenheit ungenutzt verstreichen, er schwieg einfaeltig, hoechstens dass sich seine finstere Miene ein wenig aufhellte. Da riss Otto das Heft der Aufmerksamkeit wieder an sich: "Wieso Hersteller?" kreischte er wie toll. "Ich hab gedacht, der Reis ist von Natur aus so und waechst so salzig auf Baeumen", und das brachte Britta aufs Neue zum Lachen, sie konnte nichts dafuer, es lief wie starker Schnupfen aus ihr heraus, und erneut verfinsterte sich Dieters Miene, wahrlich, er wuerde sie nie bekommen. - ... - Doch was sollte sie machen, den Lachkrampf unterdruecken und Dieter nacheifern, ernst und humorlos wie eine Trockenpflaume bei Regen? Es gab keinen Grund, ihm zuliebe auf Otto boese zu sein, auch wenn es genau das war, was er von ihr erwartete. "Wisst ihr zufaellig, wo das Naehzeug liegt?" Hinter ihnen zwaengte sich ein olivgruenes Ungeheuer, eine menschliche Riesenschildkroete in die Kueche; Guenter in voller Montur, deren laecherliche Komponente er jedoch nicht wahrnahm, weil er vor schierer Willenskraft die objektive Urteilsfaehigkeit verloren hatte, und weil wir uns meist fuer beeindruckender und schoener (oder, je nach Temperament, fuer unscheinbarer und haesslicher) halten als uns die anderen sehen. Vielleicht war es ihm auch ganz gleich, wie man ihn wahrnahm, Hauptsache, er hatte ein Publikum, um seine Erscheinung vorzufuehren. "Es lag immer hier auf dem Schrank", sagte Britta und stellte sich auf die Zehenspitzen. "Ich glaube, Ulla hat es gehabt, ich habe sie neulich damit gesehen ... weiss auch nicht, wo sie es hingelegt hat." Dann fuegte sie skeptisch hinzu: "Meinst du, dass du in dieser Aufmachung nach Brokdorf durchkommst? Der Busfahrer wird sich weigern, dich mitzunehmen." Man hoerte die Wohnungstuer aufschnappen, ein bleiches Gesicht linste in die Kueche, das Otto kurz zunickte und sofort wieder verschwand. "Hallo Ulla", rief er ihr laessig nach, ohne auf die Anzeichen zu achten, "wo kommst du denn her?" Britta und Dieter aber, die gar nichts damit zu tun hatten, begriffen instinktiv, hatten schon vorige Woche begriffen, bei den Beiden war was im Gange, ohne den kleinsten Hinweis, worum es sich handelte, der sonst so redselige Otto liess keinen Mucks verlauten, und Ulla, die sowieso nie viel redete, war im Umgang mit ihnen fast ganz verstummt. Traege erhob sich Otto und folgte ihr, ohne anscheinend irgendeinen Gedanken zu verschwenden, wer sein Geschirr abraeumen wuerde, was Britta auch anstandslos uebernahm, und wieder dachte Dieter, was fuer ein gluecklicher Schweinehund!, fuer niemand sonst machte sie das, und ein leiser Schmerz durchfuhr ihn, wie er verkannten Liebenden allzu gelaeufig ist. ------ Ottos Zimmer wurde von dem breiten Bett in der Mitte dominiert, und von einigen schwarzen Laken, die stilsicher ueber zwei verschlissenen Sesseln drapiert waren. An einer Pinnwand hingen grosse, grobkoernige Fotos seines ersten Auftritts, neulich, im Eppendorfer Talentschuppen, er hatte gar nicht schlecht abgeschnitten dabei, und war jetzt immerhin bei zwei Agenten in der Kartei. Ein tolles Gefuehl, vor Publikum aufzutreten, und jedesmal, wenn er die Fotos betrachtete (was ziemlich oft geschah), kam diese Erfolgsstimmung wieder in ihm hoch. Er war sich nicht klar, dass die aeusserste narzisstische Untat von jenem begangen wird, der ueber dem eigenen Photo onaniert. "Was ist los", fragte er. "Bitte, mach erst die Tuer zu." Und als er der Aufforderung nicht gleich nachkam, schob sie ihn energisch zur Seite und stiess sie zu. "Du solltest eigentlich wissen, was los ist", empoerte sie sich dann. "Wegen dir mach ich doch den ganzen Scheiss. Ich war bei Pro Familia und habe mir eine Bescheinigung ausstellen lassen. Ohne die ist der Abbruch bekanntlich nicht moeglich." Sie konnte seinem Gesicht ablesen, was in ihm vorging und setzte hinzu: "Ja, mir macht es was aus, all die Sachen allein zu erledigen, waehrend du die ganze Zeit mit Britta herumtaendelst." "Ich habe nicht mit Britta herumgetaendelt, wir sind alle zusammen einkaufen gegangen, und dann hat sie was gekocht ...", erwiderte er, nicht ganz aufrichtig, aber bitte, was haette man ihm vorwerfen koennen? Dass er im Supermarkt ein bisschen an ihr gefummelt hatte?, na und? Er sagte aber nichts weiter, da er den Ernst der Lage richtig einschaetzte, er war nur erstaunt ueber die heftige, unnachgiebige Art, in der sie neuerdings mit ihm umging, frueher gewiss, da hatte sie ihn auch schon mal kritisiert, doch seit vorgestern war igendwas anders. "Da musst du was machen, sonst sitzen wir hier mit einem Kind auf dem Schoss und koennen uns all unsere Plaene abschminken", hatte er sie bedraengt, und keine Ruhe gegeben, das war mal etwas, was ihm wichtig erschien, er wollte nicht 20 Jahre fuer einen Rotzloeffel zahlen, fuer den ausser Abneigung er nichts zu empfinden sich vorstellen konnte, er kam jetzt schon kaum mit dem Geld aus; und sie hatte dazu erst wenig gesagt, nur einmal kurz angedeutet, sie wuerde das Kind gern behalten (doch da war er ziemlich massiv geworden) und am Ende resigniert nachgegeben, und seither war ihre Beziehung nicht mehr im Lot, das merkte er durchaus. Aber der Mensch ist vergesslich, er kannte sich aus, besonders ueber italienischen Nudeln, auch Ulla wuerde vergessen. Sicher, das waren kritische Tage, der Abort war bestimmt nicht einfach fuer sie, so'ne Art richtige Operation; doch wenn sie es ueberstanden hatte, wuerde alles wie vorher sein, da war er ganz zuversichtlich, sie wuerde sich wieder einkriegen. Da er sich gut mit Frauen auskannte, sagte er nicht "Bitte reg dich nicht auf, alles halb so schlimm, versuche ganz ruhig zu bleiben", darauf haette sie ihn nur angeblafft, "Du bist gut, 'reg dich nicht auf', du hast ja mit all dem nichts zu schaffen, du haeltst dich fein raus, obwohl es deine Schuld genauso wie meine ist. - Da war eine sehr nette, verstaendnisvolle Frau, und ich musste ihr vorluegen, dass ich in voellig zerruetteten Verhaeltnissen lebe und zum Vater des Kindes keine Beziehung mehr habe; und du ... du gehst auch nicht einsam durch die Kaelte, waehrend sich alles in dir straeubt gegen den naechsten Schritt am Montag, der Termin steht schon fest, es muss jetzt alles ganz schnell gehen; und so geladen stehe ich jetzt hier und wuerde dir am liebsten eins in deine Grinsefresse hauen, weil du mich wie den letzten Dreck behandelst. Aber ich bin nicht so eine, die Anderen mit gleicher Muenze heimzahlt, ich bin sanft und biegsam und werde schon darueber wegkommen. Aber es reicht mir mit dir, es war ein schoenes Jahr, aber nach diesen drei Tagen reicht es mir, und ich bezweifle, ob ich es hinterher noch mit dir aushalte, mit dieser ganzen Leere, als die ich unser Dasein identifiziert habe." Sondern redete kuehl und reserviert, schliesslich war er zuvoerderst am funktionalen Erfolg dieser Aktion und Schutzmassnahme interessiert, und setzte ihr noch einmal ausfuehrlich und serioes seine Gruende auseinander; ein Kind, das sei ganz unmoeglich und voellig ausgeschlossen, das moege sie bitte begreifen. Und dann war er froh, vom Flur ein Geklapper von Haken, Kleiderbuegeln und Schuhen zu hoeren. "Die Andern gehen gerade", sagte er, "ich will ihnen wegen der Fete noch etwas sagen" und verschwand. "Hoffentlich hat keiner von meinem Zustand etwas mitgekriegt", dachte sie, die ganze Sache war ihr hochnotpeinlich, sie wusste auch nicht warum, auch die Profs und Kommilitonen wuerden wissen wollen, was los war und warum sie nicht zur Uni kam, sie wuerde naechste Woche dort alles verpassen, und den Schein in Sozialpaedagogik konnte sie sich abschminken, der Dozent nahm es mit der Anwesenheit sehr genau, und sie aergerte sich, ueber ihre unglaubliche Dummheit und Naivitaet. ------- Nach drei U-Bahnstationen und einem verwirrenden Marsch durch Passagen und Schalterhallen und ueber Rolltreppen erreichte die Lippmannstrasse den Busbahnhof, einen unwirtlichen, unuebersichtlichen Asphaltplatz mit riesigen Oelflecken und rostigen Metallbaenken, wo man sich zwischen Dutzenden von Bussen hoffnungslos verlaufen konnte. Gleich hinter der Auffahrt trafen sie Rolf und Krimhild, und Dieter blieb stehen, um mit ihnen zu schatzen. Sie hatten sich damals im Fruehjahr kennengelernt und waren seither gut befreundet. Wir befreunden uns oft mit jenen, die so sind, wie wir selber gern waeren, meist reicht uns sogar, zu glauben, dass sie so sind; Dieter fuehlte sich von der Reife, Belesenheit und Abgeklaertheit des Aelteren angezogen, und Rolf von Dieters unbekuemmerter Spontaneitaet. Bald gesellten sich auch die Leute von der Stresemannstrasse und der Klopstockterasse und aus anderen Himmelsrichtungen dazu, es war ein Begruessen und Her- und Hintrippeln und Ungeduldigwerden, und wer nicht dampfenden Atems herumpalaverte, so dass die ausgestossenen Woelkchen wie Rauchsignale in der Luft hingen, trat mit den Haenden in den Hosentaschen vom einen Fuss auf den anderen und fragte sich, warum es nicht weiterging. Endlich ruckten die Ungetueme zur Fahrlinie vor und oeffneten ihre Tueren. Dieter in seiner Unbeholfenheit kam direkt davor zu stehen und konnte nicht verhindern, dass man ihn als ersten hineindraengte. So kam es, dass er nicht mit Britta zusammensass, was er gehofft, ja als selbstverstaendlich angenommen hatte; eine Busfahrt waere DIE Gelegenheit gewesen, sie einmal fuer sich allein zu haben. Denn kaum hatte er einen Fensterplatz ausgesucht, auch noch nach ihr zurueckgeschielt, da rutschte Rolf an seine Seite, und Britta setzte sich hinter ihn, so dass er sich den Hals verrenkte, wenn er sie ansehen wollte. Allzu oft umdrehen konnte man sich sowieso nicht waehrend der Fahrt, weil es aufdringlich wirkte, und so verbarg er seine Enttaeuschung und konzentrierte sich auf den Nachbarn, der von den Wahlergebnissen angefangen hatte, im Bundestag war wieder alles beim Alten geblieben, "ausserdem", fuegte er hinzu, als Dieter nicht im Mindesten reagierte, "im Bewusstsein der meisten Leute spielt die Bedrohung durch AKW's gar keine so grosse Rolle. Die sorgen sich ... " Es wurde nie ausgesprochen, was nach seiner Ansicht die schweigende Mehrheit beunruhigte. Denn an diesem Punkt, als er mit seinen Analysen noch nicht einmal richtig in Fahrt gekommen war, wurde er ploetzlich von Dieter unterbrochen, der vermeiden wollte, dass Britta, die alles mithoeren konnte, ihn fuer traege, phlegmatisch oder passiv einstufte, und fuer Rolf unterlegen, er glaubte, um ihr Interesse zu wecken, muesse er augenblicklich mit etwas Bedeutsamem, oder was er fuer bedeutsam hielt, hervortreten. Warum macht der Geist solche Umwege? Warum haelt er flammende Plaedoyers fuer die Freiheit? Warum sagt er nicht einfach: Frau, ich will mit dir schlafen! Die Antwort ist, Maenner muessen durch ihre Rede (ihr Gequatsche) und Klugheit und Staerke beweisen, dass sie als Lover geeignet sind. Als Zeichen fuer individuelle Staerke und Autonomie ist der Ruf nach Freiheit dafuer besonders geeignet. Er ist (in der Form von Ungehorsam und Auflehnung) viel aelter als die Aufklaerung, wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. (Doch was tun mit einer (Idee von) Freiheit, die nur in zweiter Linie Telos, in erster aber Mittel zu Fortkommen und Fortpflanzung ist?) Er erzaehlte also irgendein Abenteuer, das er neulich erlebt hatte und hoffte, dass sie genug davon mit bekam. Sie tat aber voellig unbeteiligt, und blickte die meiste Zeit gelangweilt und unnahbar aus dem Fenster. Was haette sie auch tun sollen? Ihn mit offenem Mund bewundernd anglotzen? Seine pubertaeren Streiche beeindruckten sie wenig, und auch die Aussicht, mit Rolfs Freundin zu schwatzen (die neben ihr sass), riss sie nicht vom Hocker. Mit der konnte sie nichts anfangen. Ein bisschen tratschen, ok, das waere schon moeglich gewesen, doch Britta tratschte lieber mit ihresgleichen. Krimhild war mehr der Hausfrauentyp, mit ihrem Freund als Hauptinteressensgebiet. Es haette ihr vollauf genuegt, wenn Rolf ruhig seinem Berufsschullehrerstudium nachgegangen waere, mit der vagen Aussicht, in dem nicht ganz so ueberlaufenen Fach eines Tages eine Anstellung zu finden. Dass er sich nun einmal vorerst und aus ihr unerfindlichen tieferen Gruenden seiner Seele politisch engagierte, besonders seit er zu arbeiten aufgehoert hatte, nahm sie wortlos hin, und bewunderte ihn massvoll, zumal er keine schlechte Figur dabei abgab, und liess auch keine Demo aus, zu der er sie einlud. Aehnlich verhielt sie sich zur neuerdings unorthodoxen Wahl seiner Kleidung. Sie sorgte nur dafuer, dass alles immer frisch gewaschen war, so dass Rolf (im Gegensatz zu den Anderen) immer leise nach einem bekannten Waschpulver roch. Seit er studierte, liess er die Sakkos im Schrank, und unter dem weiterhin akribisch gepflegten Schnauzer sah man am Kinn oefter Stoppelbart spriessen. Sie waren jetzt hauptsaechlich auf ihr Gehalt als Optikerin angewiesen, doch damit war Krimhild zufrieden, das nahm ihr etwas von dem Gefuehl der Bedeutungslosigkeit, an der Seite eines so wichtigen Weltmenschen zu stehen. Die Fahrt zog sich endlos hin, wegen Staus und Kontrollen, und wieder Staus, halb Norddeutschland schien unterwegs zu sein, endlich aber stoppten sie im Niemandsland der Marschen. Sie kletterten nacheinander heraus, Rolf und Krimhild, Richard, Ali, Dieter, Werner, Laura, Kalle und Britta und froren in den wehenden Jacken und versuchten sich zu orientieren. Vor ihnen die Strasse, schon halb mit Autos zugeparkt, links und rechts gruene Schafsweiden unter grauem Himmel, und der ewige Wind von Westen, gegen den sie nun angehen mussten, und der ihre Worte zerfetzte. "Ey, der Weg ist aber gut ausgebaut", sagte jemand. "... damit sie die Abfaelle leichter wegbekommen", erklaerte Dieter, der sich gut auskannte, er war schon zweimal hiergewesen. "Frueher war hier nur ein matschiger Feldweg, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht gesagt haben." Britta nickte weise dazu. Es gefiel ihr, neben ihm herzustapfen, als gehoerten sie schon zusammen, das wuerde Ali aergern, aber das allein war es nicht, sie brauchte jemand, bei dem sie sich anlehnen konnte. Der Job war die ganze Woche total langweilig gewesen, oede und nervtoetend wie immer. Es gab keine vielversprechenden Kontakte mehr, wie frueher, vor 3, 4 Jahren, als sie angefangen hatte, damals waren die Leute noch juenger und solo und fuer alles zu haben. Jetzt war alles irgendwie festgefahren; die meisten liiert und die interessanteren Typen hatten die Firma verlassen. Zu einem der Chefs fuehlte sie sich hingezogen, der gefiel ihr ganz gut und schaute ihr oft auf die Beine, war'n witziger Typ, aber verheiratet und wahrscheinlich zu alt, und bei Chefs musste man sowieso vorsichtig sein; wenn's nicht lief, konnte's den Job kosten, das hatte sie damals bei Evi gesehn. Seit Wochen tat sich nichts in ihrem Privatleben, nicht die Bohne, und ausser Dieter war nicht das Mindeste in Sicht. Und waehrend er weiterredete und ihr die Topographie erklaerte und die Sicherheitsmassnahmen, fiel ihr ploetzlich ein, sich bei ihm einzuhaengen (und sich sogar an ihn zu pressen), sie zoegerte erst, doch dann schritt sie einfach zur Tat, sie wusste, sie ging kein Risiko ein, er wuerde sie niemals zurueckweisen. Diese Sicherheit, seine staendige Offenheit ihr gegenueber waren genau das Problem, dadurch wurde er uninteressant, da konnte er noch so gut aussehen; und vielleicht weil es auf einer anderen Ebene doch ein Risiko bedeutete, hatte sie bis vor kurzem sogar einen Bogen um ihn gemacht. Da er sie so lange so sehr begehrte, kippte er fast aus den Puschen, so ueberraschte ihn die unverhoffte Annaeherung, und begann schneller zu atmen (gleichsam als muesse sein Kreislauf den Koerper auf etwas Schwerwiegendes vorbereiten, das grosse Kraft erforderte) und wie in einer Angstpanik zu zittern. Er war zu den elementarsten Reaktionen nicht in der Lage, es reichte gerade zum Weitergehen und halbwegs die Haltung wahren. Gut, dass sie davon nichts mitbekam, bei dem tosenden Sturm, dachte er. - Ein Irrtum, denn natuerlich spueren wir, wenn wir einander beruehren, beim Anderen jede physiologische Unsicherheit. Es gibt eine extreme Form des Hoffens (extremer als jede politische Utopie), deren Spannung das Individuum zerreissen kann. Man koennte sie als die 'Hoffnung des naechsten Augenblicks' bezeichnen. Sie ist gefaehrlich, weil sie das Handeln behindert, indem sie die Gedanken nervoes um ein einziges Ziel kreisen laesst, und zerstoert durch ihre Intensitaet, worauf sie gerichtet ist. Eine nahe Erfuellung wird derart in utopische Ferne gerueckt, ohne aber in deren glueckliche Abstraktheit umzuschlagen. Doch so fuehlt sich nunmal einer wie Dieter, wenn ueberraschend ein inniger, mit allen Fasern der Seele herbeigesehnter und vermeintlich unerreichbarer Wunsch sich zu erfuellen scheint. Ich sage 'scheint', denn Britta hatte noch nicht entschieden, ob ihr Schritt nur eine freundschaftliche Geste war oder mehr bedeutete, ob sie ihm jemals erlauben wuerde, weiter zu gehen, als ihre weiche obere Armpartie mit dem Ellbogen zu druecken und sie dichter an sich zu ziehen, denn das wagte er nun, so dass das Paar leicht schwankend voranschritt und Muehe hatte, das Tempo zu halten. Sie unterhielten sich, hatten bald das AKW vergessen, kamen auf dieses und jenes, und keiner der vor oder hinter ihnen gehenden konnte verstehen und wuerde je erfahren, worueber sie sprachen, wiewohl der gemeinsame Auftritt mit Interesse verfolgt wurde, und es soll auch vor den Lesern ihr Geheimnis bleiben, wenngleich und zumal nichts Geheimes darin war. Seine Stimme war ganz weich geworden (wie ihr Oberarm), und zaertlich nah an ihrem Ohr, und hoffnungsfroh, dass hier ein Anfang gemacht war. Spaeter machte sie sich wieder frei, Haltung und Gehen waren auf Dauer zu unbequem, und gleich kamen ihm Zweifel, er begriff, wie unverbindlich und zweideutig dies alles war, ausserdem kannte er sie, wusste, wie sie mit Maennern umsprang, zu wahllos und grosszuegig verteilte sie ihre Sympathien, bevor sie sie ebenso schnell wieder fallenliess. Wenn ueberhaupt, verliebte sie sich in ganz andere Typen als ihn, Frauenhelden und geschniegelte Schoenlinge, man brauchte nur ihren Exfreund anzugucken, wie selbstbewusst der daherkam. Und bevor sie noch den Bauzaun erreichten, fuellten grosse schwerwiegende Fragezeichen seinen Kopf, die man zum Glueck von aussen nicht sehen konnte. ------- Die Demonstranten waren schon eine ganze Zeit unterwegs, da begannen auf beiden Seiten die Wiesen sich zu bevoelkern, die Leute draengten sich dichter, schwenkten nervoes ihre Fahnen, und der Zug wurde langsamer und kam ploetzlich zum Stehen. "Da hinten irgendwo ist der Zaun", sagte Dieter, "da ist alles abgesperrt, da kommt man nicht weiter. Leider kriegen wir nichts davon mit, das Kraftwerk iss von hier noch ziemlich weit weg, wir sind viel zu spaet dran." "Wir koennten versuchen, ueber die Wiese seitlich an die Anlage heranzukommen", schlug Werner vor. "Ach das ist doch der totale Matsch, da wuerden wir uns nur einsauen", widersprachen die Frauen, und so trat man ein bisschen genervt auf der Stelle, starrte schweigend in den dunstigen Himmel, und das Ende vom Lied war, dass sie sich aufteilten, nach Sympathie und nach dem Zufallsprinzip, Rolf, Krimhild, Ali und Richard draengten sich durch die Massen, um naeher an das Haupttor zu kommen, sie wollten unbedingt sehen, was sich dort abspielte, der Rest bewegte sich hierhin und dorthin, tat sich mit anderen Bekannten zusammen und verteilte sich in der fluessigen Menge. Britta und Dieter fanden sich allein zurueckgelassen, worueber sie keineswegs ungluecklich waren. Spaeter hielt Rolf eine kleine Rede, zu welcher Richard melancholische Notizen auf seine Papierrolle schrieb: "Wir alle sind endlich und streben nach Ewigkeit, besonders in unseren Hoffnungen. Unaufloesbarer Widerspruch. Was nutzt Rolf seine Weltverbesserung, wenn er doch irgendwann den Loeffel abgeben muss? Seine ganze Argumentation wird sich als leeres Gerede entlarven, spaetestens, wenn er alt ist (falls er bis dahin ueberhaupt noch daran glaubt), als Taeuschung, welcher er lebenslang aufgesessen ist." Und dann: "Da das Leben endlich ist, zaehlt es nichts absolut, und wird schon mal weggeworfen." Rolf liess sich von Richards wortlos bekundeter Ablehnung nicht irritieren, er akzeptierte sie emotionslos, gewissermassen als naturgegeben, wie er Dieters Abwesenheit akzeptierte, ungeachtet er eine groessere und geneigtere Zuhoererschaft vorgezogen haette, und ging mit Ali weiter, und Ali benutzte eine Atempause, um ihn zu unterbrechen, er werde demnaechst bei der Post jobben, beim Paketdienst, "die zahlen noch am meisten fuer solche Studentenjobs, obwohl es teilweise echt schwere Akkordarbeit ist. War gar nicht so einfach, den Vertrag zu bekommen, sie hatten massenhaft Bewerber. Ich weiss nicht, nach welchen Kriterien sie die Leute letzten Endes aussuchen, vielleicht weil ich ziemlich kraeftig aussehe, aber ist ja schliesslich egal, Hauptsache ich bin dabei. - Sie haben uns jetzt die Kuendigung geschickt", unterbrach er sich ploetzlich, "ich hab dir ja neulich erzaehlt ...", ... und Richard, dem das Gespraech fetzenweise ans Ohr drang, ueberlegte, wann Ali und Rolf sich getroffen hatten. "In dem Brief wird mit Raeumung gedroht", sagte Ali. "Da wir rechtlich keine ordentlichen Mieter mehr sind, schreibt die Stadt, haben wir im Prinzip null Kuendigungssschutz, nur aus Kolanz lassen sie uns drei Monate Zeit. - Das Haus ist angeblich so gut wie verkauft, der neue Besitzer will es selber nutzen und zum Jahresende einziehen. Obwohl ich nicht genau verstehe, was 'so gut wie verkauft' heisst, entweder verkauft oder nicht verkauft, eine andere Moeglichkeit gibt es nicht. Das Ganze hoert sich jedenfalls ziemlich endgueltig an, und wegen der Aussicht, in einem Vierteljahr ohne Wohnung da zu stehen, ist mir etwas mulmig zumute." Richard raetselte, wie stark Ali das Problem tatsaechlich beschaeftigte. Natuerlich, sie hatten ueber die Kuendigung geredet und waren sich einig, dass es jetzt offenbar ernst wurde. Aber er wusste, der Freund hatte nur einmal mit Lohrmann Kontakt gehabt, und nahm sich auch sonst fuer das Problem wenig Zeit, das Thema wurde immer nur nebenbei behandelt (und nebenbei liess er verlauten, in Hamburg gefalle es ihm nicht mehr, Berlin sei viel schoener ...). Es gab ein paar verschwommene bis hochtrabende Ideen, wie man den staedtischen Pressionen begegnen konnte, die aber nie ausdiskutiert wurden, nicht mal der bevorstehende Rausschmiss schien die Leute aus ihrer Lethargie zu reissen. In der Zeit mit Ursula hatte er die Verhandlungen gefuehrt, doch nach der Trennung die Finger wohlweisslich weggezogen, wie vor einem Topf siedenden Oels, im Vergleich zu den Trennungsschmerzen schien ihm die drohende Kuendigung laecherlich harmlos, alles was er in dieser Richtung unternahm, jeder Kontakt mit der Sanierungsbehoerde, erinnerte ihn an Ursula, an die mit ihr verbrachten Wochen und die anschliessende Demuetigung, als sie kalt und unbarmherzig die Beziehung abgebrochen hatte. Auch wenn sie in seiner Gedankenwelt keine so dominierende Rolle mehr spielte (mit jedem Tag, den er zwischen sich und das Rathaus legte), spuerte er wenig Neigung, ihr ueber den Weg zu laufen. Er wuerde ihr (und der Welt) niemals vergeben, er gehoerte nicht zu jener Spezies von Maennern, die freundlich laecheln, wenn man ihnen einen Tritt verpasst, und mit ihrer Verflossenen noch jahrelang guten Kontakt pflegen, womoeglich in der uneingestandenen Hoffnung, dass sie zu ihnen zurueckkehrt. Sowas hielt er nicht aus. Wenn er ueberleben wollte, konnte der Abstand gar nicht gross genug sein. Vermutlich ging es den Anderen mit der Kuendigung aehnlich, dachte er. Jeder hatte sein eigenes Ding im Kopf und keinen Bock, viel Arbeit in eine aussichtslose Sache zu stecken. Sie waren jung und unabhaengig und wussten, dass sie im Notfall schnell eine Alternative finden wuerden. So schoen die aeussere Lage des Hauses, sowenig fuehlten sie sich ihm als Heimat verbunden. Jugend nomadisiert, braucht kein echtes Zuhause, sie traegt es im Herzen und kann selbst in der Verbannung gluecklich sein. Die Alten, die bedurften vielleicht, in Schwaeche und Bitterkeit, eines realen Ortes der Ruhe und Rast. Altern aber, das hatte sein Vater vor Jahren bekannt, begann unweit der Dreissig, so habe es die Natur eingerichtet, auch wenn dynamische Politiker und Manager gegen diese Einsicht sich straeubten und das Bild einer Scheinjugend verbreiteten, in dessen Windschatten sie konservative Vorstellungen durchsetzten. Sicher, es gab Leute, die schon mit 20 wie ihre eigenen Grosseltern dachten und auftraten, und es mochte auch 40-jaehrige geben, die taufrisch wie Twens waren, aber im Grossen und Ganzen, fand er, traf die Parole 'Trau keinem ueber 30' zu. Rolf war neunundzwanzigeinhalb und sagte jetzt aufmunternd: "Die wollen Euch nur einschuechtern. Es ist nicht so einfach, vor Gericht einen Raeumungsbeschluss zu erwirken; und die Raeumung dann auch durchzuziehen, steht noch mal auf einem anderen Blatt. Wenn die Leute standhaft bleiben, dauert es Jahre, bis der Vermieter sie draussen hat. - Aber auf den Brief muesst ihr gebuehrend reagieren; teilt ihnen kategorisch mit, dass ihr auf keinen Fall ausziehen wollt." "Das auf jeden Fall", sagte Ali. "Wir haben auch schon verschiedene Aktionen in Planung, am Bahnhof Flugblaetter verteilen, in der Nachbarschaft Unterschriften sammeln, und vielleicht eine Info-veranstaltung. Das wird ihnen klar machen, wie ernst die Lage ist." "Ich finde, ihr habt eine Latte von Dingen, mit denen ihr in der Oeffentlichkeit punkten koennt, auch wenn ihr juristisch am kuerzeren Hebel sitzt. Ein wichtiges Argument ist doch, und da sollten viele Nachbarn hellhoerig werden, dass solche Haeuser zu sehr hohen Preisen verkauft werden - denn die Stadt will natuerlich Gewinn machen - und daher in betuchte Haende fallen, und die werden mit ihrer Sanierung, die dann unzweifelhaft bevorsteht, und mit ihrem ganzen Anhang und Umgang den Charakter des Viertels veraendern - siehe Poeseldorf." "Klar, diesen Aspekt werden wir natuerlich rausstreichen. Allerdings ist die Frage, ob alle Nachbarn einhellig unserer Meinung sind. Zum Beispiel die Lehrers von nebenan werden bestimmt froh sein, uns loszuwerden, die haben auch schon Wind von der Sache gekriegt und erzaehlen jedem das genaue Gegenteil, ich meine, von dem, was du gerade gesagt hast, sie behaupten, das Haus wird an ganz normale Leute verkauft, was sie so unter ganz normalen Leuten verstehen, an Leute wie sie eben, mit dickem Einkommen. - Ich will damit sagen, es ist nicht von vornherein ausgemacht, dass wir alle auf unserer Seite haben." ------- Unter solchen Betrachtungen ging die Demo zu Ende. Es hatte keine groesseren Zwischenfaelle gegeben und anstelle der nach Massenschlaegereien und -verhaftungen ueblichen Anspannung machte sich auf der Rueckfahrt in den Bussen Ausgelassenheit breit. Waehrend man vorne Oekolieder anstimmte und auf den mittleren Raengen vor sich hindoeste, lagen hinten etliche Bierleichen herum, und Mancher wunderte sich halb neidvoll, halb empoert ueber das ploetzliche und massenhafte Auftauchen von Biertraegern. Dieters Durst wurde durch Britta abgelenkt, die endlich ihren verdienten Platz neben ihm einnahm, die Uebrigen troesteten sich mit heiteren Erwartungen an die morgige Fete, ob Otto und Martin sie gut vorbereitet und wenigstens die Getraenke besorgt, oder, was ihnen zuzutrauen war, mal wieder alles verpennt hatten. Mitternacht waren alle zuhause, und bald schliefen sie fest, es war ein bekoemmlicher Ausflug gewesen, mit viel Frischluft fuer kraenkliche Nikotinkreislaeufe. Nur Britta und Dieter waren nervoes und unsicher, und uneins ueber das weitere Vorgehen. Sie wollte nicht allein schlafen und draengte ihn wie selbstverstaendlich in ihr Zimmer; doch nein, das mochte er nicht, er wollte es anders haben als wie sie gewoehnlich nach seiner Kenntnis ihre Abenteuer betrieb, und (wiewohl er damit ein Risiko einging, er kannte ja gewissermassen nur die aeussere Huelle ihrer Liebschaften und Beziehungen; hein bloed ausserdem, wann wuerde er je wieder so ne Gelegenheit bekommen!?), und hatte sichs in den Kopf gesetzt, nicht gleich am ersten Tag mit ihr schlafen. Um sie nicht zu verprellen, musste er seine Gruende genau darlegen, also fuehrte er sie aus dem Flur in die Kueche ins Licht, stellte sich breitbeinig vor sie und nahm ihre Haende. Dann sah er ihr geradewegs in die Augen, sprach ein paar Takte dazu, und so akzeptierte sie seine Entscheidung (Wenn er's so wollte! Maenner erst ueberreden zu muessen ..., damit hatte sie keine Erfahrung) und hielt sich zurueck, fand aber, er machte zuviele Umstaende und sollte die Sache lieber nicht so hoch haengen. Wenn es auch die Spannung erhoehte, verpassten sie doch eine schoene Gelegenheit. Der naechste Tag ging so dahin, in einer seltsam befriedeten Stimmung. Britta fuhr gewohnheitsmaessig frueh mit dem Bus zu ihren Eltern in die Vorstadt und obwohl sie sich morgens nicht mehr gesehen hatten, blieb Dieter den ganzen Tag in einem Zustand froher Erwartung. Abends raeusperte sich das Telefon, es war Guenter, unter Rauschen und Autobahnlaerm: "Sag mal, kannst du mich abholen?" bat er, "ich steh hier an der Raststaette und komme nicht weg." - In Itzehoe war alles ganz einfach gewesen, nun aber sass er schon zwei Stunden in Rellingen fest, und wollte wegen der paar Kilometer nicht laenger warten. Schicksalsergeben machte sich Dieter auf den Weg, ganz wohl war ihm nicht, denn sie wuerden nicht rechtzeitig auf der Fete sein, das war mal sicher, und Britta wuerde sich wundern, er nahm wenigstens an, dass sie sich wundern wuerde, und wahrscheinlich beschweren. (Wenn er die Wahrheit gekannt oder in die Zukunft haette sehen koennen, er haette Guenter garantiert stehen lassen und waere schnurstracks zur Stresemannstrasse gefahren, um sie nicht aus den Augen zu lassen.) ------- Zur selben Zeit, als er Guenter aufpickte, stieg die Frau seiner Traeume am Holstenbahnhof aus der S-Bahn, die Halle war eine Hinterlassenschaft der Hohenzollern, eine hohe, haessliche, rostige, altersschwache, renovierungsbeduerftige und von allen Sanierungsbeauftragten anscheinend uebersehene Stahlkonstruktion, aus der bei Sturm schon mal Glas splitterte. Ohne Eile stieg sie zur Strasse hinunter, breite, von zigtausend Schuhen abgewetzte, rissige und notduerftig ausgeflickte Stufen, orientierte sich kurz im Licht der haushohen ueber der Bushaltestelle schwebenden Laterne und wandte sich links. Wucherpfennig, die Autovermietung, ein leerer, morastiger, potenziell wertvoller Bauplatz, woneben die Steinplatten des Fussweges abgesunken waren, so dass sich bei Regen dort reichlich Wasser sammelte, das ewige Bremsen und Anfahren der Kraftwagen, hier verengten und kreuzten sich vierspurige Fahrwege. Trotzdem Wohngebiet, nach allen Seiten 6-stoeckige Altbauten, 20er, 30er, 40er Jahre, reckten schaebige, nutzlose Balkone wie neugierige Nasen sich vor, als koennten sie vom Verkehr gar nicht genug kriegen. Wirklich keine Lage, wo man gern wohnte, der Krach auch in hoeheren Stockwerken noch deutlichst zu hoeren, und hinten, praktisch im Garten, fuhr auf Stelzen die S-Bahn vorbei. Britta passierte Laeden, in denen schon lange nichts mehr verkauft wurde, weil sich in solcher Umgebung Kundschaft nicht einfindet, nur ein paar Troedler und Kohlenhaendler hatten die Zeit ueberdauert. Weiter hinten, bei der Sternbruecke, auch so'ne haessliche, staubige Metallkonstruktion, tief ueber der Strasse haengend, dass man sich fragte, wie die grossen Laster darunterpassten, aber das Stadtbauamt hatte die Fahrrinne einfach tiefer gelegt (genial!), lebte frueher mal ein Bekannter. Laengst ausgezogen, hatte Laerm und Gestank nicht ertragen, selbst in Abwaegung der niedrigen Miete nicht - nur Laura, Kalle und Martin, die hielt es immer noch hier. Vor dem Haus stauten sich Raeder und vorschriftswidrig parkende Autos. Im Moment stand die Ampel hinten beim Bahnhof auf rot, kein Diesel droehnte, kein Reifen peitschte das Pflaster; und aus offenen Fenstern rinnender Beat vermischte sich mit dem Regen und tropfte Voruebergehenden ins Ohr. Die Wohnung war wesentlich besser geschnitten als die Lippmannstrasse, kein langer Schlauch von Flur, wo die Raeume wie stehende Fahrgaeste in einem Bus nach irgendwo dranhingen, sondern alles quadratisch, angenehm funktionell. Sie kannte die Zimmer von frueheren Besuchen; Martins mit Regalen und Moebeln randvoll, Ellens Kleider in mehreren Lagen achtlos darueber drapiert, in der Mitte des Raumes lag schief auf dem Boden die grosse Matraze und unter dem Fenster, von wuchernden Blumen verdeckt, stapelten sich viel-zerlesene Buecher; Lauras voll Vasen und Nippes, ihrem herben Charakter entgegengesetzt, und ein riesiger, von Kalle liebevoll restaurierter und von ihr selbst mit raetselhaften Ornamenten geschmueckter Sperrmuellschrank; Kalles wie man's erwartete, ueber und ueber beladen mit Elektronikschrott, so dass man nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, feststellen konnte, ob er ueberhaupt Moebel oder auch nur ein Bett besass, nur ein Werktisch war auszumachen, mit Schraubenziehern, Loetkolben, Messinstrumenten und ein paar zerfledderten Vorlesungsheften. Im Moment war die Wohnung nicht wiederzuerkennen. Matrazen und Moebel hochkant beiseite gestellt, Lauras Zimmer zur Tanzflaeche leer geraeumt (bis auf Martins Anlage), bei Kalle und Ellen und auch in der Kueche viel Platz zum sitzen und kloenen, nur Horst war mal wieder in Friesland. Wurde spaetabends zurueck erwartet, war jedoch fraglich, ob er bei der Fete mitmachen oder sich in sein Zimmer einschliessen und ueber das Remmidemmi aegern wuerde. Es war nicht die Fete der Feten, das sah sie gleich, zum einen die Gaeste, und dann erst die Organisation, zu sorglos und fluechtig war alles vorbereitet, von Maennern hauptsaechlich! Die Bierkisten einfach im Flur gestapelt, wo sich jeder bedienen konnte, und in der Kueche lagen paar Brote, zwei grosse Messer und Aufschnitt daneben. Deutlich zu wenig Frauen dabei, obwohl das konnte sich aendern, Frauen kamen meist spaeter am Abend. Okay, gegen Frauenmangel hatte sie nichts, unterhielt sich sowieso lieber mit Typen, die waren viel lustiger, Frauen zu ernst oder wenn-dann benahmen sich merkwuerdig schrill, kuenstliche Scherze und Lache und so, oder bloedes Gekicher, wenig Humor. Natuerlich war Ulla da, und wenn Ulla da war, liess sich nicht gut mit Otto albern, also schlenderte sie weiter und guckte in alle Raeume. In der Kueche fand sie nach einigem Stoebern einigermassen anstaendigen Wein; wenn sie nicht bald was zu trinken bekam, wuerde die Fete ein Reinfall. Sie zog weiter mit Weinglas und offenen Augen, quatschte mit diesem und jenem, und irgendwann zwischendurch, die Fete kam gerade in Schwung, fiel ihr der Junge auf, schauernasser Neuankoemmling mit dichter Matte und zweifelloser Miene, und spaeter, als sie noch immer herumstreifte und nichts rechtes anzufangen wusste, gesellte er sich zu ihr, ganz wie von selbst, obwohl sie ihn nicht kannte und nie vorher gesehen hatte, doch sowas ist manchmal ein Vorteil, gehoerte zu irgend'ner anderen Clique, war wohl auch juenger, achtzehn vielleicht, ganz huebsch, trotz Pickeln, mit teils noch kindlichen Zuegen. Sie unterhielten sich froehlich und diebisch, er ging einfuehlsam auf sie ein, wie nur wenige Maenner vermoegen, als haette sich etwas von der Weichheit und Fuelle seiner Haarpracht unter den Schaedel aufs Denken uebertragen, und seine Augen sprachen mit begierigem Glimmen; dazu war er schoen, ein Gluecksfall, verglichen mit den uebrigen Gaesten und Guenters Freunden zumal, und huebsch wie gesagt, gut gebaut, das spielte schon auch eine Rolle. So hielt man geradewegs aufeinander zu, wie hypnotisierte Billardbaelle, die sich unweigerlich treffen muessen. Zwei Glaeser Wein schnell in den Schlund geschuettet, den hintersten Winkel in Kalles rotduesterem Zimmer lokalisiert, und schon sass, lag sie mit dem Typ dort auf dem Sofa, Leib und Lippen aneinandergepresst, Dieter war ihr egal, sie brauchte das jetzt, haette's schon gestern abend gebraucht. ------- Dieter sass momentan am Steuer seines Opel und sagte: "Mit dem Auto ist es ganz schlimm geworden, ich ueberlege ihn abzuschaffen." "Wieso, was iss los damit." "Siehst du, du kriegst solche Sachen gar nich mehr mit, weil du meist in der Hafenstrasse bist ... Sobald es etwas kaelter wird, geht die Batterie in die Knie. Ich muss sie dann abends ausbauen und ins Haus schleppen und an den Ofen stellen, wenn ich den Wagen am naechsten Morgen benutzen will." "Ach je, iss ja n echtes Sensibelchen, dein Akku, und zu Hause packst du ihn in eine warme Decke und gibst ihm ein paar Streicheleinheiten." Guenter war offenbar bester Laune. Dieter ging es nicht so gut, wenn sie zurueckkamen, war die Fete halb vorbei. "Du lach nicht", sagte er brummig, "das ist kein Witz, das iss ne beschissene Schlepperei, besonders wenn ich morgens noch stundenlang den renitenten Ofen in Gang bringen muss, sonst bleibt es bei mir den ganzen Tag kalt, also Kohlen hochschaffen, Briketts rein, und dann mit Gefuehl anzuenden, und die Luftzufuhr muss genau dosiert werden, wenn man zu weit aufdreht, ist das Zeug im Nu weggebrannt, und wenn man zu weit zumacht, hat man den ganzen Qualm im Zimmer, der Ofen vergibt einem nichts." "Das kenn'ich, bei uns sind die Oefen auch nicht besser, und den Qualm hast du standardmaessig, teilweise sind sie von den Leuten selbst ziemlich unprofessionell eingebaut ... so ist es eben, wenn kein Kalle da ist und keiner, der Ofensetzer gelernt hat, macht man sowas pi mal Daumen, und es kommt nichts vernuenftiges dabei raus. - Aber hoer mal, dein Wagen iss doch so alt, iss doch logisch, dass du mit dem Schwierigkeiten hast. Und dann die Farbe! Die haette mich schon lange genervt, ich haett ihn einfach umgespritzt, so hellblaue Opel fahren doch Spiesser, wenn sie neu sind, und wenn sie so alt sind wie deiner, sind es Halbstarkenautos. Wozu brauchst du ihn ueberhaupt? In der Stadt ist es mit Bussen viel bequemer." "Stimmt, ohne Auto haette ich dich nicht abholen muessen und waere schon laengst auf der Fete." "Du hoer mal, wenn es dich nervt, mich abzuholen ..." "Nein, nein, schon gut, kein Problem ... aber wie ist es dir ueberhaupt ergangen, erzaehl mal, wie bist du in Itzehoe gelandet", wechselte er das Thema und liess sich von Guenters Stimme und dem Geraeusch des Heizungsventilators in eine Art Trance versetzen. Der Sonntagabendausflugsverkehr rollte zaehfluessig dahin, fremde Scheinwerfer erhellten hektisch das Wageninnere, kreisten hierhin und dorthin und weiter. "...das Ende vom Lied war, dass ich die Nacht auf ner kalten Wiese verbringen musste", er war bei der Demo gewissermassen verloren gegangen. "Ich bin zwar erst noch weitergelaufen, solange es hell war, und habe am Schluss total die Orientierung verloren, es war die scheusslichste Nacht meines Lebens, kann ich dir sagen, obwohl ich einiges gewohnt bin, es gibt da weit und breit keine menschliche Siedlung, nicht mal Bauernhoefe." Er hatte in weiter Ferne und unter aeusserster Anstrengung seiner Augen ein Haus oder den Schatten eines Hauses ausgemacht, oder was man den Umrissen nach dafuer halten konnte, doch als er naeher herankam, erwies es sich als verwitterter, windschiefer Unterstand auf einer Wiede. Da die Nacht hereinbrach und er allmaehlich nichts mehr sehen und jederzeit ueber einen Verhau oder ein Wasserloch stolpern konnte, beschloss er, da zu bleiben, auch wenn es fast so kalt wie draussen war und durch alle Ritzen zog, und es gab auch nichts, wo man sich hinlegen konnte, ausser getrocknete Kuhfladen, aber zumindest vor dem groebsten Sturm schuetzte der Unterstand. Ergeben hockte er sich ins hinterste Eck, wo er sich anlehnte und auf eine lange einsame Nacht einrichtete, vor dem Morgengrauen wuerde er nicht weiterkommen. Und wirklich war die ganze Zeit nichts zu hoeren ausser dem Sturm und dem pfeifenden Ruf eines Uhu. Er legte sich schraeg links und dann auf die rechte Seite und irgendwann musste er eingeschlafen sein; denn auf einmal befand er sich mitten in einem verrueckten Traum, von dem er Dieter jedoch sicherheitshalber nichts erzaehlte. "Die Nacht war arschkalt, und ich konnte nicht wieder einschlafen. Sobald es daemmerte, bin ich hungrig und todmuede weitermarschiert und dann relativ schnell auf eine Strasse gestossen, du kannst dir meine Erleichterung nicht vorstellen. Und nachdem ich ne Weile so dahingegangen bin, mit halb hochgestrecktem Daumen, hat mich endlich jemand mitgenommen." Die Strasse war total einsam gewesen, kein Haus in der Naehe, nur wenige Autos, und er wusste ueberhaupt nicht, wo er sich befand und welche Richtung er einschlagen sollte. An einer Stelle meinte er durch Dunst und Hochnebel etwas Helles am Himmel wahrzunehmen, musste Osten sein - oder auch nicht, vielleicht waren da nur die Wolken duenner, und selbst wenn da Osten war, was nuetzte ihm das, die naechste Ortschaft konnte ebensogut nach Westen liegen. Zwei, drei Autos fuhren vorbei, ohne auf sein Winken zu reagieren. Ab einem bestimmten Alter und Mass an Gesetztheit hatten die Leute Panik vor Anhaltern, er konnte sich vorstellen, dass sie sein schmutziges Zeug nicht auf ihren Schonbezuegen und die schlammigen Stiefel nicht auf ihren Fussmatten haben wollten. Auch n Junge in nem alten R4 liess ihn stehen, na-gut, es war ne verlassene Gegend, da hatte wohl jeder n bisschen Angst vor daherlaufenden Wald- und Wiesenschraten. Er musste es weiter versuchen, irgendwer wuerde schon anhalten; oder wenn-nicht, musste er weiter marschieren, bis ihm die Fuesse weh taten auf dem harten Asphalt, der Fahrweg musste ja irgendwo hinfuehren. Und wieder von hinten Motorengeraeusch, schrill hechelnd, eine ganz alte Muehle, der die Feuchtigkeit zusetzte, und ohne sich umzudrehen, hielt er den Arm raus. Dann war sie vorbei und fast im Nebel verschwunden, als ploetzlich Bremslichter leuchteten, seltsam kraftvolles Licht in dieser kontrastarmen Welt. Guenter beschleunigte beflissen seine Schritte, er rannte. Als er herankam, erkannte er durch die beschlagene Scheibe, seis an Schnitt und Farbe der Haare oder der Form des Kragens, dass es sich um eine Frau handelte, und als sie sich umdrehte, dass sie fuenf oder zehn Jahre aelter war als er - "schnell, steigen Sie schnell ein", rief sie sonderbar heftig und er wunderte sich, wie man es sonntagmorgens in der Wilster Marsch so eilig haben konnte - und als er einstieg, dass ihre Haut trocken war und sonnenbankbraun, seis vom Rauchen oder vom Sonnenbankbraeunen, denn wirklich stank der ganze Wagen nach Zigaretten, und es dauerte nicht lange, da bot sie ihm eine an und schweigend rauchten sie ... Wohin er wolle, fragte sie ihn. Nach Hause, nach Hamburg, antwortete er kraechzend, er musste erst seine Stimme wiederfinden. Leider fahre sie in die entgegengesetzte Richtung, ob er nicht auf ein anderes Auto warten wolle? Nein, nein, er habe sich verlaufen, erklaerte er hastig, sei froh, dass ihn ueberhaupt jemand mitnehme, in welche Richtung auch immer. Sie fahre nur bis Moorkamp, das naechste Dorf, 10 km entfernt, wo sie Verwandte besuche. Ganz schlechte Verkehrsanbindung, "die Busse verkehren nur zweimal am Tag, frueh morgens und abends, du kannst von Glueck sagen, wenn die Telefonzelle funktioniert!" "Alles bequemer als in der Kaelte spazierengehen", gab er zurueck, "vielleicht nimmt mich aus dem Dorf jemand mit." Die Waerme im Innern des Wagens war wie eine wunderbare fuenfte Kraft, die sich langsam seines Koerpers bemaechtigte. "Ja vielleicht", stimmte sie zu, und dann verfielen beide wieder in Schweigen, bis sie an einer Einfahrt vorbeikamen, da hielt sie mit quietschenden Bremsen, dass es hinten schepperte, es hoerte sich sehr nach defektem Stossdaempfer an. Sie fuhr aber rueckwaerts hinein und drehte, und sagte unvermittelt: "Ich besuche meine Mutter ein andermal. Ich fahr jetzt mit dir nach Itzehoe. Von da geht jede Stunde ein Zug nach Hamburg ..., oder ich kann dich auch an der A23 absetzen." "Iss doch nich noetig", wollte er sagen und raetselte, womit er die Gefaelligkeit verdient hatte, liess sich aber nichts anmerken, sondern bemerkte bloss: "Ja, Autobahn waer gut. Da find'ich bestimmt ne Mitfahrgelegenheit." Wieder verfielen beide in Schweigen, und da ihm nichts besseres einfiel, bewunderte er ihre Knie und den Ansatz des rechten Schenkels unter dem Mantel, das meinte er ihrer Zuvorkommenheit schuldig zu sein. "Was machst du denn so", begann sie ihn auszufragen, und nachdem er das Noetigste abgehaspelt hatte, fing sie von sich an. Doch obwohl man sich alles moegliche haette erzaehlen koennen, wollte kein rechtes Gespraech in Gang kommen, eine seltsame Scheu hielt sie ab, zuviel von sich preiszugeben. "Die Abfahrt liegt auf der anderen Seite", sagte sie nach einiger Zeit, als sie die aeusseren Stadtbezirke erreichten, die sich sonntaeglich verschlafen in die gruenbraune Windschaft duckten. Schliesslich waren sie da. Sie brachte die alte Kiste in einer engen Kurve zum Stehen, wo es zur Abfahrt hinunterging. Er wollte sich bedanken und aussteigen, doch da hatte sie ploetzlich gesagt: "Du, wenn Du Hunger hast ... Du koenntest bei mir n bisschen was essen warmen Tee trinken. Wahrscheinlich hast Du kein Geld dabei." ------- Britta knutschte derweil wie wild mit dem Typen, liess sich besinnungslos ueberall anfassen und dachte sich auch nichts weiter, als er sich ploetzlich an ihrer Hose zu schaffen machte. Zuerst wollte sie nicht, waren ja Leute im Zimmer, wenn auch nicht viele, die trotz Schummerlicht einiges mitbekamen. Er spuerte die Abwehr und knetete ihren Hintern mit der einen Hand und zog ihren Unterleib zu sich heran und fuhr mit der andern so leidenschaftlich ueber ihre Brustwarzen, dass sie jeden Widerstand aufgab und sich willenlos Hose und Slip abstreifen liess. Er verfuegte ueber beachtliche Erfahrung, ruckzuck war sein Ding in ihr drin, und trotz der stoerenden Beinkleider geriet sie voellig in den Bann dessen, was er mit ihr anstellte, und egal, was die anderen mitbekamen, sie war im siebenten Himmel, und an Dieter dachte sie jetzt bestimmt nicht. Dann war's schon wieder vorbei, der Juengling war fertig, doch das reichte ihr im Moment, war mehr als sie gestern bekommen hatte. Dies ganze Getue und Haendchenhalten fuehrte doch zu nichts, zu gar nichts, ausser zu Ausweichmanoevern. Bis Dieter zu Potte kam, waren die besten Gelegenheiten schon wieder passee, und wenn man ihn brauchte, war er nicht da, das sah man ja jetzt. Der Typ stand auf, machte sich die Hose zu und grinste sie von oben an. Seiner bisher bewiesenen Gewandtheit zum Trotz, schien ihm momentan nichts Passendes einzufallen, wozu auch, sein Trieb hatte jedes Ziel erreicht, das er bei Britta erreichen konnte, und da beide es nicht gewohnt waren, von sich aus aktiv zu werden und nach Adressen oder Telefonnummern zu fragen, und auch kein grosses Beduerfnis danach verspuerten, entfernten sie sich eilig voneinander, ohne zurueckzublicken, so wie die Billardbaelle nach dem Zusammenprall, quasi erinnerungslos, in verschiedene Richtungen auseinanderlaufen. ------- Ali war auf der Suche nach Kalle, als er bei dessen Zimmertuer ploetzlich auf Ellen prallte; sekundenlang standen sie sich gegenueber und ihre Gesichter beruehrten sich fast. "Hallo." "Ach Hallo." Sie waren sich mehrmals in der Klopstockterasse begegnet, und jetzt erkannte er etwas in ihren Augen, eine Art Hunger oder Verlangen, und wusste sofort, dass es einen Versuch und das Risiko wert war. "Schon erstaunlich", sagte er, "wir haben uns so oft gesehen, aber noch keine 3 Worte gewechselt, du kommst ja meist nur mit Martin zu uns", und in dem geringfuegigen Vorwurf lag ein feingesponnenes Netz, worin sich Ellen verfangen konnte oder auch nicht. "Ach, mit Martin bin ich gar nicht mehr so ... Zeitweise waren wir staendig zusammen, aber auf die Dauer tut mir so eine enge Beziehung nicht gut. - Ich wollte mich uebrigens schon immer mit dir unterhalten", wisperte sie, wobei sie sich noch naeher an ihn heranschob, "du machst so wahnsinnig interessante Sachen, ich meine tolle Reisen und so." Dass sie mit ihm in einem Zimmer hauste, schien sie Luegen zu strafen, doch was wusste man schon von solchen Zweierbeziehungen, sagte sich Ali, er hatte Paare erlebt, die jahrelang zusammenlebten, ohne dass sich irgendetwas zwischen ihnen abspielte. "Ich auch, ich faende das wirklich schoen", erwiderte er sanft. "Aber hier ist es zu laut, um vernuenftig zu reden." Die Musik war zum Crescendo hochgedreht, so dass man fast bruellen musste, um sich zu verstehen, in der Kueche hatten sie deshalb laengst die Tuer zugemacht. Die uebrigen schien der Laerm nicht zu stoeren, weil sie die laute Musik mochten oder ohnehin nichts zu sagen gewusst haetten, oder sie fanden sich phlegmatisch mit dem Getoese ab, rauchten nervoes, bis die Augen traenten oder soffen ein Bier nach dem anderen, und beaeugten Ellen und Ali. "Wie waers, wenn wir nachher noch zu mir gehen", setzte er nach. "Ich habe massig Photos mitgebracht, die ich dir gern zeigen wuerde. Was haeltst du davon?" "Du, das wuerde mich wahnsinnig interessieren", sagte sie mit belegter Stimme. "Ich war noch nie in Portugal. Wahrscheinlich hast du dort jede Menge wichtige politische Erfahrungen gemacht." "Okay", sagte er, "wie spaet ist es jetzt? 11 Uhr. Ich will noch das Bier austrinken. Wie waers, wenn wir uns um halb 12 auf den Weg machen." Sie war einverstanden. Sie haette sich auch sofort auf den Weg gemacht, um diesen auszuspinnenden Faden nicht zu verlieren, oder morgens um 5. Sie allein wusste, wozu sie bereit war, waehrend Ali mehr so ins Blaue schoss. Martin wuerde sich aergern, wenn er was mitkriegte, doch das war Ali egal. Dies ewige bloede Geschwafel mit Richard! Jetzt in der Kueche waren sie schon wieder zugange, mit einem Japaner, den er nicht kannte. Letztlich war es aber ganz gleich, ob und mit wem Ellen befreundet war. Sich ueber die Eifersuchtskrisen anderer Leute Gedanken zu machen, lag jenseits seiner Empfindungsbereitschaft. Beim Sex auf die Gefuehle der Konkurrenz Ruecksicht zu nehmen, so eine Anwandlung haette er albern gefunden. Er hatte tatsaechlich einiges aus Portugal mitgebracht, Erinnerungen an arme verschlafene Hafenstaedte mit wenig Verkehr und ueberall Spuren des Kolonialismus und laengst verflogener Ausbeuterherrlichkeit, an Haufen schmutziger Kinder in verkommenen Gassen, Maerkte und Plaetze voll alter schwarzgewandeter Weiber, deutsche Jugendliche, die eilig die breiten Avenidas ueberquerten, atlantische Winde, trocken, stetig und warm, das naechtliche Gewusel und die Dunkelheit auf dem Zeltplatz, nur bei der Einfahrt warfen zwei schlappe, schaukelnde Birnen seltsames Licht, dort stand man in Gruppen herum, junge Maenner mit Bierflaschen, wenig Frauen dabei, die uebrigens hatten die Auswahl, fanden flink fluechtige Gefaehrten. ------ Eine Zeitlang hatte Britta benommen in der Ecke gesessen. "Das war nicht schlecht", dachte sie immer wieder, "war genau, was Dieter mir gestern vorenthalten hat. Das haette er auch kriegen koennen." Der Juengling war anscheinend schon zur naechsten Fete weitergezogen. Was gut war; denn auf dem Weg zum Klo, wo sie die Kleider ordnen wollte, sah sie Dieter mit Guenter zur Tuer hereinkommen. Es war zwar nicht die grosse Katastrophe, wenn er Wind von der Sache bekam, und vielleicht klaerte ihn sowieso jemand auf, ein paar hatten sicher mitgekriegt, was sich auf Kalles Sofa abspielte (wenn auch ein Tisch davorstand) ... aber man brauchte nicht unnoetig die Pferde scheu machen. - Dieter war wie ausgewechselt, aufgekratzt und freudig erregt, nichts von jener schwarzen Laune, die er sonst manchmal auf Feten verbreitete. Vielleicht hatte das Stadtleben doch seine Vorteile, dachte er, man kannte massenhaft Leute und konnte fast jeden Tag einen draufmachen. Er lief vom einen zum andern, begruesste jedermann ueberschwenglich und hoffte, dass Britta ihm endlich ueber den Weg lief. Er fand sie Kraecker knabbernd vor dem Fernseher. Sie blickte treuherzig hoch, als er sie an der Schulter beruehrte, und schob sich eine Salzstange in den Mund. "Willst du tanzen?" fragte er froehlich. "Lass mich noch paar Minuten hier sitzen, der Film ist gleich zu Ende, ich komme gleich nach", sagte sie. Das war immerhin keine Absage, dachte er und trollte sich zufrieden zur Tanzflaeche, und statt gelangweilt herumzustehen, begann er schon mal zu tanzen, huepfte wie wild und stampfte mit den Fuessen auf, das loeste die Spannung, begann zu schwitzen und warf sein Flanellhemd beiseite, derweil sich Britta noch kurz in die Kueche stahl. Der Wein war fast alle, wie konnten die glauben, mit drei Flaschen auszukommen!, und nach Bier stand ihr ueberhaupt nicht der Sinn, Bier schmeckte doch nicht, Bier war was fuer Guenter und Kalle und ihre Konsorten. - Ganz hinten, bei der Spuele, blinkte eine Flasche Wodka, mit silberhellem Etikett, Sinnbild der russischen Kaelte. Zoegernd griff sie danach, nahm noch zwei Saftflaschen und machte sich einen Cocktail. Schmeckte nicht schlecht, vertrieb vor allem die seltsame Unruhe, die der kurze Geschlechtsakt bei ihr hintergelassen hatte. Sie schlenderte einmal durch die ganze Wohnung und als sie in die Kueche zurueckkam, war das Glas leer, und sie mixte sich noch eins. Gut, dass Richard und Martin so abgelenkt waren, sonst haette sie sich bestimmt bloede Sprueche anhoeren muessen. "Ich werde den Text mal holen", sagte Martin eben, und tauchte mit einem gelben Notizbuch sofort wieder auf. "Ich denke, man kann die Bedeutung des Geldes fuer's Bewusstsein gar nicht hoch genug einschaetzen. Sohn-Rethel geht der Frage nach, wie das Geld unsere Vernunft beeinflusst - oder auch beeintraechtigt." "Sohn-Rethel nicht viel Wert legen auf Geld", sagte der offenbar ebenso belesene Japaner. "Geld bei ihm wenig, aeh ... bedeutet; den Tauschvorgang analysieren, welche schon in primitivsten Gesellschaft gibt, darinnen schon alle Momente des Denkens enthalten, welche bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft zaehlen, Quantitaet, Qualitaet, Relation, Modalitaet." Wenn er Kant liest, warum ist sein Deutsch dann nicht besser, dachte Britta ungezogen. Sie starrte ihn neugierig an. Sein gelbes Gesicht war mit Aknenarben uebersaet und auf der Stirn wuchsen Haare bis zu den Augenbrauen. Er aber reagierte ueberhaupt nicht auf sie, und auch sein schlechtes Deutsch schien ihn nicht weiter zu stoeren oder zu behindern, sein Selbstbewusstsein konnte sich ganz gut in Szene setzen. "Saemtliche Knackpunkte der Erkennnistheorie und selbst ihre Antinomien spiegeln sich im Tausch", ergaenzte Martin (Noboru und er hatten im Sommer dieselbe Vorlesung gehoert), "zum Beispiel, die Beziehung zwischen Erscheinung und Ding-an-sich entspricht dem Verhaeltnis von Gebrauchswert und Tauschwert. Mehr noch, allein die Moeglichkeit der Erfahrung von Objekten und noch vorher, dass wir in unserem Denken ueberhaupt Objekte bilden, und wie wir diese Verstandesbegriffe auf die Erscheinungen anwenden, alldas lernen wir beim Tauschen, indem wir die Dinge oder ihre Erscheinungsformen als Ware betrachten. Und die Waren und das Geld machen nicht nur den Haendler reicher, sondern vereinfachen auch unser Leben." "Aber um welchen Preis", rief Guenter, der zufaellig hereinkam und den letzten Satz gehoert hatte, und begann den drei Philosophen seine schnoerkellose Weltsicht auseinanderzusetzen, nicht ein einziges Mal musste er dabei Kant oder Sohn-Rethel bemuehen. Richard wurde unruhig und zerriss ein Stueck Schockoladenpapier in kleine Fetzen, die er anschliessend zu runden Baellchen rollte. Noboru erhob sich von seinem Stuhl, stellte das linke Bein darauf und nickte wissend und hob zu einer laengeren Rede an, wobei er den Kopf senkte, die Augen zusammenpresste und seine linke Hand vorstreckte, so dass Daumen und Zeigefinger sich beruehrten und einen Kreis bildeten, der im Takt seiner Rede schwankte. Hinter dem Fenster zog traege die S-Bahn vorbei. Britta war jetzt ziemlich angetuetert. Sie mochte dem Wortgefecht nicht folgen und sah sich in der Kueche um. Die Kacheln waren aehnlich wie in der Lippmannstrasse, weiss mit blauen Einsprengseln. Fliesen waren frueher eindeutig schoener als heute! Rechts ging die Tuer zum Bad ab. Daneben die Spuele, ein niedrighaengendes Waschbecken, an dem sich mehrere Hausfrauengenerationen den Ruecken kaputtgemacht hatten, und dann der alte Kuechenofen, der zum Heizen verwendet wurde (wenn der mal richtig blank geputzt wuerde!). Zum Kochen gab es den Elektroherd, kein ganz neues Modell, der auf Stelzen daherkam. Links eine Front aeusserst geraeumiger Kuechenschraenke, so was koennten wir auch brauchen, dachte sie und befingerte eine der obenauf liegenden buntknisternden Chipstueten. "Ich verstehe Kants Ding-an-sich etwas anders", meldete sich Richard zu Wort, nachdem Guenter mit Schinken und einem Baguette verschwunden war. Er hielt sich zugute, die Kritik der reinen Vernunft vor Zeiten von der ersten bis zur letzten Seite gelesen zu haben. "Es ist fuer mich das, was von einem Gegenstand ueber bleibt, wenn man seine Erscheinungen identifiziert, analysiert und in den Griff gekriegt hat. Wobei dieser Vorgang der Analyse ein unendlicher Prozess ist, so dass man dem Ding-an-sich zwar immer naeherkommt, mit immer praeziseren Begriffen oder verfeinerten Versuchsanordnungen immer tiefere Schichten des Objektes enthuellt, es aber niemals wirklich erreicht. Es wird auch in Zukunft Grenzen unserer Erkenntnis geben, und wir werden sie auch in Zukunft ueberschreiten, in dem Masse, indem sich die technischen Bedingungen verbessern, also entsprechende Messgeraete undsoweiter, das alles ist Teil des historischen Prozesses ... Doch selbst wenn wir immer weitergehen, bis zum Ende der Geschichte, wird ein Kern uebrigbleiben, ein unzugaenglicher Rest. Wobei dieser Kern fuer verschiedene Forschungsgegenstaende durchaus verschieden sein kann, fuer mich ist das Ding-an-sich keine Universalie, sondern eben das spezielle Ding--an--sich", wobei er die letzten drei Silben sonderbar betonte, und Britta dachte, dass er dabei ein ziemlich dummes Gesicht machte. Sie mochte sich das Geschwaetz nicht laenger anhoeren; was die so von sich gaben!; klang alles irgendwie kuenstlich und gestelzt. - Und war es auch, normalerweise unterhielten sie sich viel lockerer, doch wenn eine wie Britta in ihr Wahrnehmungsfeld trat, konnten sie nicht unverkrampft reden, schon gar nicht ueber Waren- und Denkformen. Die Anwesenheit von Frauen aendert das maennliche Verhalten, manch einer, wie Otto und Ali, wurde witzig und unterhaltsam, wenn sie in seiner Naehe auftauchten, Richard und Martin verfielen in eine geschraubte Diktion, die sie vielleicht fuer geistreich hielten, von der aber keine Frau sich ueberzeugen liess. "Ich bin mir nicht sicher, wie weit Sohn-Rethels Analogien wirklich tragen", wagte sich Martin jetzt vor. "Denn es sind nicht viel mehr als Analogien und Metaphern, mit denen er arbeitet, darueber muss man sich klar sein, die irgendwo eine Grenze haben, beschraenkt sind, anders als fuer Sohn-Rethel ist fuer mich der Tausch KEINE Synthesis, jedenfalls nicht im selben Ausmass wie ein Denkvorgang, Tausch hat viel mit Gleichmacherei zu tun, die Waren und also die Dinge werden zu einer Form des Nichts degradiert und viele Abstraktionen der Vernunft arbeiten tendenziell in dieselbe Richtung, einerseits. Aber andererseits ...", hier kam er ins Stolpern, nuschelte, so dass man ihn kaum verstehen konnte, dann fing er sich wieder, "also, ich kann das im Moment nicht so klar ausdruecken ... jedenfalls hat die Vernunft in meinen Augen noch andere, zusaetzliche Momente, etwa das der Transzendenz, und der Utopie, ohne die wir hier gar nicht diskutieren wuerden - oder bloss ueber die Vermehrung unseres Geldguthabens." "Man sollte den Tausch nicht ganz negativ bewerten", sagte Richard, "durch den Tauschakt wird dem gewoehnlichen Nichts, das heisst dem Gar-nichts, etwas hinzugefuegt, es bekommt andere, das heisst bekommt ueberhaupt eine Qualitaet, das Nichts ist gleichsam der Topf, in dem die Moeglichkeit der Abstraktionen des Verstandes lagert." Britta hatte ihr Glas leer und stellte es mit lautem Klirren in die Spuele. Sie grinste entschuldigend und machte sich aus dem Staub. Sie war fuer Dieter geruestet. Breitbeinig postierte sie sich vor die Tanzflaeche und beobachtete ihn bei seinen Verrenkungen. Er schwitzte, und der Schweiss bildete feuchte Streifen auf seinem Unterhemd. War eigentlich recht huebsch, der Junge, mit den langen dunklen Locken, und gute Figur, kam durchaus in Frage. Wenn er sich nur nicht so ungelenk auffuehren wuerde, mit seinem Biofimmel und der ewigen Muffeligkeit - er war einfach nicht gluecklich, das verstand sie ja, aber warum mussten Andere darunter leiden? Ihr gegenueber benahm er sich besonders seltsam, wie ein rohes Ei behandelte er sie. Immer wenn sie verschiedener Meinung waren, steckte er sofort zurueck und traute sich nie, sie zu kritisieren. Das brachte in jedes Gespraech eine peinliche Komponente, mit der sie ueberhaupt nicht umgehen konnte, keine Frau konnte mit sowas umgehen, weil's einfach unangenehm war, jede wuerde sich postwendend zurueckziehen, weil's mit unterhaltsamen Maennern einfach angenehmer war. Egal. Jetzt, wo der Wodka richtig zu wirken begann, verschwanden solche Analysen im Nebel des Alkohols, der ihren Geist truebte und auf die reine (und ebenso mangelhafte) Wahrnehmung konzentrierte. Er hatte sich tanzend an sie herangeschoben und reflektierte ihr betrunkenes Blinzeln mit hingerissener Freude. Sie war die einzig wirklich begehrenswerte Frau in seinem Bekanntenkreis, fand er, die einzige, die fuer ihn in Frage kam. Er wusste, dass er sie lieben konnte, er wusste das schon lange, und haette sie schon laengst angebaggert, wenn nicht dauernd irgendwelche One-Night-Stands im Weg gestanden haetten, und wenn sie ihn nicht immer wieder geschickt abgewimmelt haette, mit lautem, seine scheuen Avancen als Scherz abtuendem Gelaechter oder abrupten Themenwechseln. Egal. Jetzt war alles anders. Jetzt konnte er sie bedenkenlos am Arm auf die Tanzflaeche ziehen, und sie protestierte nicht, und sie im Kreis herum wirbeln, und sie protestierte nur schwach, "etwas langsamer bitte, mir ist schwindelig, du musst mich festhalten", sagte sie und haengte sich in ihn hinein, dass er zwangslaeufig langsamer wurde, zwei statt zweihundertfuenfzig Umdrehungen pro Minute, was er sich nicht ungern gefallen liess, und so am Rande nahmen beide den Geruch des Anderen wahr, wie sie ihn nie vorher wahrgenommen hatten (und er ihre Fahne). Er spuerte wie weich und biegsam sie war, jung eben, jeder Widerstand, jede Mauer, die sie vom Alltag her kannten, schien niedergerissen, zertruemmert. In seiner Unerfahrenheit fragte er sich, wie weit er gehen durfte; wenn sie sich so an ihn lehnte, das liess doch Bereitschaft erkennen ... er wollte sich diesmal nicht so zurueckhalten. Und waehrend er darueber nachdachte, wie er vorgehen sollte, ohne jedoch zu einem Beschluss zu kommen, wiederholte sie: "mir ist schwindlig" und machte sich von ihm los, und er fuerchtete voreilig, es sei schon wieder alles vorbei, doch sie nahm seine Hand und zog ihn von der Tanzflaeche. "Ich brauche jetzt jemanden, der mich festhaelt", seufzte sie, und er erklaerte trocken (aber ihre Promille liessen sich davon nicht irritieren), Kaffee oder etwas zu essen waeren genau das richtige jetzt; doch in der Kueche war es zu hell und man sass dort nicht gut, die harten Holzbaenke waren mehr fuer die Intellektuellen wie Martin und Richard und den Japaner mit den steinharten Zuegen, dessen Name Dieter entfallen war, sie diskutierten heftig wer-weiss-was, wahrscheinlich ein dringendes Menschheitsproblem, um das er sich jetzt bestimmt nicht kuemmern musste, sondern machte sich mit ihr in Kalles Zimmer davon, dort war es schoen schummrig und der Tisch versperrte noch immer die Sicht auf das Sofa. Sie gaben nichts auf die paar Langweiler, die in dem Zimmer herumsassen, zum Teil schon ziemlich lange herumsassen, Britta wies auf das Sandwich, das Dieter fuersorglich mitgeschleppt hatte, und fluesterte: "Ich habe eigentlich keinen Hunger." Dann kicherte sie zusammenhanglos und er fasste das zurecht als Aufforderung auf, und sie wusste, sie brauchte es jetzt noch mal; was der Typ vorhin geleistet hatte, war nicht genug gewesen. Sie zogen einander hinab und rutschten in ihrer Wirrniss gleich ganz vom Sofa, auf den Boden unter dem Tisch, und dort ausser Sicht der anderen Gaeste kuessten sie sich, dass Dieter sein Glueck nicht fassen konnte, und nur zoegernd, ja furchtsam, denn er fuerchtete das Erwachen aus diesem grandiosen erotischen Traum, und es war ihm nicht ganz behaglich, wegen der Leute im Zimmer, begann er, sie ueberall anzufassen und zu streicheln, einer Abfuhr dauernd gewaertig, er wusste ja nicht, dass er alldies zumindest zum Teil einer veraenderten Seinsform des Wodka verdankte (oder auch nicht), und meinte sie zu kennen, als mitunter unberechenbar, waehrend sie doch laengst ungeduldig darauf wartete, ueberall angefasst und gestreichelt zu werden. Und aus Verzweiflung ueber soviel Unverstand kuesste sie ihn wild. Er griff in ihre Haare, dies vollglaenzende Schwarzgold, das ihn jedesmal traeumen gemacht hatte, all die vergeblichen Monate lang, drueckte den Kopf nach hinten und sagte: "Ganz ruhig", direkt ueber ihrem Gesicht, und sie wurde tatsaechlich ruhiger und der Nebel lichtete sich und dahinter erschien ihr die Leidenschaft wie eine Fee im wallenden Gewand (nicht mehr wie Tarzan), und sie schmiegte sich an ihn. Doch als er mit seinen Aktivitaeten fortfuhr, und Hals und Gesicht mit Kuessen bedeckte, reagierte sie wieder, sanfter jetzt, und sie spielten mit ihren Zungen und das, dachte er, war das Beste, was er bisher im Leben erlebt hatte, besser als die erste Cola, sein erstes Fahrrad, viel besser als der Schatz-im-Silbersee, oder wasimmer sonst zur Debatte stand, besser noch als die Idee der Freiheit (obwohl man das nicht vergleichen konnte). Auch sie ging ihm jetzt an die Waesche, ihre Finger glitten ihm ueber die Brust, dann tiefer, um den Guertel zu oeffnen, und neugierig griff sie hinein. Da vergass auch er alle Hemmungen, besoffen, schwindlig vor Lust, und dachte, wozu gross herumsuchen, die ganze Wohnung ist voll, es wird keinen besseren Platz geben, warum tun wir's nicht gleich, hier hinter dem Tisch kann uns keiner sehen, ist doch egal, ob da vorn welche rumsitzen. Und sie konzentrierten sich auf nichts als ihre wunderbaren Koerper, und als er in sie eindrang, im ersten Moment, ueberkam ihn eine unglaubliche Leidenschaft, er meinte, er wusste, er wuerde diese Frau, dies Fleisch immer lieben, das bisschen Ekel, weil schon ein Anderer seinen Samen in sie vergossen hatte, selbst wenn er Kenntnis davon gehabt haette, es waere dagegen verblasst. ------- Engumschlungen blieben sie bis zum Ende der Fete, wie ein richtiges Liebespaar, Britta die ganze Zeit an ihm geschmiegt, sogar, als sie langsam nuechtern wurde und es ihnen irgendwie gelang, in dieser Haltung auf den Ruecksitz seines nunmehr von Guenter gesteuerten Wagens zu klettern, und waren viel zu abgelenkt, um auf Ellen und Ali zu achten, die die Stufen zum Holstenbahnhof hinaufhasteten. Zuhause krochen sie zum Schlafen unter dieselbe Decke, sie haette sich nichts anderes vorstellen koennen, und schlummerte friedlich in seinen Armen, und das war exakt, was er sich seit Monaten wuenschte, seit er sie das erste Mal sah. Und morgens wollte sie unbedingt allein mit ihm fruehstuecken. "Lass uns im Bett bleiben und kuscheln und warten, bis die Anderen weg sind", lockte sie leise - die Andern, die sich nicht trauten, ihn wie gewoehnlich zu wecken, jeder konnte sich denken, was vorging. Und sie hatten recht, es ging einiges vor, er tat all-das, was er schon immer mit ihr hatte tun wollen. Endlich war draussen nichts mehr zu hoeren. Britta sprang auf, nackt stand sie vor ihm. "Ich bin heute krank", verkuendete sie und rief bei ihrer Firma an. Dann fruehstueckten sie, fast Mittag, vor einer erstaunlich steilen Sonnenwand, und immer wieder nahm sie seine Hand und streichelte sie. Er spuerte etwas Zwanghaftes darin, oder meinte es zu spueren, und ploetzlich sank seine Stimmung, und er fragte sich, wie lange ihre Gefuehle wohl anhalten wuerden. Denn er kannte sie ja, kannte ihre Labilitaet, wusste, wie sie mit Typen umging, und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ausgerechnet er die grosse Ausnahme sein sollte, da konnte sie ihm noch so oft unter der Bettdecke zufluestern, wie schoen es gewesen sei und dass sie ihn liebe. Er mochte kein Suessholz raspeln, ihre Schoenheit und Bettleistungen loben, nichts von dem, was, wie er meinte, seine Vorgaenger wahrscheinlich getan hatten. "Ja, es war toll", gab er stattdessen zoegernd und cool von sich, und niemand, auch er nicht, wuerde jemals erfahren, ob sie davon enttaeuscht war. (Viel spaeter - als alles vorbei war - glaubte er manchmal, seine Unsicherheit sei der Keim fuer die ganze folgende Katastrophe ihrer Beziehung gewesen, doch genauer betrachtet glaubte er das nicht wirklich, hoechstens vielleicht war in einem weiteren Sinn ihrer beider verbale Empfindlichkeit, vielleicht war einfach Semantik die Ursache fuer Brittas ganze Probleme.) "Was hast du denn da fuer dicke Pickel? Lass mich mal", rief sie spaeter im Bad, und stellte sich vor ihn. "Nein, nein." Er wollte das nicht (obwohl ihr Interesse fuer seine Pickel vielleicht ein gutes Zeichen war). "Wenn du nicht willst, dass ich sie ausdruecke, musst du wenigstens Zahnpasta draufschmieren, das trocknet sie aus und desinfiziert, so mach ich das immer mit meinen." ------- Ich habe hier nur die wichtigsten Ereignisse geschildert. Natuerlich haben sich auch andere Leute auf der Fete amuesiert, mehr oder weniger. Richard hatte Mutzel eingeladen, Maschinenbaukommilitone, doch seltsamerweise war nur dessen Freundin aufgekreuzt, und hatte sich nach einigem scheuen Umherblicken zu Laura gesellt, die sie von irgendwo kannte, und ihr das Herz ausgeschuettet, wie lange sie sich schon trennen wollte, und warum sie es absolut nicht schaffte (obwohl so schlimm war es mit ihm auch wieder nicht). Vom wahren Grund aber erzaehlte sie nichts, dem Mangel an Alternativen, allein mochte sie den Absprung nicht wagen, warf zwar begehrliche Blicke umher, doch es wuerde nichts werden, sie war einfach zu sproede, um auf einer Fete von einem Kerl sich aufreissen zu lassen, und nervte Laura mit ihren Klagen. Otto taendelte mit der scheuen Schoenen vom Supermarkt, die Monika hiess. Sie hatte sich ueberwunden herzukommen und war an der Wohnungstuer zuerst Richard ueber den Weg gelaufen, der sich natuerlich an sie erinnerte, er fand sie ziemlich unwiderstehlich, und das war sie auch, die geputzte Ausgabe einer Nachbarstochter aus seiner Schulzeit. (Der Nachbar hatte 3 Toechter, alle mit jenem charakteristischen Ausdruck der Augen, der wohl ererbt war und an alle Toechter und Enkelinnen weitergegeben wurde, keine hatte Richard sonderlich beachtet, sie waren aelter als er, verkehrten in anderen Kreisen.) Otto war nirgends zu sehen, und so hatte sie sich lustlos mit ihm in die Kueche gesetzt und auf ein Gespraech eingelassen, ueber Maschinenbau und ihren Job bei der Sparkasse und ueber das Ingenieurswesen im allgemeinen, doch an einem bestimmten Punkt, als er vertraulicher wurde, war sie ausgestiegen, entzog ihm Interesse und Aufmerksamkeit, es war ganz deutlich in ihren unbeschreiblichen Augen zu lesen, er kam fuer sie nicht in Frage. Er raetselte noch, war Maschinenbau das falsche Thema gewesen, oder gefiel er ihr einfach nicht, waehrend sie sich schon verabschiedete (im gleichen Moment, als Otto im Tuerrahmen auftauchte). Er war dann fast den ganzen Abend in der Kueche geblieben - nach solchen Demuetigungen vermied er apathisch jeden Stellungswechsel - und froh, dass sich Martin und Noboru zu ihm gesellten, mit denen sich im Lichtkegel der Lampe endlos am Gewebe der Philosophie knuepfen liess, um die Gespenster des Neides, der Ohnmacht und der Verzweiflung voruebergehend zu vertreiben.