Fruehsommer 1975 Ali hatte sein Tonbandgeraet mit heruntergenommen und auf volle Lautstaerke gedreht, und der Konzertmitschnitt fuhr wie ein wuetender Kobold aus dem kraechzenden Lautsprecher in den gekachelten Raum. In der Spuele tuermte sich das Geschirr, meist billiges Hertie-Prozellan, vereinzelt auch Erbstuecke aus den 50er Jahren, mit Blumenmustern und reichlichen Rissen, und lauerte darauf, endlich abgespuelt zu werden. Sommerliches Licht fiel auf das Rautenmuster des Fliesenbodens, immer schwarz und weiss und mit kleinen, unregelmaessigen Tupfen, wie in bizarren neurotischen Traeumen. Die Pop-plakate an den Waenden waren mit einer feinen Fett- und Staubschicht ueberzogen, ein ekliges Gemisch, das sich schon laengst nicht mehr abwischen liess. Hier wurde zu selten gelueftet. Er hatte sich mit etlichen Strassenkarten ueber den ganzen Esstisch ausgebreitet. In den Ferien wollte er nach Portugal, in diesem Sommer trieb es Jugendliche aus ganz Europa in das Land am Westzipfel des Kontinents, auf der sehnsuechtigen Suche nach Utopia, nach dem Sinn des Lebens, dem hoechsten Gut oder letzten Ziel, oder wie immer man das nennen soll, was sich zuhause nicht finden laesst ... Mit einigen Freunden und Kommilitonen bewohnte er ein altes verkommenes Patrizierhaus an der Klopstockterasse, hoch ueber den Wassern. Nach Westen fliessend maeandert die Elbe weit ins suedliche Tiefland, nach Norden aber wird ihr Lauf von einem Plateau begrenzt, wo fruehgeschichtliche Siedler Altona und Ottensen gegruendet haben. Vom Flussufer geht es 50 Meter ziemlich steil bergan, und jenes Haus war sozusagen auf der Klippenkante errichtet. Eine wohlhabende Buergerfamilie hatte sich hier um die Jahrhundertwende ein Domizil 'zur schoenen Aussicht' geschaffen. Untypisch fuer den Arbeiterbezirk Altona, war es vor Jahren auf nebuloese Weise in den Besitz der Stadt gelangt. Die derzeitigen Bewohner interessierten sich keinen Deut fuer die Geschichte des Hauses. Sie waren in jenem harzigen Alter, in dem man sich hoechstens der grossen Historie, kaum aber der eigenen Beschraenktheit bewusst ist, und nahmen das Leben im positiven Sinn als gegeben; es genuegte ihnen, dass die Stadt hier preisguenstiges Quartier anbot. Das freistehende Haus barg zwei Stockwerke und ein voll ausgebautes Kellergeschoss und bot reichlich Platz zum Leben und Arbeiten. Die Kueche lag unten im Keller, der so hoch angelegt war, dass die breiten Fenster allezeit genuegend Licht und Luft hereinliessen. Frueher hatte sich dort das Gesinde aufgehalten, nun machten sie die Jugendlichen zum Zentrum ihres Zusammenlebens. Ansonsten besass es einen repraesentativen Hausflur, eine auf grandiose Weise geschwungene Treppe, die an alte Kostuemfilme erinnerte, ein grosszuegiges Bad im ersten Stock und um diese Hohlraeume herum je drei oder vier grosse, in etwa quadratische Zimmer, allesamt hoch und hell, mit Fenstern wie Terassentueren, vom Boden bis zur Decke reichend (und dringend renovierungsbeduerftig; besonders im Winter zog es derart durch alle Balken und Ritzen von der Elbmuendung herauf, dass man sich am liebsten in die warmen Ofenecken verzog). Es gab viel Platz und Auslauf, und Nischen der neckischen Art, die als Kleiderkammern oder zum Telefonieren benutzt wurden. In seinem momentan ziemlich mitgenommenen Zustand war es nicht eben ein Kleinod, und wirkte von aussen beinahe verwunschen, jeder Spaziergaenger fragte sich unwillkuerlich, was sich darin wohl abspielte. Das Grundstueck schob sich wie ein Keil auf den Fluss zu und besass ausser nach Norden zur Elbchaussee hin keine direkten Nachbarn. (Diese Strasse ist im ganzen Land fuer ihre Villen beruehmt - oder verrufen, je nachdem welche Einstellung man zu seinen Millionaeren hat. Viel weniger bekannt ist, dass sie weit in die kleinbuergerlichen Siedlungen Altonas hereinfuehrt. Und dort, ein wenig abseits jener Siedlungen und der laermenden Chaussee, verlief die Klopstockterasse.) Ein Studienrat mit seiner Frau waren die einzige Nachbarschaft, ruhige Leute, welche nichts mehr verdross als das Bewusstsein, das aeussere, elbseitige Grundstueck nicht selbst zu besitzen, ein Faktum, woran sie allzu oft erinnert wurden, wenn Partylaerm von der Wohngemeinschaft herueberschallte, die, wie sie meinten, das Haus bald verwohnt haben wuerde, jedoch mit ihrer Kritik zurueckhielten, schmerzlich bewusst, dass sich die Zeiten geaendert hatten und man auf renitente Jugendliche nicht mehr mit Gepolter losgehen konnte. Die Terasse war grosszuegig und ueppig bewachsen wie eine roemische Villa, und der darueber liegende Balkon fast wie ein Dachgarten. Die Zimmer mit atemberaubendem Blick ueber den Fluss waren heiss begehrt, und nur zu bekommen, indem man sich zu ihnen gleichsam emporwohnte. Denn in der WG wechselten die Bewohner wie die Besucher einer Ausstellung, regelmaessig alle paar Monate zog jemand aus und ein anderer ein, erst in letzter Zeit war es zu einer gewissen Stabilisierung gekommen, nachdem der damalige Hauptmieter ausgezogen, und Ali von diesem mit dem Vertrag auch das Balkonzimmer uebernommen hatte. ------- Er las in dem vom ASTA herausgegebenen Reisefuehrer und schweifte in Gedanken durch das fremde Land. Die portugiesische Hauptstadt liege noch im Dornroeschenschlaf ihrer verlorenen kolonialen Pracht und Vergangenheit, die Menschen seien arm und unwissend und die gegenwaertigen Tendenzen nur einer kleinen Gruppe progressiver Offiziere um den Oberst Carvalho zu verdanken, die das morsche Regime Salazars im Handstreich beseitigt hatten. Da hoerte er Schritte auf der Kellertreppe, er hob den Kopf und gleich darauf erschien Richard im Tuerrahmen. "Nawie war dein Tag?" fragte er geistesabwesend. "Ach ganz lustig, wir haben beim Audimax herumgestanden und ploetzlich kamen ein paar Leute vorbei, eine Amateurtheatergruppe, die haben einen Sketch aufgefuehrt und den Hamburger Filz verspottet. Einer hat den Bildungssenator imitiert, und alle haben gebruellt vor Lachen." "Cassdorf wird nicht nachgeben. Der laesst sich doch von ein paar Studies nicht beeindrucken, nur weil sie ihre Vorlesungen schwaenzen", sagte Ali. "Da magst du recht haben. Die sind schon jahrelang mit ihren Planungen beschaeftigt und haben die Beschluesse laengst gefasst, sie werden sich von uns nicht aufhalten lassen. Aber irgendwas mussten wir schliesslich tun. Kein Mensch hat Lust, sich nach Harburg abschieben zu lassen, in dies triste Kaff, ich wuerde jeden Tag fast zwei Stunden unterwegs sein." Die Gruendung der Technischen Universitaet stand unmittelbar bevor. Wegen der drohenden Auslagerung wurde in einigen Faechern schon seit Semesterbeginn gestreikt, und nach und nach hatten sich alle anderen Fachbereiche den Streikenden angeschlossen. Da die meisten Veranstaltungen ausfielen, drohte die Vorlesungszeit unverrichtet in die grossen Ferien ueberzugehen, auf die viele schon genauso ungeduldig warteten wie Ali, der seine Reiseplaene staendig vorverlegte. Er war ein grosser Lockenkopf, dessen Metallbrille ihm ein intellektuelles, wenn auch etwas klaegliches Aussehen gab. Eigentlich hiess er Alexander, konnte aber den langen affektierten Namen nicht ausstehen und liess sich von allen Ali nennen. Er war nicht sehr huebsch, doch seine Augen strahlten lebendig und wenn er wollte, hatte er kein Problem, Andere, besonders Frauen, fuer sich einzunehmen. Neidvoll staunte Richard ueber die haeufig wechselnden Freundinnen. Er selbst war zwar gross und kraeftig, ein huebscher Junge mit hellem Teint und Sommersprossen, Stupsnase und blauen Augen, der beim dunklen Typ Frau ganz gut ankam, ohne jedoch in der Lage zu sein, diesen Vorzug in allzu viel praktischen Erfolg umzumuenzen. Uebrigens war er von unbestaendigem Temperament; auf seine Lehrer an der Uni wirkte er ruhig und zuverlaessig; in manchen Situationen konnte er sich aber voellig gehen lassen. Birgitta fand ihn dann furchtbar kindisch. Die Jungen waren gut befreundet, da sie ueber ihre gegenseitigen Weltanschauungen grosszuegig hinwegsahen und auf einer bestimmten Ebene aehnliche Interessen hatten. Man sah sie oft gemeinsam in der Oeffentlichkeit, und niemand haette vermutet, wie stark ihr wahres Wesen auseinanderklaffte. "Hast du dir noch ne Portugalkarte gekauft?" frotzelte Richard, "und Stichpunkte macht sich der Junge, wie ein Buchhalter." Solche Sprueche waren nur Reaktion auf Ali's gelegentliche Sticheleien, seine Messprotokolle und Praktikumsberichte wirkten wie die Zahlenkolonnen eines Pedanten. Ali liess sich nicht provozieren. "Komm her und schau's dir an", sagte er freundlich. "Ich hab schon die ganze Reiseroute ausgearbeitet und eine Liste mit Adressen gemacht, die ich unbedingt besuchen will. Auf dem Land gibt es jetzt viele Kooperativen, wo man umsonst uebernachten kann, wenn man zum Ausgleich bei der Feldarbeit hilft." Richard folgte den Linien auf der Karte, besonders wo sie am Meer entlangfuehrten, und Ali fragte: "Warum kommst du nicht mit? Mit Interrail kostet die Fahrt nur 95 Mark, wenn du innerhalb 30 Tagen zurueckfaehrst. Ok, es strengt an, man ist drei Tage unterwegs, ich hab mich erkundigt, und in Spanien wird der Zug noch auf ein anderes Gleissystem gehoben. Aber wer hierbleibt, verpasst was, das kann ich dir sagen." "Ich wuerde ja gern, wirklich, und ich hab auch schon nachgedacht, wie ich es bewerkstelligen koennte. Das Geld ist kein Problem; aber nachdem ich schon das Semester verbummelt habe, will ich in den Ferien wenigstens den Praktikumsschein nachholen. Sonst werd ich nicht zum Vordiplom zugelassen." "Du mit deinem Vordiplom. Hat doch bis naechstes Jahr Zeit! Das Leben ist zu kurz, um es in Tretmuehlen zu verschwenden." "Ach Ali. Wir haben das oft genug durchgekaut, du weisst, ich kann damit nicht so locker umgehen wie du. Ich will mein Studium einigermassen zuegig zu Ende bringen." "... damit du dich endlich einreihen kannst in das Heer der Arbeitssklaven." "Das nicht gerade." Er wollte die Diskussion beenden, er wuerde ihn sowieso nie ueberzeugen, wie wichtig die Technik fuer den Fortschritt war und wieviel Spass sie machte. Vielleicht hatte der Andere teilweise recht mit seiner Kritik; aber es brachte nichts, darueber nachzudenken. "Bevor du wegfaehrst, muessen wir uns unbedingt zusammensetzen und beraten, was wir wegen des Briefes unternehmen," sagte er. "Welcher Brief?" fragte Ali. "Ach, du meinst, von der Stadt. Ja, ich weiss auch nicht, was davon zu halten ist. Wenn sie das Haus verkaufen ... ob der neue Eigentuemer die Mieter dann mit uebernehmen muss?" "Das ist genau der Punkt. Darueber lassen sie sich nicht aus. Wahrscheinlich muss das vertraglich festgelegt werden. Der Brief ist voll halber Informationen, alles butterweich und vage formuliert. Ich halte es gut fuer moeglich, dass sie versuchen, uns loszuwerden." "Na ja, man muss nicht gleich das Schlimmste annehmen. Aber das mindeste, was kommen wird, ist eine Mieterhoehung. So gut wie bisher werden wir's nicht mehr haben. - Hoffentlich machen sie keine Besichtigung," fiel ihm dann ein, "die wuerden garantiert an Haralds eigenwilliger Wohnraumgestaltung Anstoss nehmen" - er grinste - "und uns auffordern, den ganzen Scheiss wieder rauszureissen." Harald war ein frueherer Mitbewohner und hatte in seinem Zimmer eine Zwischendecke eingezogen, weil er meinte, so liesse sich die Wohnflaeche glatt verdoppeln. "Der neue Besitzer wird versuchen, den Kaufpreis wieder reinzuholen, und allerspaetestens wenn sie das Haus im Poeseldorfer Stil sanieren, werden wir die Miete nicht mehr zahlen koennen." "Genau so ist es, und ich denke, es waere das beste, von Anfang an Druck auf die Stadt auszuueben, dass sie ihr Vorhaben seinlaesst. Die andern scheint das irgendwie nicht zu tangieren. Bisher hat mich keiner auf den Brief angesprochen, sie kuemmern sich ueberhaupt nicht darum." "Sie sind zu weit weg davon. Jeder ist mit sich selbst beschaeftigt. Ich glaube aber, es ist wichtig, zu reagieren und der Stadt klarzumachen, dass wir uns das nicht gefallen lassen, ich meine, das Haus, in dem wir jahrelang wohnen, ueber unsern Kopf zu verscherbeln", sagte Ali. "Wir koennen darauf verweisen, dass wir eine ziemlich stabile und gut funktionierende WG sind, eine echte Alternative zu der Anonymitaet in den Studentenheimen, abgesehen davon, dass es dort viel zu wenig Plaetze gibt, wo also sollen wir unterkommen? So oder aehnlich koennte man gegenueber der Stadt argumentieren. Vielleicht lassen sie dann von dem Plan ab, vielleicht ist das ueberhaupt noch keine beschlossene Sache, sondern nur die unausgegorene Idee irgendeines untergeordneten Sesselfurzers." "Das werden wir rausfinden. Sollen wir die Antwort zusammen aufsetzen? Heut abend hab ich allerdings keine Zeit, ich bin mit Martin verabredet, er kommt nachher vorbei." "Ein Brief ist vielleicht nicht wirkungsvoll genug. Am wirksamsten ist es immer, wenn man gleich auf der Matte steht. Ich waer dafuer, dass wir alle zusammen mal hingehen und durch schiere Masse unsern Standpunkt unterstreichen. Das heisst ... in einem gewissen Stadium sollten wir das auf jeden Fall tun. Im Moment reicht es wahrscheinlich, wenn einer von uns hingeht und ihnen eine Liste mit unseren Argumenten uebergibt." Als Hauptmieter war er der natuerliche Kandidat fuer diese Aufgabe. Doch er vertrat die Auffassung, mit dem Einsammeln der Miete und der monatlichen Ueberweisung bereits genug fuer die Gemeinschaft zu leisten, und fragte: "Koenntest du das nicht machen? Erst neulich hast du gesagt, du willst dir in Zukunft mehr Zeit fuer die WG nehmen." "Ja ... gut", gab Richard widerstrebend zu (in Wahrheit hatte er gemeint, sich etwas intensiver um Birgitta zu kuemmern). Es wuerde ihn Ueberwindung kosten und er fuehlte sich nicht unbedingt berufen, bei Buerokratens auf den Putz zu hauen; in solchen Situationen war er immer zu schuechtern, Ali wuerde mit seiner energischen Art viel mehr erreichen. Aber er sagte nichts, weil er tatsaechlich ein schlechtes Gewissen hatte. Damals beim Einzug hatte er grossmaeulig verkuendet, wie wichtig ihm das Zusammenleben sei, doch in letzter Zeit war er abends meist mit Kommilitonen unterwegs. "Ich werde zusehen, dass ich irgendwann die Woche hingehe, und vorher einen Text aufsetzen, den muessen wir dann noch mal durchsprechen, am besten alle zusammen. Gib mir doch gleich den Brief, da wird auch die Adresse draufstehen." "Die Adresse ist ganz einfach: Rathaus Altona." "Das Rathaus ist gross. In dem Brief steht bestimmt der Name des Sachbearbeiters und wie ich ihn erreichen kann. Die haben spezielle Sprechstunden, da kann man nicht einfach so hingehen." "Schon klar, natuerlich kriegst du den Brief." Die beiden drehten ihre Koepfe zum Fenster, sie hatten Schritte auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus gehoert. Zwei Beinpaare bewegten sich hinter der Scheibe des Kuechenfensters und verschwanden auf der Vortreppe. Das Haus lag weit genug abseits der Elbchaussee, so dass vom Verkehrslaerm wenig zu hoeren war. Wenn wie jetzt Tonband oder Schallplatte abgelaufen und die Litanei der Popmusik unterbrochen war, konnte man drinnen und draussen wunderbar laendlichen Klaengen nachlauschen und sich in ihrer Melodie verlieren, bei Sonnenschein dem Gezwitscher der Voegel oder dem Wind, der um die Hausecken zog und Blaetter und Waesche flattern machte. Bei Regen klatschte Wasser gegen die Waende, und man fuehlte sich geborgen zwischen den alten Mauern, und entspannte sich wie in einem Zen-Kloster. Als es klingelte, war Ali schon auf dem Weg nach oben. Er hatte die Besucher an ihren Beinen erkannt, Laura an den kurzen dicken Waden und Kalle an der fleckigen Latz- und Arbeitshose, die er geruechteweise sogar im Bett nicht auszog. Richard fragte sich, ob die beiden herunterkommen oder mit Ali in dessen Zimmer verschwinden wuerden. Da hoerte er sie schon auf der Treppe, Laura forsch voran, wie man es kannte, und Ali und Kalle hinterdrein. Die junge Frau war klein, rundlich und ziemlich unfoermig, um es geradeheraus zu sagen, das heisst sie besass an manchen Koerperstellen zuviel von dem, was ihr an anderen fehlte. Sich ihrer Maengel durchaus bewusst, haderte sie aber nicht mit dem Schicksal, wenigstens nicht oeffentlich, sondern ueberspielte gelegentliche depressive Anfaelle durch ein ebenso aufgewecktes wie ausgeglichenes Temperament. (Frueher, auf der Schule, hatte Richard eine Laura gekannt, welche in allem ganz anders war, und immer noch brachte er den Namen mit dieser Anderen in Verbindung, so dass in seiner Beziehung zu der gegenwaertigen Laura eine seltsame Ungereimtheit bestand.) Sie gehoerte zu jener bequemen Fraktion der Dicken, die glauben, ihre Unzulaenglichkeiten liessen sich weder maskieren noch ueberschminken (obgleich gerade junge Frauen mit wenigen Griffen in die richtigen Tiegel die Schoenheit und Ausrucksfaehigkeit ihres Gesichts um ein Vielfaches steigern koennen) und legte auf ihre aeussere Erscheinung wenig wert. Stets erschien sie in Pluderhosen und sommers in schlechtsitzenden Blusen, ueber die sie winters eine abgewetzte Jeansjacke warf. Meist trug sie selbstgefertigte Armbaender aus kleinen farbigen Kunststoffperlen, und diejenigen, welche sich ihrer besonderen Gunst erfreuten, beschenkte sie ebenfalls damit. Sie besass ein aufgewecktes rosiges und keineswegs haessliches Gesicht, mit wachen Augen, die wie ihr ganzes Verhalten auf eine ausgepraegte Intelligenz schliessen liessen. Ihre Schulbildung war eher mangelhaft. Sie hatte die Hauptschule beendet und danach eine Haarschneidelehre abgebrochen, da der Aufwand, den Andere mit ihrem Aeusseren treiben, ihrer Wesensart und Weltanschauung voellig zuwiderlief. In Richard's Augen bot sie einen interessanten Kontrast zu seinen intellektuellen oder hedonistischen Studenten-Freunden. Wenn sie sich unterhielten oder auch nur begruessten, verweilten ihre Augen, so schien ihm, intensiver als noetig auf ihm, und als nehme ihre Stimme eine eigene, sonderbar innige Faerbung an (obwohl sie viel besser mit Ali bekannt war, mit dem sie oft abends durch die Kneipen zog). Vielleicht war das einfach ihr freundliches Wesen, es schuf jedenfalls keine Verlegenheit, er fuehlte sich davon weder bedraengt noch bedroht und hatte keine Probleme, seinerseits freundlich zu ihr zu sein. Sie und Kalle wohnten mit Horst und Martin in einer WG an der Stresemannstrasse, nicht gerade am andern Ende der Stadt, doch immerhin vier bis fuenf Busstationen die Max-Brauer-Allee hinunter ins Eimsbuetteler Strassengewirr. Zwischen beiden WGs bestanden enge Beziehungen, nicht zuletzt weil Richard und Martin sich von der Schule her kannten. Kalle, dessen glattes dunkles Haar sich auf der Schaedeldecke stark lichtete, war Mitte 20. Nach seinem Gesicht ein Allerweltstyp, wie sie zu Tausenden morgens in den U-Bahnschaechten der Vorstaedte verschwinden und abends wieder emportauchen, war er gluecklich, durch sein Studium dem Trott des Arbeitnehmeralltages fuer ein paar Jahre entronnen zu sein. Unter der Latzhose trug er meist blaue, graue oder braune Pullover, auf denen der Staub technisch-handwerklicher Grosseinsaetze schimmerte. Sein gesamtes Outfit bezog er vom Arbeitsbekleidungsladen an der Loensstrasse, dessen enthusiastischer Kunde er war. Ebenso liebte er es, in diversen Heimwerkerlaeden herumzustoebern und nach geeignetem Werkzeug und Material fuer seinen unermuedlichen Reparatureifer Ausschau zu halten. Er hatte eine Meisterlehre als Elektrotechniker gemacht und studierte jetzt an der Fachhochschule, wenngleich ohne besonderen Ehrgeiz. Mehrfach war er aufgefordert worden, sich endlich zu den Pruefungen anzumelden, andernfalls drohe Exmatrikulation. An den Fachhochschulen wehte schon damals ein anderer Wind als an den Unis, wo es viele locker auf 20 Semester brachten. Kalle war der Handwerkertyp. Wannimmer etwas kaputt ging oder zur Inspektion anstand, wurde er als erster zu Rate gezogen, und meist dauerte es nicht lange, bis er die Aermel hochkrempelte und sich der Sache annahm, ganz egal ob es sich um Kurzschluesse, defekte Musikanlagen oder verstopfte Wasserrohre handelte. Wer nicht allzu eng mit ihm befreundet war, bezahlte ihn zwar fuer seine Muehen, doch meist nur zum Bruchteil ihres wahren Wertes - mit einem Wort, Kalle liess sich leicht ausnutzen. Sooft ihm Laura einschaerfte, sich mehr Zeit fuer sein Studium zu nehmen und die Dumpingpreise fuer seine Reparaturarbeiten anzuheben, immer wieder musste sie erleben, wie er fuer Andere den Buckel krumm machte. "Das Neueste ist, dass er in der Hafenstrasse die Elektrik komplett erneuert", sagte sie jetzt. "Wir reissen dort alle Waende auf, anders kommen wir an die alten Leitungen nicht ran", ergaenzte er stolz, "ihr solltet mal sehen, wie ich aussehe, wenn ich abends heimkomme." Sie fand das gar nicht witzig. "Wie sollen sie das sehen? Du kommst ja oft nachts nicht mal nach Hause, sondern pennst dort auf der Matraze im Flur", klagte sie. Er naechtigte in einer Nische zwischen wuchtigen alten Kommoden und an einer Wand, durch die mehrere Loecher gestemmt waren. Bauschutt bedeckte den Boden und Kabel, Zementsaecke, Kleidung, Werkzeug und Abfall, alles lag in wuestem Durcheinander. Doch die Aufgabe fuellte sein Herz mit Freude, und das Bewusstsein, nicht fuer Geld, sondern fuer Prinzipien zu arbeiten, staerkte sein Selbstgefuehl. "Mir macht die Arbeit echt Spass", verteidigte er sich folgerichtig, "das ist keine reine Schinderei wie sonst auf'm Bau, sondern man muss seinen Grips anstrengen, wo und wie man die Kabel am besten verzweigt und verlegt. Wenn man was falsch macht, kann man leicht viel Zeit verlieren, weil man alles wieder aufreissen muss. Wir haben genaue Plaene ausgearbeitet, ausserdem sind die Leute echt nett, sie haben mir angeboten, bei ihnen einzuziehen, und ich bin am ueberlegen, ob ich das nicht tue. Guenter spielt uebrigens auch mit dem Gedanken." "Welcher Guenter?" fragte Ali, waehrend er die Karten vom Tisch raeumte. "Ach, der aus der Lippmannstrasse. - ... - Wir haetten da ne viel geringere Miete. Das heisst, echte Miete zahlt man da gar nicht, nur so eine Art monatlichen Abschlag aufs Sperrkonto." "Das kann uns auch noch bevorstehen", unkte Ali und erzaehlte vom Brief der Sanierungsbehoerde. "Ich glaube nicht, dass es bei Euch so weit kommt", sagte Laura und dachte, den schlauen Studenten aus der Klopstockterasse wuerde es schon gelingen, einen Kompromiss auszuhandeln. "Meine innere Bequemlichkeit spricht eigentlich dagegen, es gefaellt mir in der Stresemannstrasse, die WG funktioniert tadellos", versicherte Kalle, der den Eindruck vermeiden wollte, es gebe andere als materielle Gruende fuer seinen eventuellen Umzug. "Naja, ganz so toll auch wieder nicht", sagte Laura offen. "Ich finde, seit Horst eingezogen ist, laeuft es nicht mehr so gut. Er ist irgendwie seltsam." "Finde ich auch", beeilte sich Kalle zuzustimmen, "man kann nich richtig beschreiben, woran es liegt, aber er bringt ne schlechte Stimmung bei uns rein." "Er beteiligt sich an null gemeinsamen Aktivitaeten, und wenn er abends von der Uni kommt, schliesst er sich in sein Zimmer und hoert stundenlang Stones-Musik, immer dieselbe Scheibe, geht mir total auf die Nerven." "Und am Wochenende ist er sowieso nie da, da faehrt er zu seiner Freundin nach Ostfriesland ..." "Ich schaetze, da wird er auch wieder landen, wenn er hier fertigstudiert hat. Ich frage mich, warum er ueberhaupt nach Hamburg gekommen ist, er haette doch auch in Bremen oder ... oder Oldenburg studieren koennen." "Dann haetten sie ihn dort am Hals," lachte Ali, "das heisst ich schaetze es gibt in Oldenburg genug von seiner Sorte, nur er will sich eben ein paar Jahre die weite Welt um die Nase wehen lassen. - Und ihr seid auf ihn reingefallen." "Als wir ihn kennenlernten, hat er sich von der freundlichsten Seite gezeigt, kein Mensch hat vermutet, was er fuer'n Muffkopp ist. Wobei, 'Muffkopp' iss eigentlich das falsche Wort, er ist gar nicht so unfreundlich, eher unnahbar, man kommt ueberhaupt nicht an ihn ran ..." "Du scheinst dich ganz schoen intensiv mit ihm zu beschaeftigen", sagte Richard anzueglich. "Ach nein komm hoer auf, es beschaeftigt mich eben, weil ich Tuer an Tuer mit ihm wohnen muss. Dein Freund Martin ist auch nicht ganz ohne, mit der ganzen Philosophiererei. Aber an den haben wir uns gewoehnt, und er macht auch manchmal was fuer die WG. Horst dagegen ist total egoistisch und nur an seinem eigenen Wohlergehen interessiert." "Ein tolles Bild habt ihr da an der Wand", sagte Kalle ploetzlich. "Ja, ... hat Werner gemalt. Er hat'n Aquarellkurs an der Kunsthochschule gemacht, und das iss dabei rausgekommen." "Was soll es eigentlich darstellen? Es sieht so ein bisschen zerlaufen aus." "Das ist doch gerade der Witz bei Aquarellen, du Dummy." "Ist denn eure feuchte Kueche der richtige Ort fuer'n Aquarell?" "Siehst du und ich dachte, da waere Suppe druebergelaufen." "Werner meint wohl, hier iss es gar nicht so feucht, gute Bausubstanz und so, und ausserdem ist es nich weiter schlimm, so wertvoll iss das Bild auch wieder nicht." "Naja, sieht tatsaechlich etwas merkwuerdig aus, all diese Leute, denen die Farbe aus der Hose laeuft. - Oder er wollte n paar Dicke in der Dickengruppe darstellen." Das war (wegen Laura) nicht sehr feinfuehlig und so fuhr er schnell fort: "Ueberhaupt, ihr habt ja auch n neues Kuechenbord mitsamt dem dazu passenden Haengeschrank!" "Tja, wir halten unsern Laden in Schuss", sagte Ali souveraen, und dann hoerte man wieder Schritte auf der Treppe und mit schlaf-tranigen Bewegungen und feucht-mueden Augen erschien Birgitta in der Kueche. Ihr normalerweise glattes Haar hing in wirren Straehnen auf den Schultern. "Was machst du denn hier", fragte Ali, "ich dachte, du waerst an der Uni." "Dachte ich auch. Eigentlich habe ich heute Praktikum, aber ich war mittags so muede, dass ich mich kurz hingelegt habe und bin dann dummerweise eingeschlafen. Ich aergere mich wahnsinnig." Es war nicht ungewoehnlich, dass sich Birgitta aergerte, sie aergerte sich mindestens zehnmal am Tag ueber alles moegliche, doch gehoerte sie zu der seltenen Spezies von Menschen, die sich aergern oder muede sein koennen, ohne gleichzeitig verkniffen und unsympathisch auszusehen, ihr Antglitz blieb von ihren Gefuehlen seltsam unberuehrt. Sie war eine grosse schlanke Blondine mit laenglichen und ziemlich huebschen Zuegen, wie sie unter den Holsteinern weit verbreitet sind, und etwas linkischer Motorik. Auf dem Gymnasium eine gute Schuelerin, unkompliziert im Umgang mit Erwachsenen (ein nicht zu unterschaetzender Vorteil in Zeiten, wo sich Lehrer von manchen Jugendlichen bedroht fuehlen), und ebenso erfolgreich im Studium, ist sie unter allen Figuren meines Romans die wohl komplizierteste Persoenlichkeit, schillernd und vielschichtig und raetselhaft, energisch und kraftvoll und sich doch ihrer selbst nicht gewiss. Manchmal war sie derart unausgeglichen und pedantisch, dass sie sich ueber jede Kleinigkeit aufregte, zum Beispiel nervte es sie, wenn einer im Flur telefonierte statt den Apparat mit ins Zimmer zu nehmen. Dann stuermte sie auf den Flur und bruellte den Betreffenden wutschnaubend an, es war ihr ganz egal, mit wem der gerade telefonisch verhandelte. Wenn Laura mit ihr zusammengewohnt haette, wuerde sie aehnliche Klagen wie ueber Horst gefuehrt haben; Birgitta war hauptsaechlich auf sich selbst bezogen und fuer das WG-Leben eher ungeeignet. Richard fand, sie war eine seltsam abstrakte Persoenlichkeit; wenn man nicht gerade mit ihr zusammenwohnte, konnte man sich kaum vorstellen, dass sie koerperlich existierte, dass sie sich wusch, kaemmte und anzug, Nahrung zu sich nahm und in ein Brot biss (was sie sich jetzt zu tun anschickte), all dies passte irgendwie nicht zu Birgitta, sie war wie ein verwickeltes philosophisches Traktat, oder wie feiner weitlaeufiger Nebel bei Sonnenaufgang. Horst war ein tumber Tor ohne tieferes Gefuehlsleben und aehnelte ihr nur oberflaechlich, indem beide ihre Interessen ueber Alles stellten. Birgitta war jedoch intelligenter als er, und gab sich mit der Befriedigung ihrer Primaerbeduerfnisse nicht zufrieden. Hinter einer scheinbar ausgeglichenen, ja buergerlichen Fassade suchte sie staendig nach neuen unkonventionellen Moeglichkeiten der Selbstverwirklichung, wobei ihr immerzu entglitt, was denn eigentlich ihre Interessen waren. Ali und sie hatten ein paarmal zusammen geschlafen, gleich nachdem sie eingezogen war, und kamen prima miteinander aus, seit sie das erledigt hatten. Richard fragte sich manchmal, wie so etwas moeglich war, ein Beischlaf aus dem Handgelenk, und ob auch er je solche Beziehungen haben wuerde. "Das haben wir gern", rief ploetzlich Kalle, in einem hilflosen Versuch, mit ihr ins Plaudern zu kommen, "noch kein Vordiplom, aber die Nachmittage im Bett verbringen. Zu meiner Zeit sind wir um 7 aufgestanden und von morgens bis abends in den Vorlesungen gesessen." Sie griff den flapsigen Ton nicht auf, sondern sagte nur: "Ich hatte gestern Nachtwache an der Uniklinik, weisst du, meine Eltern zahlen mir monatlich nur 300 Mark, den Rest muss ich dazuverdienen," um dann muede hinzuzufuegen: "Eigentlich wollte ich heute durcharbeiten, aber anscheinend macht mein Koerper nicht mit." "Wieder son Fall", dachte Richard bei sich, "noch unverstaendlicher als bei Martin. Die Eltern beide gut verdienende Akademiker, und anscheinend nicht in der Lage, ihr den Bafoeg-satz zu zahlen. - Sie will ihnen nicht auf der Tasche liegen!? Wozu soll das gut sein?, dieser unsinnige Stress, wenn sie will, kann sie es doch spaeter zurueckzahlen. - Oder sie haben sich finanziell uebernommen, bei irgendwelchen Spekulationen oder Abschreibungsprojekten." Es war echt so, niemand wusste, was in den Familien der Anderen ablief. Die Clique war aus ziemlich unterschiedlichen Sozialschichten zusammengewuerfelt. Einige seiner Freunde mussten echt aetzende Eltern haben, allein schon nach dem, was er so nebenbei mitbekam, vom allermeisten, was zwischen Eltern und Kindern sich abspielte, wenn zum Beispiel die Partner sich trennten, erfuhren Aussenstehende ja nichts; und so liefen alle moeglichen Zombies herum, die schon die beschissensten Krisen hinter sich hatten, und mit deren Macken man leben musste. Er sah, wie sie sich am Brotkasten zu schaffen machte und sagte: "Gute Idee, ich hab auch Hunger, lasst uns alle was essen." Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders, fragte sich, ob ihr Fehlen Konsequenzen haben wuerde - bei den Medizinern war man in der Hinsicht ziemlich genau - und als Richards Vorschlag zu ihr durchdrang, war sie gar nicht begeistert; auf die Andern zu warten, dauerte viel zu lange, eigentlich hatte sie nur schnell ne Stulle runterschlingen wollen, wenn sie schon nicht an der Uni war, wollte sie wenigstens noch an die Buecher. Es waere besser gewesen, ihrem Instinkt zu folgen und gleich auf der Treppe kehrt zu machen, als sie die Stimmen der Anderen hoerte, und die Kekspackung aufzumachen, die sie oben noch liegen hatte. Laura beteuerte zwar, keinen Hunger zu haben, doch niemand nahm das fuer ernst, und so wurde in aller Ruhe der Tisch gedeckt und gegessen. "Was liegt denn da herum?" sagte Birgitta auf einmal. Sie hatte Alis Karten entdeckt, auf der obersten waren neben dem Relief Portugals noch die Umrisse seiner Kolonien abgebildet und sie fragte aufgeregt: "Will jemand von Euch nach Afrika?" "Das haetten wir dir schon mitgeteilt" versicherte Ali. Er wischte sich die Biomarmeladenfinger ab und fischte nach den Karten, von denen er eine Birgitta reichte. "Ach, Portugal", sagte sie abschaetzig. Ihre grosse Leidenschaft war Afrika. Wiederholt hatte sie Ali und Richard bekniet, sie nach Kenia zu begleiten, ihr Vorschlag war aber auf wenig Gegenliebe gestossen. "Ach Afrika", aeffte er sie nach, "Afrika schlaeft. Diesen Sommer musst du nach Lissabon." "Guenter will auf jeden Fall auch hinfahren", warf Laura ein. "Ihr kennt doch Guenter, der laesst sich so was nicht entgehen, der wird versuchen, in dem Rummel mitzumischen." "Glaubst du im Ernst, du haettest Einfluss auf die innere Entwicklung Portugals, wenn du als Aussenstehender da hinfaehrst?" fragte Birgitta spoettisch. Das war zu Laura gewandt, doch es war Ali, der sich davon provoziert fuehlte und ungeduldig entgegnete: "Ja ... oder Nein vielleicht nicht direkt - wir koennen aber versuchen, die politische Stimmung durch unsere Praesenz zu beeinflussen." "Aber in Protugal bist du doch nur Tourist, kennst noch nicht mal die Sprache; kein Einheimischer wird dich fuer voll nehmen." "In Afrika bist du auch nur Touristin. Ausserdem habe ich angefangen, die wichtigsten Worte und Redewendungen zu lernen, und naechstes Semester werd'ich auf jeden Fall n Portugiesisch-kurs machen." "Pah, Portugiesisch, die Sprache der Kolonisatoren! Sie ist in Afrika aeusserst unbeliebt." "Ja-so, und wie verstaendigst du dich?" "Wieso? Am besten kommt man mit Englisch zurecht." "Ach so Englisch!", und erging sich in beissendem Spott und verschonte auch Birgittas Traum nicht, spaeter dort unten als Aerztin zu arbeiten. "Doch nicht so eine konfliktfreie Beziehung!" dachte Richard; aber Birgitta kannte das schon, sie liess Alis Gehabe meist kommentarlos ueber sich ergehen, ohne sich davon im Geringsten beeindrucken oder gar ueberzeugen zu lassen. Sie gehoerte zur schweigenden Mehrheit unter den Studenten, die sich kein Deut fuer Politik interessieren. Die Sache mit den Kolonien war ihr mehr so herausgerutscht, als Retourcouche auf sein bloedes Gerede. "Wann willst du denn wieder hin", fragte Kalle, zu gern haette er sich mit ihr mal naeher unterhalten. Der leicht untersetzte Junge, der unvermittelt zu schielen begann, wenn er aufgeregt war, fuehlte sich von der gewandten hochgewachsenen Sirene merkwuerdig angezogen - ohne dass sie ihn je eines Blickes wuerdigte. "Ganz demnaechst", sagte sie spontan, und zur Bekraeftigung: "Ja bestimmt, ich werde in den Semesterferien hinfahren." "Und wohin?", erwiderte Richard ueberrascht und etwas besorgt. "Naja, wieder nach Kenia. Ihr koennt Euch gar nicht vorstellen, wie schoen es da ist." Ali verkniff sich, sie mit Grzimek zu haenseln. War vielleicht wirklich ganz schoen, die Gegend. Trotzdem gab es nichts, was ihn dahin zog. Mit Indien, wo jetzt Viele hinfuhren, zu irgendwelchen Gurus, ging es ihm aehnlich. Er konnte den Enthusiasmus der Leute nicht nachvollziehen. Einsame Wuesteneien, totale Armut und Unterentwicklung waren nicht sein Ding. Richard ging es genauso. Einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, schwimmen und faul am Strand liegen und vielleicht paar Sehenswuerdigkeiten angucken, das war okay, das reichte ihm, er musste nicht staendig durch fremde Kontinente kariolen, unter groessten Strapazen einen Blick auf den hoechsten Berg der Erde oder andere Superlative erhaschen, und am Ende ueberfallen werden oder mit Malaria heimkommen, nein danke. ------- Niemand hoerte auf die Geraeusche im Hausflur, und so erschien unerwartet und wie hergezaubert eine wundersame Gestalt in der Kueche. "Hallo", sagte sie, und "Hallo Werner", scholl es zurueck, woraufhin der erst einmal gar nichts erwiderte und dann ueberfluessigerweise feststellte: "Ach, ihr seid gerade beim Essen." Werner war nicht der Eloquenteste, vor allem wenn er wie jetzt verschwitzt mit dem Fahrrad vom Fitnesstraining kam. Sein Blick ruderte unruhig hin und her, es stoerte ihn, den angestammten Essplatz durch Laura belegt zu sehen. Die gab vor, nichts zu bemerken, und wies eigenmaechtig, als sei sie selbst die Hausherrin, auf den Klappstuhl, der fuer solche Faelle am Kuehlschrank lehnte. Dann rutschte sie etwas zur Seite, damit er sich dazwischenschieben konnte. Waehrend er sich noch bueckte und mit seltsam behaebigen, zugleich aber geschmeidigen Bewegungen den Stuhl hochklappte, auf dem sich seine schmale, aufgeschossene Gestalt irgendwie gefaehrdet ausnahm, stiess Kalle verbluefft hervor: "Uuh, Werner wie siehst du denn aus?" Er fuehlte sich nicht verpflichtet zu antworten, und auch die Andern schwiegen dazu, sein sonderbarer Sportdress war ihnen schon laenger vertraut, die enge wie von Feuchtigkeit glaenzende Kunststoffmontur, worin Waden, Schenkel und selbst Hoden sich unappetitlich abzeichneten. Wenn Kalle gewusst haette, dass er in diesem Aufzug die gemischte Jazztanzgruppe beim Unisport bereicherte! Die Jazzgymnastik. Vor Richards Augen entstand das Bild Dutzender im Gleichtakt der Musik huepfender Studentinnen. Er wusste, dass sich Werner zweimal woechentlich da herumtrieb, war ja nicht verboten, im Gegenteil, gemischte Sportgruppen wurden gefoerdert. Auch er hatte kurz erwogen, teilzunehmen, aber doch Abstand davon genommen, die Vorstellung, da mitzuhopsen war ihm irgendwie peinlich ... Manchmal nach dem Judo standen er und einige Kommilitonen am Eingang der Halle, wo der Kurs standfand, und begafften steif und mit glaesernen Augen die Verrenkungen der Teilnehmerinnen. Ein paar Frauen waren dabei, die hatten vielleicht einen Koerper! Und Polster genau an den richtigen Stellen! Trotz seiner Sportlichkeit gab es keine in der Tanzgruppe, es gab eigentlich auf der ganzen Welt nicht eine einzige Frau, die sich fuer Werner interessierte. Sein Problem bestand neben den sprachlichen und stilistischen Defiziten, welche es jedem schwer machte, mit ihm umzugehen, in seiner auffaelligen Haesslichkeit. Sein Gesicht war aufgedunsen und gleichzeitig von so tiefen Falten und Furchen durchzogen, nicht nur auf Wangen und Stirn, auch Hals und Kinn und der Bereich zwischen den Augen waren davon betroffen, dass die kleinen, fast unbewimperten und wie leblosen Augen nur schwer ihren Weg aus den Hautfalten fanden. Die Nase mit ihren nach aussen geklappten Fluegeln und Loechern gross und dunkel wie Kellerluken, nach einem Unfall auf abstossende Weise doppelt gekruemmt, erweckte den (gewiss unrichtigen) Eindruck, sie wuerde sich gern ueberall einmischen. Die schuetteren, straehnig und erratisch verteilten Haare waren meist fettig aufs Haupt geklebt, jetzt, durch den Fahrtwind, standen sie einzeln hoch wie bei einer bekannten, gleichnamigen Comic-Figur. Sobald er sich einer Frau in einer gewissen Absicht naeherte, konnte er sicher sein, nichts als Ablehnung von ihr zu erfahren. Doch wer konnte es den Frauen verdenken? - Und wer konnte Werner seine verdriessliche Aura verdenken? Er sublimierte seine traumatischen Misserfolge durch sportlichen und kulturellen Aktionismus. Wenn er abends nicht beim Unisport war, wuerde man ihn garantiert bei einer Theaterauffuehrung, einem Konzert oder einer Kunstausstellung finden. Laura begann, von einer Freundin zu erzaehlen, doch Richards und Alis Gedanken wurden von Vera abgelenkt, die hereinkam, sich einen Apfel holte und wieder nach oben verschwand, sie hatte es eilig, kaum dass sie 'Hallo' sagte. Wahrscheinlich hatte sie eine Verabredung. Wenn Karsten auf See war, hatte sie dauernd Verabredungen. Ali und Richard nahmen sich vor, mit ihr auch einmal eine Verabredung zu haben. Wen sollte das stoeren? Karsten jedenfalls nicht. Der hatte genuegend Andere, die ihm nachliefen. Neuerdings nahm sie auch an der Jazzgymnastik teil. Sie gehoerte genau zu den Frauen, denen man gern beim Tanzen zusah. Werner hatte ihr von der Veranstaltung erzaehlt, und versichert, dass es kein Problem geben wuerde, wenn sie als Berufstaetige daran teilnahm. Es fanden keine Kontrollen statt. Ihre fluechtige Anwesenheit hinterliess in dem Raum einen Nachhall von Weiblichkeit, als waere die Luft elektromagnetisch geladen, es lag nicht nur am Parfum oder dem Eindruck ihrer Figur oder der Geschmeidigkeit ihrer Kleidung oder Bewegungen; ihre koerperliche Unmittelbarkeit war derart umwerfend, wer sie zum ersten Mal sah, dem ... und wer sich nicht zurueckhalten konnte, pfiff auf der Strasse hinter ihr her. Werner hatte sich eine Scheibe Brot abgeschnitten und begonnen, sie mit einer braunen Paste zu bestreichen, bedaechtig und praezise wie ein Restaurator, der eine Leinwand lackiert, da klopfte und klingelte es ploetzlich heftig an der Eingangstuer, dass man meinte, die Polizei ruecke zu einer Haus- und Heimsuchung an. Das war nicht gerade ein ruhiges Abendessen. Richard lief hoch. Es war Dieter!, alter Freund aus Tengern und jetzt aufgedonnerter 'Pirat der sieben Meere'. Unter seinem schwarzen Wams trug er ein weites Hemd und Pluderhosen, ein buntes Tuch war ins Haar geschlungen, das die schwarzen Locken baendigte, dazwischen funkelte ein goldener Ohrring und ein zweites, rotes, hing ihm lose um den Hals. Er klopfte Richard auf die Schulter und huepfte wie ein Wiesel ueber die Schwelle. Als er in der Kuechentuer erschien, breitete er die Arme aus wie ein Magier und liess einen schrillen Gruss vernehmen, der besonders von Laura und Ali launig erwidert wurde. Dann kraechzte er: "Ich sass zu Hause und dachte, gehste einfach mal bei denen vorbei und schaust, was die heute abend so vorhaben." "Ja wir wollen nachher noch weggehen", sagte Ali (wobei er sich auf Laura und Kalle bezog). Die drei hatten Dieter ins Herz geschlossen. Mit ihm liessen sich die dollsten Dinger drehen, Tage und Naechte durchzechen, oder stundenlang in den Seilen haengen, Musik hoeren und einen Joint nach dem anderen rauchen, ohne ueber irgendetwas nachzudenken oder sich Sorgen zu machen. Er war voller Tatendrang und Zukunftsplaene, dauernd kamen ihm neue Ideen, was man als naechstes anstellen konnte. Eine Zeitlang versuchte er sich in der Musikszene festzusetzen, traeumte davon, als Popstar beruehmt zu werden und mit der Gitarre Maedchenherzen zu erobern, dann wieder wollte er auswandern, weil er meinte, mit der Mentalitaet seiner Landsleute nicht zurechtzukommen, und sich in einem moeglichst fernen Land, am besten Neuseeland oder Suedseeinseln, niederlassen. Am erfolgversprechendsten schien ihm der Plan, ein kleines Gehoeft und Aecker auf dem Land zu pachten, um mit Gleichgesinnten Biogemuese anzubauen. Als Kind war er mit seinen Eltern manchmal bei einem befreundeten Bauern gewesen, der ihm so interessante Aktivitaeten wie Heuen, Saeen, Jaeten, Duengen, Traktorfahren, Kuhmelken und Stallausmisten beigebracht hatte, und noch heute als vielbewundertes Vorbild in seinen Traeumen herumspukte. Er hatte sich in der laendlichen Idylle so wohl gefuehlt wie nie und nirgends sonst in seinem Leben. Mit den Jahren war sie fuer ihn zum einzig erstrebenswerten Lebensideal geworden, nach dem er sich sehnte wie Andere nach einem Urlaub am Mittelmeer. Wenn er an seine Zukunft auf dem Lande dachte, schienen sich unendliche Moeglichkeiten aufzutun, er stellte sich vor, Schafe zu zuechten, sommers mit Pflug oder Hacke uebers Feld zu gehen und seine Waren auf Wochenmaerkten feilzubieten. In der kalten Jahreszeit wuerde er von Vorraeten und Eingemachtem zehren und den Kotten instandsetzen. Wie anders, wenn die Rede aufs Studium kam (was oft der Fall war, da er sich gern ueber das Thema ausliess). "Das ist nicht das Richtige fuer mich", pflegte er zu sagen und Blick und Stimme verfinsterten sich. "Uni, Wissenschaft, der ganze akademische Betrieb ... zu abgehoben und theorielastig. Die Profs vergessen ganz, wozu sie sich letztlich mit dem Thema Sonderpaedagogik beschaeftigen. Keiner von denen hat in seinem Leben jemals ernsthaft und praktisch mit Kindern gearbeitet." Man sah ihm an, wie ernst es ihm mit der Kritik war, und niemand haette einen Heller darauf gewettet, dass er sein Studium abschloss. Er stand bereits zu dem Zeitpunkt, wo diese Geschichte anfaengt, unter dem selbst geschaffenen Druck, sein Leben moeglichst rasch zu aendern; und all die Verkleidungen und langen Naechte und der Grassgeruch, der ihn umwehte, konnten nicht darueber hinwegtaeuschen, wie unzufrieden er war. Er stammte wie Richard aus Tengern, einer Kleinstadt suedlich von Bremen. Die grossen Hansestaedte sind flaechenfressende Moloche, die alles Umland in ihre bleiernen Maegen schlingen. Tengern war ein verschlafenes Oertchen mit rund 8000 Einwohnern und lag ausserhalb ihres direkten Einflussbereichs. Sie kannten sich schon aus Kindertagen, ihre Koerper waren auf denselben Pflastern und ihr Geist in derselben Schule geschunden worden, ja, eigentlich waren sie damals bessere Freunde gewesen als jetzt, wo ihre Interessen sich auseinander entwickelten und Dieter neuerdings absichtlich die alten Taue ihrer Freundschaft zu kappen versuchte - ... - was der ratlose Richard faelschlich als Echo auf Niederlagen bei lange zurueckliegenden Raufereien interpretierte. Er verstand nicht genau, was in ihm und den anderen Zivilisationsmueden vorging. Was sie dachten und planten, schien ihm zu weichlich, zu wenig greifbar, noch konnte er ihren Widerwillen gegen die Technik ganz nachvollziehen. Bei den AKW-Demos lief er nicht aus Ueberzeugung mit, sondern weil alle es machten, an sich faszinierten ihn die Perspektiven der Kernspaltung. Dabei war er kein so stromlinienfoermiger Technokrat wie Dieter unterstellte. Er trug, nur zum Beispiel, immer eine kleine Papierrolle bei sich, wie sie in Registrierkassen verwendet wird, und auf die er bei Gelegenheit kurze Notizen kritzelte, welche sich meist nicht um das Ingenieurwesen drehten - ... oder wenn, dann mit einem melancholischen Anklang: "Fuer die Wissenschaften wird es keine Grenzen zu geben. Warum nicht der groessten Sopranistin das Gesicht von Catherine Deneuve und die Intelligenz von Marie Curie geben. Alles waere zum besten bestellt, es gaebe keine Missklaenge mehr, und weder geistige noch koerperliche Abnormitaeten. Am Ende wird die ganze Welt so eingerichtet sein, immer bequemer, immer wohlhabender, immer perfekter. Am Negativen wird sich nur noch die Kunst ergoetzen. - Ist das nicht das Endziel moderner Technik, wofuer Konzerne und buergerliche Oeffentlichkeit rackern? Nur die regredierende Buerokratie, ein paar Sonderlinge unter den Wissenschaftlern und die Lethargie der schweigenden Mehrheit stehen ihnen entgegen." Dieter assoziierte mit Richards Studienfach nur Negatives, Naturzerstoerung, kreischende, ueberbeanspruchte Materialien und Profitstreben. Das Wort 'Maschinenbau' entsprach so zielgenau seinem Feindbild, dass er sich inzwischen geradezu von seiner Gegenwart provoziert fuehlte. Er war zu geradlinig, mit jemand befreundet zu sein, dessen Beruf er verachtete. ------ Er holte den zweiten Klappstuhl vor und schob sich zwischen Ali und Laura an den Tisch. Waehrend Werner noch bedaechtig an seiner Vollkornscheibe muemmelte, brach er ein Stueck vom anderen Ende des Laibes, balancierte mit Lauras Messer einen Batzen Kirschmarmelade darauf und biss hinein. Dann sagte er: "Der Termin fuer die zweite Brokdorfdemo steht jetzt fest." Fuer die meisten am Tisch war das eine interessante Neuigkeit, es bedeutete einen gemeinschaftlichen Wochenendausflug samt anregenden Nervenkitzels in der Oede der Marschen. Sie strandeten bei der Erinnerung an die letzte Demo, die kein halbes Jahr zuruecklag, und kamen erst davon ab, als Dieter einen kleinen, leichten und sproeden, unregelmaessig geformten Klumpen aus seinem Brustbeutel fingerte. "Schwarzer Afghane", erklaerte er stolz und bat um ein Kaffeefilter. Das wurde ihm lebhaft bewilligt, und mit Lauras Loeffel stanzte er die staubige Masse, behutsam, dass kein Kruemel verlorenging. Dann drehte er kunstfertig den Joint. Alle blickten gebannt und erfreut auf sein Werk - ausser Birgitta, die waehrend der Prozedur still das Feld geraeumt hatte, Sie wollte noch lernen, ausserdem hasste sie es, stundenlang vollgedroehnt auf unbequemen Kuechenstuehlen herumzuhaengen. "Lasst uns in mein Zimmer gehen. Da sitzt man bequemer und das Feeling ist besser" schlug Ali vor, und man machte sich eilig auf den Weg nach oben. Werner stellte noch schnell die verderblichen Speisen in den Kuehlschrank, bevor er den Anderen nachsetzte. Er kam als letzter nach oben und musste sich beim Sofa auf den Flokati setzen. Ali hatte das schwere Ding wie auch zwei Schraenke und die stabilen Kuechenstuehle von seiner Oma geerbt und in einem gewaltigen Kraftakt mit Richard und Karsten von Kassel heruebergeschafft. Die Anstrengung hatte sich ausgezahlt, solche Moebel gab es heutzutage gar nicht mehr, oder nur zu horrenden Preisen, das Sofa war robust wie eine Eiche, selbst die neuerdings darauf ausgetragenen Gelage konnten ihm nichts anhaben. Von seinem Zimmer hatte man einen sagenhaften Blick auf den Strom, wie in einem Breitwandkino, welches einen ploetzlich mitten in eine fremde Realitaet versetzt. "Ali zieh doch die Gardine weg", hiess es oft, er verstaerkte Stimmungen und Illusionen und wer sich einmal im bekifften Zustand an ihm ergoetzt hatte, wollte jedesmal wieder auf dem Sofa sitzen. Dieter steckte den Joint an und tat den ersten Zug. Er inhallierte erfahren und gab dann an Laura weiter, und jeder rauchte ein zwei Zuege, nicht zuviel, um ihn wenigstens zweimal kreisen zu lassen. Und bald kreisten auch ihre Gedanken und Empfindungen mit, auf euphorischen Hoehen, und sie fuehlten sich eins, ohne dass sie mehr als drei Worte wechseln oder sich in die glasigen Augen schauen mussten, sie kicherten wie verrueckt und haetten schwoeren koennen, dass jede Menge Kommunikation zwischen ihnen ablief. Und doch waren sie einsam in ihrem Vergnuegen und voll innerer Mauern, wie Liebende, die sich alles geben indes auf dem Gipfel nur auf sich selbst sich beziehen. Dieter wusste bestimmt, dass er sein Abitur dem Haschisch verdankte. Damals in der Oberprima, als er in Mathe kaum noch durchblickte, wenn er abends das Heft vor sich auf den Tisch legte und in aller Ruhe einen durchzog und voll stoned auf die Zeichen blickte ... mit einem Schlag verstand er die schwierigsten Zusammenhaenge, er hatte den volle Durchblick, das gereizte Gehirn setzte sekundenschnell alles, wovon die Lehrer je erzaehlt hatten, zu einem gewaltigen Puzzle zusammen. Und das Tollste war, es gab keine Fragen mehr, oder hoechstens die, warum ihm das Ganze ungedroehnt solche Kopfschmerzen machte. Er glaubte (und verfocht diese Theorie vehement unter seinen Freunden), wenn man systematisch mit bewusstseinserweiternden Drogen experimentierte, liessen sich Mathematik, Physik usw auf kreative Weise fortentwickeln, und all die unwissenden Laemmchen mit ihren kuemmerlichen Geistesblitzen, die sich an Spiesserveranstaltungen wie 'Jugend forscht' beteiligten, leicht in den Schatten stellen. Er hatte sogar erwogen, bekifft in die Abschlussarbeiten zu gehen, das war ihm aber doch zu riskant gewesen, im letzten Moment nahm er Abstand davon. Jedenfalls reichte der Kick vom Vortag noch hin, die alles entscheidende Pruefung mit einer vier minus zu bestehen, und heute noch liess er sich gern und leidenschaftlich ueber diesen Triumph aus und bewies damit unzweifelhaft, dass Shit auf jeden Fall legalisiert gehoerte. Das Abitur lag weit zurueck, er musste sich um Mathematik keine Gedanken mehr machen und konnte sich ganz auf die sonstigen Vorzuege des Rauschmittels konzentrieren, Traumbilder und Bewusstseinserweiterung in Kombination mit psychedelischer Musik, Westcoast! Wow! Ali wusste genau, wie man es seinen Freunden recht machte. Rauch kraeuselte in komplizierten Wendeln unter der Zimmerdecke und rotierte zum Fenster, wo er sich aufloeste, die Luft im Zimmer wurde schnell so schlecht, dass es ein Unbeteiligter kaum ausgehalten haette, die Benommenen aber kam eine schwere Suesse an, sie haetten sofort unterschrieben, fuer immer in diesem Nirwana zu verharren. Unglaublich, was ein Quentchen Harz in grauen Zellen ausloest!, fast gratis schwebt das Bewusstsein auf eine lange Reise in hoehere Gluecksdimensionen. Dabei versetzt das Cannabinol den Kiffer nicht in ein wirklich anderes Dasein, oder wenn, dann konnte man jedenfalls nicht darin verlorengehen, es kamen keine Gespenster vor, keine Albtraeume oder irrsinnig scheussliche Halluzinationen, keine Furcht und kein Hass. Sorglos durfte man sein und befreit vom unerbittlichen Mahlstrom der Wirklichkeit. Das Klingeln unterbrach nur kurz ihr Wohlbehagen; beinah im selben Moment (so schien es) tauchte Martin auf, von einer entnervten Birgitta hochgewunken, ein ueberlebensgrosser Martin, der enttaeuscht auf den ueberquellenden Aschenbecher starrte. Ihm blieb nichts uebrig, als sich schweigend in die Ecke zu flaggen, wo ihm Richards Fuesse bereitwillig Platz machten und eigenen Gedanken nachzuhaengen, getrennt von den Anderen und im Missklang mit ihren Synapsen. Nach laengerem Schweigen erwachten die jungen Leiber wieder zum Leben. Man rieb sich die Augen und streckte die Glieder, sprang auf und zappelte muede herum wie ein Haufen kleiner Kinder. Das Licht ueber dem Fluss war erloschen, Ali machte die Stehlampe an und zog die Vorhaenge zu. Die meisten draengten zum Aufbruch. Laura schlug vor, ins Golem zu gehen, im Dschibi sei jetzt noch nichts los. Ihm war das recht. Auf einmal nervten ihn die vielen Leute im Zimmer und besonders Martin, mit dem er nicht auskam. Ritchies Busenfreund, man staunte immer, was die Beiden stundenlang zusammenhockten und zu bereden hatten. Wie autistische siamesische Zwillinge kamen sie ihm vor (falls es die gab). Es war klar wie dicke Tinte, man wuerde ihn nur mit Richard zusammen loswerden. Der aber sass als einziger noch benebelt auf dem Sofa und machte keine Anstalten zu verschwinden. Deshalb draengte Ali kurzerhand selbst hinaus, mit Laura im Schlepptau. Dieter wollte erst noch zu Hause vorbei und hinterher nachkommen. Kalle schwankte, ob er ueberhaupt mitgehen oder lieber sein Oszilloskop reparieren sollte. Als die vier fort waren, zog sich auch Werner zurueck, er sei muede vom Sport. Er hatte das bestimmte Gefuehl, ohne dass sie es aussprachen, sie wollten allein bleiben, um ihre seltsamen Diskurse zu pflegen, liess sich aber nichts anmerken. "Komm, wir gehen in dein Zimmer", sagte Martin. "Ich mach uns n Tee und wir reden." Richard erhob sich. "Ja gut ..." "Ich hab uebrigens den ganzen Abend Zeit. Wollen wir nachher noch wo hin?" "Okay, es sollte nur nicht zu spaet werden, sonst haenge ich morgen kaputt in den Vorlesungen." Er wollte kein Spielverderber sein und fuegte hinzu: "Bis elf koennen wir auf jeden Fall wegbleiben." Martin reichte das nicht. Aber was sollte er machen? "Wann wollen wir gehn?" "Vielleicht um 9. Vorher ist sowieso nichts los." Sie begaben sich in Richards Refugium, einen spartanisch moeblierten Raum am Ende des Korridors. Von allen Raeumen war das Parkett hier am besten erhalten und wurde von keinem Teppich verhuellt. Es gab ein Bett, einen Schreibtisch und mehrere Stuehle, das meiste vom Sperrmuell. In der Ecke stand ein grosser Kohleofen mit hellweissen Kacheln. "Ich mach im Moment ein interessantes Praktikum mit Rechenmaschinen", sagte Richard, als sie sich dort niedergelassen hatten. "Wir nehmen uns jede Woche einen anderen Typ vor, mal eine digitale, dann eine analoge usw; es sind auch Computer dabei, die gar nicht industriell eingesetzt werden, seltsame neuartige Konstruktionen. Wir analysieren ihre Vor- und Nachteile, und zum Schluss werden wir alle Modelle vergleichen, um vorherzusagen, welche der Apparate die besten Zukunftsaussichten hat." "Solche Prognosen sind nicht so einfach. Irgendeine neue Richtung, die die Industrie einschlaegt, und schon ist ein anderes Konzept im Vorteil. Das ist wie in der Evolution, wo veraenderte aeussere Bedingungen Flora und Fauna total drucheinander wirbeln koennen. Ausserdem haengt die Antwort auch davon ab, fuer welche Zwecke die Maschine eingesetzt wird. Wenn sie nur stupide Multiplikationen ausfuehren soll, ist die digitale Methode ueberlegen. Aber fuer manche industrielle Anwendung, wenn die analoge Technik genau zu der Anwendung passt ..." "Die meisten Experten stimmen ueberein, dass analoge Rechner unterlegen sind", sagte Richard. "In dieser Hinsicht wird auch bei unserm Praktikum nichts Neues rauskommen. Trotzdem, sie faszinieren mich mehr als die 'dummen' digitalen Maschinen, die nur Nullen und Einsen zusammenzaehlen koennen. Man darf sich dann nicht wundern, wenn sie nur mechanisch-mathematische Operationen draufhaben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man damit jemals kuenstliche Intelligenz erzeugen kann." "Das haengt davon ab, welche Rechengeschwindigkeiten erreicht werden. Bekanntlich lassen sich aus ganz einfachen Systemen hochkomplizierte Strukturen aufbauen - siehe Chemie und Biologie." "Aber die organische Natur hat fuer ihre heutige Vielschichtigkeit Millionen Jahre gebraucht! ... Ausserdem leuchtet mir grundsaetzlich nicht ein, wie aus Nullen und Einsen jemals eine hoehere Struktur entstehen soll. Fuer wahre Komplexitaet braucht man zusaetzliche Elemente, zum Beispiel die Dialektik, sonst bleibt alles trivial." "Vielleicht laesst sich die Dialektik auf das duale System abbilden", sagte Martin. "Bei der gewoehnlichen Logik ist das ja auch moeglich. Auch wenn es im Moment nicht danach aussieht - ich bin mir ziemlich sicher, Rechenmaschinen werden eines Tages Aufgaben uebernehmen, an die heute noch kein Mensch denkt." "Ja genau, sie loesen die Probleme, die wir ohne sie gar nicht haetten." Er lachte. "Aber okay, das kann schon sein, die Technik wird sich auf jeden Fall weiterentwickeln." Soviel musste er als kuenftiger Ingenieur zugeben. "Aber die Dialektik" - er hatte es mit der Dialektik - "geht mit Sicherheit ueber das Binaersystem hinaus. Du siehst es an der Struktur der menschlichen Gesellschaft." Er lehnte jedes mechanische Bild der Gesellschaft ab. "Die ist kompliziert und laesst sich mit mathematischen Gesetzen nicht beschreiben, da bin ich ganz sicher." Er hatte begriffen, dass es Lebensbereiche gibt, in welche die Wissenschaften nie eindringen werden. "Dazu braucht man andere Denkfiguren, wie eben die Dialektik ... und in unserem Zeitalter besonders die negative Dialektik." "Die kritische Theorie ist mir zu beschraenkt", sagte Martin, "sie klammert bestimmte ontologische Fragen einfach aus. Du solltest Heidegger lesen, besonders 'Sein und Zeit'." "Wahrscheinlich", sagte Richard, "der Existenzialismus ist mir sowieso sehr sympathisch. Ne echt dolle Theorie!, JEDER hat immer die freie Entscheidung, er muss sie nur zu treffen wagen, dann kann er aus jeder vorgegebenen Rolle und Zwangsjacke ausbrechen. Sartre hat schon in den 50er Jahren ..." "Ich meine nicht Sartre. Fuer den ist Existentialismus eine oberflaechliche Mode. Wenn man frei ist, muss man auch die Verantwortung fuer sein Handeln uebernehmen, und zwar jeder persoenlich als Subjekt, denn es gibt positiv und negativ zu bewertende freie Entscheidungen. Sartre ist zu unklar in seinen ethischen Folgerungen, er gibt dem Marxismus zu sehr nach, indem er einen Teil der Verantwortung auf die Klassen schiebt. Heidegger geht viel mehr in die Tiefe, indem er das Ontologische der Existenz betont. Dadurch sind sowohl Freiheit wie Verantwortung begrenzte Wesenheiten. Sartre gibt zwar zu, dass wir Geworfene sind, behauptet aber, diese Kategorie sei nur auf unser Sein als Ganzes anzuwenden. Ihm zufolge sind wir in jeder konkreten Situation vollkommen frei. Dabei liegt doch auf der Hand, es gibt fuer jedes Subjekt Formen des Handelns, die ausserhalb seiner Kontrolle liegen, sei es das Handeln im Affekt oder aus Mangel, denke nur an den Hunger des Kindes, die Erregungen des Eifersuechtigen, des Wuetenden, des Aengstlichen, oder an eine Notwehrsituation. Darin ein Moment der Freiheit zu entdecken, heisst, den Terminus als solchen (ich meine den Terminus der Freiheit) abwerten. Genaugenommen hat Sartre einen ganz anderen Freiheitsbegriff als wir. Fuer ihn bedeutet er nicht mehr als die Existenz des Menschen in der Gesellschaft. Sobald der Mensch mit anderen Individuen verkehrt, ist die Form dieses Verkehrs eine freie. Fuer uns ist Freiheit viel mehr! Heideggers Kritik kommt aus einer anderen Richtung, ist aber nicht minder berechtigt. Die Menschen sind viel weniger gesellschaftliche Wesen als Sartre behauptet. Nur darum ist es ihnen moeglich, zu bestimmten Zeiten den scheinbar gesetzmaessigen Verlauf der Geschichte zu aendern." Und dann setzte er zu einem gewaltigen philosophischen Monolog an, der alles vereinte, was er bei Heidegger, (der notabene auch Martin heisst) gelesen hatte, so dass Richard kaum mehr dazwischen kam, und schloss endlich: "Was wir hier diskutieren, ergaenzt sich mit dem, was du vorhin ueber manche Denkfiguren gesagt hast, die man niemals mit dem Computer abbilden kann; auch die Seinsideen und die der Freiheit gehoeren dazu. Uebrigens, nicht nur Rechenmaschinen, die moderne Wissenschaft als Ganzes ist inhaerent seinsvergessen, wie Heidegger sagt. Nur in der Philosophie ist das Andenken an das Sein lebendig." "Warte mal" fiel Richard ein, "hatte Heidegger nicht das Problem, dass er bei den Nazis aktiv war?" "Ja, er war Rektor in Heidelberg, aber nur zwei, drei Jahre nach 33. Dann haben sie ihn abgesetzt, weil er zu eigenstaendig war und seine Ideen doch nicht zu ihrer Ideologie passten. Anfangs hat er tatsaechlich mit ihnen sympathisiert, weil er meinte, die Blut-und-Boden Romantik sei mit seinen ontischen Seinsgruenden verwandt, und sie haben ihn gern in dem Glauben bestaerkt; aber irgendwann hat er gemerkt, dass sie ihn nur ausnutzen, er hat sich dann aus dem Unibetrieb zurueckgezogen und nur noch Philosophie gemacht." Richard dachte: "Der Typ ist wohl eher wegen seiner Verschrobenheit von den Nazis ausgebootet worden, er haette vielleicht ganz gern weiter bei Ihnen mitgemacht. Hinterher kam es ihm natuerlich zupass, dass er sagen konnte, er sei abgesetzt worden." Er wollte jedoch nicht weiter ueber Heideggers Biografie diskutieren und sagte mit etwas dilettantischem Philosophieverstand: "Ich glaube, man muss das dialektisch sehen. Es gibt sowohl die ontische wie auch die gesellschaftliche und auch noch die natuerliche Existenz des Menschen, und alle drei ergaenzen sich und sind miteinander verwoben. Die natuerliche Existenz schafft die Seinsvoraussetzung, mit der gesellschaftlichen spielen wir unsere Rolle im sozialen Gefuege, agieren als Angehoerige einer Klasse und so weiter, die ontische ist am wenigsten greifbar, sie liegt irgendwo dazwischen und zugleich darunter ..." Immer wenn sie sich trafen, gerieten die Beiden in diesen Rausch der besonderen Art, es war wie ein Bann, von ihren Argumenten gebildet, wie ein grosser geheimer magnetischer Berg, der sie in beliebigem Wechsel zusammenhielt oder auseinandertrieb, es war wie ein Hunger, es war wie Nahrung oder Kraftstoff fuer ihre jungen Gehirne, es war eine seltsame Weise der Befriedigung, die Aussenstehenden als nutzlose Schwaermerei erscheinen mochte, fuer sie aber war es das Wichtigste auf der Welt. Sie hielten ihre Analysen fuer das Nonplusultra des Denkens, und obwohl wahrscheinlich schon hunderte Philosophen die Pfade plattgetreten hatten, glaubte Richard waehrend seines ganzen spaeteren Leben (in dem er als Anlagenbauer sein Geld verdiente), weder vorher noch nachher sei jemals von irgendjemandem treffender argumentiert worden ... und nicht nur weil sie zu zweit waren!, wie in Symbiose, einander ergaenzten und auf Trugschluesse hinwiesen. Er hatte wieder Hunger bekommen, und da er nicht soviel Geld in der Kneipe lassen wollte, ging er in die Kueche und schlang schnell ein Brot herunter. "Hast du auch Hunger?" "Nein danke. Ich werd nachher zwei Bier trinken, damit ist mein Nahrungsbedarf normalerweise gedeckt." "Was haeltst du davon, wenn wir ein Stueck Richtung Reeperbahn laufen?" ------- Der schnellste Weg nach St. Pauli verlaeuft via Pallmaille ("Palmallje") und Pepermoelenbek. Die Pallmaille ist eine relativ ruhige, regelrecht gemuetliche, gerade, breite, leicht abschuessige, doppelspurige Strasse, mit Birken und Buchen an den Seiten und hohen Straeuchern auf dem Mittelstreifen, der Hauptverkehr zwischen Altona und St. Pauli verliert sich weiter im Norden auf der Ost-West-Strasse. Sie haetten auch direkt an der Elbe laengsgehen koennen, am Fischmarkt vorbei und dann die Davidstrasse hoch. Doch um diese Zeit war der Fischmarkt windig und einsam, nicht dass sie sich gefuerchtet haetten, doch man konnte sich wegen der Dunkelheit schlecht konzentrieren, an manchen Stellen nahe der Elbe gab es weder Licht noch Gehsteig, und oefters musste man Autos ausweichen, Freier, die eine Prostituierte aufgegabelt hatten und ein stilles Plaetzchen suchten. Das nervte. An der Pallmaille bewegte man sich im schuetzenden Windschatten einer Haeuserfront, wuchtige und solide Geschaeftsbauten unbestimmbaren Alters im viktorianischen oder neoklassischen Stil, die Kontore und Kanzleien, Konsulate von Bananenrepubliken und Dependancen kleiner privater Banken und Versicherungen beherbergten. Jetzt abends lag alles verlassen, keine Leuchtreklame, nur einfache Messingschilder, auf denen die Schatten der Baeume spielten. Und waehrend der ganzen Zeit waren sie mit ihren Gedankensystemen beschaeftigt, und ihre Gespraechsthemen nahmen erst spaeter eine reale Faerbung an, als die Baeume aufhoerten und das Licht heller wurde, und ganz hinten in der Ferne, wo die Reeperbahn endete, erhob sich das neue Iduna-Hochhaus, Spott auf das Denkmal des unseligen Herzogs von Lauenburg, Architekten des deutschen Desasters. Auf der Reeperbahn draengten sich die Lokale. Aermliche Frittenbuden und Spelunken, wo hinter braunverraeucherten Scheiben menschliche Wesen vor Bieren hockten, mit angestrengten Gesichtern, die sich in seltenen sanguinischen Anfaellen einander zuwandten und sonderbare Laute bruellten, wechselten mit Vergnuegungspalaesten, vor denen kraeftige Maenner in Anzuegen patrollierten und mit muerrischen Gesten zahlungskraeftige Passanten zum Bleiben einluden. Die Eingaenge dieser Amuesiertempel waren mit blinkendem Neon bekraenzt, dessen Licht wie Dunst in der Strasse lag. Bei der Davidswache standen hochhackige Huren herum, in engen Shorts oder Miniroecken. Martin und Richard, die auf der anderen Seite gingen, bedachten sie hoechstens mit Seitenblicken. Sie konnten weder mit der Prostitution noch mit Prostituierten viel anfangen (ausser dass sie sie verunsicherten), sie waren in dem Alter, wo man Frauen, was wesentlich befriedigender ist, normalerweise nicht mit der Brieftasche erregt, und sich nicht im entferntesten vorstellen, und von Natur keine Geschaeftemacher und haetten auch mit weniger heikler Ware keinen Handel getrieben, freiwillig an dieser deprimierenden Vorfuehrung mitzuwirken, weder als Kunde und schon gar nicht als Zuhaelter. - Schliesslich drehten sie bei, sie mochten auch die hiesigen Kneipen nicht. Auf dem Rueckweg kam ihr Dialog ins Stocken und zuletzt verfielen sie in Schweigen, fuer welches man den Grund nur vermuten kann, vielleicht beschaeftigten sie die Prostituierten mehr als der Autor zugeben mag, und erst ungefaehr als sie wieder die Grenze nach Altona ueberschritten, wo es ruhiger und weniger zwielichtig wurde, begann Martin, ueber seine Finanzprobleme zu reden. "Der Rechtsstreit mit meinem Vater zieht sich endlos hin. Das Studentenwerk ist zwar eingesprungen und zahlt vorlaeufig die monatlichen Raten, trotzdem ist der Prozess eine ziemliche Belastung fuer mich. Ausserdem haben sie gesagt, sie koennen normalerweise nicht laenger als ein Jahr ueberbruecken. Ich kenne meinen Vater, er ist knallhart und wird es drauf ankommen lassen; und wenn er durch alle Instanzen geht, kann es mehrere Jahre dauern, bis ich zu meinem Geld komme. Wenn ueberhaupt." "Irgendjemand muss doch zahlen", empoerte sich Richard. "Das steht im Bafoeg-Gesetz." "Mein Vater hat fuer mich und meine Geschwister noch nie einen Pfennig herausgerueckt. Er macht geltend, dass er seine 5 Kinder aus zweiter Ehe versorgen muss. Anscheinend meint er, damit durchzukommen, und vielleicht haben die Richter tatsaechlich einen Ermessensspielraum, sonst haette ihm sein Anwalt doch zur Zahlung geraten, oder?" Die Antwort kannte Richard nicht, und wiederum fielen sie in ein diesmal bedruecktes Schweigen. Martin musste an seinen Erzeuger denken, und wie er ihm neulich gegenueber stand, jahrelang hatten sie sich nicht gesehen. Doch die Mutter hatte gemeint, er solle ruhig hinfahren, ob der Alte tatsaechlich die Chuzpe besass ... Der Vater hatte selbst aufgemacht, kaltbluetig, ja so war er wohl, Martin wuenschte sich oft, er haette etwas von dieser Kaltschnaeuzigkeit geerbt, und ihn gleich ins Arbeitszimmer gefuehrt, eine duestere Kammer mit dunkler Moeblierung, und hatte gefragt: "Du wolltest mich sprechen?" und ihn dabei ueber die Raubvogelnase hinweg angeblickt, die Martin von ihm geerbt hatte, Vorwurf im Blick, schliesslich hatte der Prozess ihn unsanft an seine erste Familie erinnert, ein anderes Universum, dem er vor 15 Jahren entflohen war. "Ja also du weisst, ich habe mit dem Studium angefangen, und Mama hat kein Geld. Ich wollte dich fragen, welchen Beitrag du leisten kannst, um mich zu unterstuetzen." Er hatte sich die vorsichtige Formulierung vorher zurechtgelegt. "Ja also Junge, du denkst wahrscheinlich, ich als Geistlicher haette ein phantastisches Einkommen und koennte dir leicht das Studium finanzieren, auch die staatlichen Stellen scheinen das zu glauben. Aber tatsaechlich bleibt mir nach Abzug der Haushaltskosten und der Zinsen, die ich fuer das Haus zahle, fast gar nichts uebrig. Als Pfarrer verdient man nicht viel, jedenfalls nicht so viel wie alle meinen, da muesste man schon in der Kirche Karriere machen. Ich habe das alles deiner Mutter uebrigens schon mehrfach erklaert." "Findest du es gerecht, dass deine neue Familie praktisch dein ganzes Einkommen erhaelt, waehrend fuer uns gar nichts uebrigbleibt?" wagte sich Martin vor. "Ich weiss nicht, ob es gerecht ist. Nur leider verbrauchen wir das Geld eben. Sieh selbst, wir leben durchaus nicht im Luxus. Das Haus ist gerade gross genug fuer eine siebenkoepfige Familie, mein Arbeitszimmer hier" und damit wies er in die Runde "ist frueher die Waeschekammer gewesen." Was sollte man darauf erwidern? Er haette vorbringen koennen, dass die Gerichte das, nach allem was er wusste, wahrscheinlich anders sehen wuerden, und ihm der Vater doch wenigstens den Gefallen tun koennte, dafuer zu sorgen, dass er nicht zu lange auf seinen gerechten Anteil warten musste. Und wenn der Alte auch darauf nicht und auf gar nichts reagierte, haette er frech werden koennen, ihm klarmachen, was fuer ein Rabenvater er war: Kinder in die Welt setzen und sich kein Deut um sie kuemmern. - Doch ploetzlich ueberfiel ihn eine seltsame Laehmung und ein Ekel, und er begriff, selbst dazu wuerde es eine passende scheinheilige Antwort geben, dieser Kanaille war nur mit den Buchstaben des Gesetzes beizukommen. Also verfiel er darauf, ihn nur missmutig anzustarren, bis ihm ganz schwindlig wurde vor Anstrengung, als liesse in dessen alternden Zuegen der Grund fuer die existentielle Abneigung gegen den Sohn sich finden, und als der Vater endlich die Augen senkte und weiteren Blicken auswich, hoffte er ihn damit verunsichert zu haben. - Nichtsda; beim Abschied hiess es jovial: "Es tut mir wirklich sehr leid, Martin. Bitte versuche einmal, meine Situation zu verstehen. Vielleicht bringt dich das zu der Erkenntnis, wie unangemessen deine Klage ist." Und dann musste er sich noch anhoeren: "Einen Ratschlag kann ich dir uebrigens kostenfrei auf den Weg geben. Du solltest besser Theologie studieren, wie ich und dein Grossvater. Das Andere ist doch brotlose Kunst; wenn du dich unbedingt damit beschaeftigen willst, tu es im Nebenfach ..." - Auch Richard dachte an seinen Vater, von dem er immer anstandslos Kohle bekam. Wie war es moeglich, dass sich zwei Maenner so verschieden verhielten? Lags am Charakter? An der zerbrochenen Ehe? Obwohl sie neun Jahre dieselbe Klasse besucht und fast alles gemeinsam gemacht hatten, schienen sie Welten zu trennen. Er war oft bei Martin zu Hause gewesen, hatte mitbekommen, wie bescheiden er lebte, doch die seltsamen Situationen, die er beschrieb, in denen Erwachsene ihren Vorteil gegen Kinder hemmungslos ausspielen, konnte er sich nicht so recht vorstellen. - Waehrend sie durch das abendliche St Pauli spazierten, hatte sich ueber ihnen ein seltenes Schauspiel vollzogen. Obwohl der Abend voranschritt, war es heller und sogar waermer geworden, weil der Wind nachliess und im Westen der Himmel aufriss und die Dunkelheit einer Art duester-grauen Weissigkeit Platz machte. Im Osten leuchteten Sterne. Flinke Wirte, die noch ein paar Mark verdienen wollten, begannen auf den Strassen vor ihren Gaststaetten Tische aufzustellen, und als die Jungen das Sievekingtor erreichten, sprang ihnen das Gartenlokal foermlich ins Auge. Unter einer Laube ein halbes Dutzend Tische auf engstem Raum, die meisten Plaetze schon besetzt. Lampions erhellten die Szene. Die Luft war klar wie nach einem schweren Regen. Eine groessere Gruppe jugendlicher Nachtschwaermer, die keinen Platz fand, stand unentschlossen neben einem Holzpfeiler. Eben erschien der Kellner im Tuerrahmen und rauschte die Steintreppe zur Laube hinunter. Richard sog die verlockende Szene in sich auf und gab zu, noch eine Stunde Zeit zu haben. Sie zwaengten sich zu einem Tisch durch, wo noch zwei Plaetze frei waren. Dort sassen ihnen zwei Maedchen gegenueber, was ihre Stimmung nicht verschlechterte. Unmerklich zoegernd und ohne sich vorzustellen, liessen sie sich nieder. Die Maedchen schienen's nicht uebelzunehmen; sie laechelten liebenswuerdig und zugaenglich, und wunderbarerweise wenn auch nicht ganz wie von selbst kamen sie ins Gespraech. Sie waren juenger und trugen weite wallende Kleider mit weinroten Blumenmustern, was ihnen den Anstrich von Provinzlerinnen gab, oder von Schuelerinnen, die ihren Stil noch nicht gefunden haben. Die eine rauchte, die Bruenette hiess Ellen. Die eine war hager, die andere etwas fuelliger, was bei 16-, 17-Jaehrigen 'Babyspeck' genannt wird, der sich noch ablaeuft. Das glatte volle Haar fiel auf wunderbar geschwungene Schultern, sie trug eine schiefsitzende Nickelbrille, der es nicht gelang, ihr auch nur im entferntesten einen intellektuellen Anstrich zu geben, und gefiel Martin sofort. Ihr Teint war frisch und rosig wie der eines Kindes, und ihre Augen blickten durch das verbogene Brillengestell, als seien sie muede von etwas, was sie ueberanstrengt oder ueberfordert hatten. Als er hineinsah, erhellten sie sich wie Fenster, hinter denen das Licht angeht, und es schien ihm, als blicke er durch ein umgedrehtes Fernglas in eine vielversprechende Zukunft. Es mag uebertrieben klingen, aber wasimmer er tat, ob er den Stuhl zurechtrueckte oder nach der Speisekarte griff, an seiner Jacke nestelte oder eine Zigarette zu drehen begann, ihr Blick loeste einen fuer Andere nicht wahrnehmbaren abrupten Schnitt in seinem inneren Universum aus, er musste innehalten und neues Mass an seinen Handlungen nehmen, und seine Existenz konzentrierte sich auf diesen einen Moment des Erkennens. "Ihr muesst Eure Getraenke in der Kneipe bestellen", sagte sie unvermittelt. "Der Kellner kommt hier nur zum Abraeumen." "Ok, dann werde ich mal was holen", meinte Richard und erhob sich. "Siehst du, wie gut du dich in Hamburg schon auskennst. Kannst andern Leuten Kneipentips geben, also kein Grund ungluecklich zu sein", sagte die Freundin wenig geistreich. Anscheinend bezog sie sich auf etwas, was sie vorher besprochen hatten. "Woher kommst du denn", wagte Martin dazwischenzufragen. "Aus Ulm", erwiderte Ellen, "ich bin erst drei Wochen hier"; und die Hagere verkuendete indiskret: "Sie hat es zuhause nicht ausgehalten. Ihr Stiefvater ist ein netter Kerl, aber die Mutter nervt total. Leider hat sie in Hamburg noch kein eigenes Zimmer, sie wohnt vorlaeufig bei mir." Auf diesen Einblick in ihre unrosige Lage schwieg Ellen, und Martin fragte nicht weiter nach. Sicher war es besser, ein unverfaengliches Thema anzuschneiden; doch nichts Vernuenftiges wollte ihm einfallen und so war er froh, als Richard mit zwei Glaesern zurueckkam. Weniger froh war er, als sein Freund, der, wie in seiner Umgebung allgemein bekannt, sich gegenueber unbekannten jungen Frauen meist wie ein Armleuchter auffuehrte, kurz darauf sein Pocket-Schach aus der Tasche holte und eine Partie mit ihm spielen wollte, er fuerchtete, dadurch werde die zugegeben unwahrscheinliche aber eventuell doch moegliche Fortfuehrung des zarten Kontaktes behindert. Richard aber stellte unverdrossen seine Figuren auf und wies ihn an, den ersten Zug zu tun, ohne sich noch im mindesten um die beiden Maedchen zu kuemmern, und obwohl auch er bemerkt haben musste, wie aufregend und interessant sie waren. Mit dem Schach wollte er sich ablenken, seine Gedanken reinigen, er fand das war noetig, weil er unbewusst meinte, aus solchen Situationen zu oft erfolglos hervorgegangen zu sein, oder vielleicht, weil er die Affinitaet zwischen Martin und jener Schwaebin sofort gespuert und auch schon frueher die Erfahrung gemacht hatte, oder meinte, die Erfahrung gemacht zu haben, dass der Freund mit seiner markanten Nase bei den meisten Frauen besser ankam als er. Martin ergab sich in sein Schicksal, nicht ohne zuvor einen begehrlichen Blick auf Ellen geworfen zu haben, den diese aufmerksam registrierte. Und waehrend Richard wortkarg doch mit wichtiger Miene ueber die Bewegungen seiner Figuren raesonierte, fuehrte Martin sie fluechtig von Feld zu Feld, sein Geist verlor sich in ganz anderen Gefilden ... bei der nervoesen und unergiebigen Erwaegung, wie er aus der Sackgasse des Spiels herauskommen koenne, mit welcher Strategie sich Ellen gewinnen liess, und bei der strukturlosen Vorstellung, wie er sie lieben wuerde. Da kam sie ihm gluecklicherweise zu Hilfe. "Oh Schach", brach es aus ihr hervor, "das wollte ich schon immer mal lernen." "Das laesst sich in fuenf Minuten nicht erklaeren", sagte Richard barsch, noch ehe er ueberhaupt reagieren konnte, aber das stoerte nicht weiter, das war ihm lieber als wenn sein neunmalkluger Freund mit einem langen Vortrag losgelegt haette, denn nun konnte er ihr erstmal und wiederum tief und hungrig in die Augen blicken, um sodann ein paar grundlegende Tatsachen ueber das Schachspiel von sich zu geben, mit einfachen verstaendlichen Worten, womit er sie einesteils sozusagen verbal streichelte und sein Interesse an ihrer Person bestaetigte, und andernteils einen scheinbaren oder wirklichen Vorsprung in seinem Erfahrungs- und Wissens-horizont behauptete (eine gute Voraussetzung fuer viele reale Geschlechtsbeziehungen). Es stoerte ihn nicht, als Richard irritiert seine taktischen Ueberlegungen abbrach, wie man mit Hilfe zweier Laeufer Martins Dame den Weg abschneiden konnte, und sich schliesslich, da das Spiel stockte, ganz zuruecklehnte, um ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen unmutig anzustarren. Nach dem Ende seiner Rede sagte Ellen schmeichelnd: "Ich glaub auch, so ein kompliziertes Spiel kann man nicht in der Kneipe lernen. Aber vielleicht koenntest du mir Nachhilfeunterricht geben, das wuerde mich sehr interessieren." "Ach du gruene Neune", dachte Richard. "Nachhilfeunterricht! Dass ich nicht lache!" Das hatte er noch nicht erlebt, eine Frau, die sich einem Mann so offen an den Hals warf und von sich aus damit ankam, ihn zu Hause zu besuchen. Denn darauf wuerde es doch hinauslaufen, da sie selbst keine Wohnung hatte. Martin liess sich die Gelegenheit natuerlich nicht entgehen. Ganz ernsthaft ging er auf sie ein, na-klar wuerde er das gern tun, sehr gern sogar, da brauchte sie nicht zweimal zu fragen. Die Grundregeln des Schach liessen sich in zwei, drei Stunden lernen, und dann koenne er ihr noch die Feinheiten beibringen, die seien das Eigentliche des Spiels, warum man es auch das Koenigliche nenne. Das sei genau, was sie sich schon immer gewuenscht habe, rief Ellen so affektiert, dass Richard bei diesem Angeben und Gesuelze gar nicht mehr zuhoeren mochte, und auch die hagere Freundin, die anfangs einen so dominierenden Eindruck gemacht hatte, schwieg gelangweilt oder ergeben, waehrend die beiden schon halb Turtelnden begannen, die Modalitaeten ihrer Verabredung auszuhandeln. Bald darauf trennte man sich, niemand hatte Lust, noch laenger sitzen zu bleiben, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, und als er sich spaeter an der Sternbruecke von Martin verabschiedete, geschah dies im Gefuehl eines solchen Ungleichgewichtes, wie es ihre Freundschaft in all den Jahren nur selten ertragen musste. ----- Zwei Tage spaeter machte er sich mit einem Brief und einer Liste seiner Argumente auf den Weg zum Wohnbauamt Altona. Das Rathaus lag hinter Blumenrabatten an der Max-Brauer-Allee (dort wo sie von der Palmaille abzweigt) und war von barocker Pracht, ganz hellweiss gestrichen, wie der Regierungssitz eines Operettenstaates, jeden Moment erwartete man laermende Offiziere mit buntfunkelnden Epauletten unter dem riesigen Portal hervortreten. Dabei beherbergte es nur den Sitz des Bezirksbuergermeisters und Hunderte graue Beamte. Der Pfoertner in seiner kleinen Kabine wies ihn in den zweiten Stock. Auf einer breiten, knarrenden Holztreppe mit Stufen flach wie fuer Zwergmenschen trippelte er nach oben und landete auf einer Empore, von der mehrere gerade Gaenge mit Dutzenden Tueren abzweigten. Die Beschreibung war ungenau und er musste lange suchen, bis er das richtige Buero fand. 'Johannes Lohrmann, Sanierungsbeauftragter' stand auf dem Schildchen unter der Zimmernummer. Er klopfte; klopfte mehrmals, ohne Antwort zu erhalten und drueckte schliesslich den Griff nach unten. Die Tuer war verschlossen, auf dem Flur kein Mensch zu sehen. Was tun? Es roch nach Putzmitteln und altem Holz oder Papier. Er fuehlte sich nicht wohl, er spuerte eine vage Bedrohung und wurde von einem seltsamen Fluchtimpuls ergriffen. "Ach Bloedsinn!", dachte er und wandte sich entschlossen den uebrigen Tueren zu. Hinter der einen hoerte er sprechen, da wollte er nicht stoeren. Also zurueck in die andere Richtung. Als er diesmal klopfte und lauschte, vernahm er endlich ein gedaempftes "Herein!". Er trat in eine Art von Kontor, wie aus den 30er oder 40er Jahren. Ueberall standen unpraktische Moebel im Weg, wie in einer Rummelbude durcheinander gewuerfelt, wacklige Holzstuehle, Tische, deren Oberflaeche mit demselben Linoleum wie der Fussboden belegt war, grosse Schraenke voll Akten, Ablagerungen aus anderen Abteilungen, oder vergangenen Zeiten, und eine grosse, laut tickende Wanduhr. All dies streifte sein Bewusstsein nur, wie ein fluechtiger Nebel; denn im selben Moment fiel sein Blick auf die Dame am Schreibtisch, und gleich konzentrierten sich alle Sinne auf ihre blauaeugige Erscheinung. "Ja bitte" fragte sie, und nach einer verwirrend langen Pause presste er hervor: "Ich wohne in der Klopstockterasse 1, hier in Altona, wir haben von Ihnen diesen Brief erhalten." Er hielt ihr das Blatt hin, sie streckte die Hand danach aus, und er sah ein schmales goldenes Armband nach unten baumeln, und die dazu passende Kette am Hals, und waehrend sie las, studierte er ihren Haarreifen und merkte, wie ihre Augen zwischen den Saetzen zu ihm herueberglitten, und als sie fertiggelesen hatte, laechelte sie, oh dieses Laecheln! "Sie haetten vorher anrufen und einen Termin mit Herrn Lohrmann ausmachen sollen." "Ich dachte, ... auf dem Brief stehen doch Sprechzeiten ... und da dachte ich, man koennte einfach herkommen", stotterte er. "Das stimmt schon - im Prinzip. Die Sprechzeiten gelten fuer die ganze Abteilung, und wir sind ja auch zu sprechen. Sie koennen Ihr Anliegen ohne weiteres mir vortragen, und ich werde sehen, ob ich Ihnen helfen kann; und wenn nicht, werde ich den Sanierungsbeauftragten ueber ihren Besuch informieren." Er ueberlegte. Die naechsten Tage hatte er keine Zeit. Sicher waere es geschickter, direkt mit dem Boss zu verhandeln; aber wenn er schon mal hier war ... Ausserdem hatte er irrsinnig Bock, sich mit ihr zu unterhalten, von einer gewissen Warte aus betrachtete er das keineswegs als Zeitverschwendung. "Ja ok, ich moechte das gern mit Ihnen besprechen", sagte er und fing an, ihr die Lage auseinanderzusetzen. Sie achtete aber kaum auf seine Worte, sondern erhob sich und kam hinter dem Schreibtisch vor. Dabei wies sie auf zwei der wackligen Stuehle und einen niedrigen runden Tisch unter der Dachschraege im hintersten Winkel des Raumes - die Besprechungsecke. Um dorthin zu gelangen, musste er an ihr vorbei, und indem er sich naeherte und ihr Rock ihn beinahe streifte, war ihm, als tauche er in eine andere Sphaere, einen schwindelerregenden, hochkonzentriert weiblichen Kosmos, den er schon im Eintreten wahrgenommen hatte, wenn auch mit schwaecherer Intensitaet, es war fast wie bei Vera. Sie legte den Brief auf das Tischchen und blickte ihn erwartungsvoll an. Er setzte sich. "Es geht darum, wir wollen wissen, was aus uns werden soll, wenn das Haus verkauft wird", formulierte er vorsichtig. Man musste nicht gleich die schweren Geschuetze auffahren. Dann zog er die Liste aus der Tasche, daran liess sich gut festhalten. Er versuchte, jeden Punkt so klar und ausfuerhlich wie moeglich darzulegen, allein schon um sich nicht zu blamieren, und solange er sprach, blickte sie ihn unverwandt an, doch das war wohl nur ihre gewoehnliche Art, mit Laufkunden umzugehen ... Dann begannen sie zu diskutieren, vor allem ueber rechtliche Aspekte; um die juristische Position der WG, fand sie, stand es nicht gut. Es gab nur einen befristeten Mietvertrag, der von Jahr zu Jahr verlaengert wurde, und auch nur mit Ali, von den uebrigen brauche die Stadt keine Notiz zu nehmen. So redeten sie und redeten, und dank seiner Liste kam keine Sekunde Befangenheit auf. Ploetzlich unterbrach sie sich und sagte mit einem Blick auf die Uhr. "Halb 12, schon ziemlich spaet. Normalerweise geh ich um die Zeit immer zum Essen, spaeter muss man so lange anstehen. Was halten Sie davon, die restlichen Fragen beim Mittag zu eroertern?" Er hatte nichts dagegen, er wunderte sich nur, ob ein beliebiger Bittsteller in der Rathauskantine essen durfte. Da sagte sie: "Ich selbst habe Essensmarken. Fuer Sie ist es etwas teurer, aber immer noch erschwinglich. Genaugenommen ist es bei uns ziemlich preiswert - im Vergleich zu den Restaurants in der Gegend." Sie gingen auf dem Flur, den er kannte, die Treppe hinunter, und er bewegte sich hinter ihr her, ein Trabant ihres Kraftfeldes, und auf den jetzt belebteren Gaengen rief man ihnen "Mahlzeit" entgegen, und "Mahlzeit" hiess es auch auf den Stufen. "Da sieht man mal, wie tolerant diese Buerokraten sind", dachte er froehlich. "Gruessen mich, obwohl sie auf den ersten Blick sehen, dass ich nicht zu ihnen gehoere: Haare nicht gekaemmt noch geschnitten, Hemd nicht gebuegelt, uralte Jeans ..." Der Speiseraum lag im Keller und hatte den rustikalen Charme einer Bahnhofskneipe. Die Luft war feucht und schwer vom Dampf heisser Essenskuebel. Auf den Resopaltischen verbreiteten einsame, von Salz- und Pfefferstreuern eingerahmte Kunststoffrosen gastliche Athmosphaere. Die Stuehle waren alt, unbequem und furniert, alles passte haarscharf zum Mobiliar ihres Bueros. An der Theke hatte sich eine kurze Schlange gebildet. Wer noch nicht an der Reihe war, starrte muede ins Leere oder auf die weissen Schrifttafeln, wo eine krakelige Handschrift auf Pfefferhacksteaks, Matjes und Currywurst hinwies. - Ploetzlich kam Leben in den Raum; eine Gruppe junger beschlipster Anzugtraeger laermte lachend durch die grosse Drehtuer. Richard stand etwas abseits hinter ihr in der Schlange, und waehrend sie noch ueberlegte, was sie nehmen sollte und er sich bereits entschieden hatte, schaute er an ihrem Ruecken herunter und blieb an ihrem breiten Hintern haengen. Bevor er Zeit hatte, sich dafuer zu schaemen, merkte er, wie die Gang es ihm nachtat und gleich etwas ruhiger wurde. Es ist ein seltsamer und peinlicher Vorgang, wenn mehrere Maenner gemeinsam auf den exponierten Teil eines Frauenkoerpers starren. Waehrend sie an der Kasse warteten, fiel ihm ein, dass sie 'Schwester Irmgard' aehnelte, von der er als Kind immer geimpft worden war; eine juengere, kleinere aber weltlaeufigere Ausgabe von Schwester Irmgard - dieser dunkle suedliche Frauentyp mit den weichen braunen Augen - und die Kassiererin musste ihm zweimal nachrufen, damit er das Wechselgeld nicht vergass. "Heute muessen wir zu Schwester Irmgard", hatte es zu Hause geheissen, und ganz gleich ob der Arzt in der Praxis oder auf Visite war, Schwester Irmgard war immer zur Stelle, sie nahm (fast) alle Arten von Behandlungen vor und jedes Wehwehchen zur besonderen Kenntnis. Sie impfte und bestrahlte, massierte, wusch, rieb ein und verband, und mit ihrer ruhigen, erregend fremd klingenden Alt-stimme gebar sie Vertrauen und entfachte einen seltsamen Schwindel in dem angstvoll herzklopfenden Kindskoerper, der sich ihr tapfer zuneigte, waehrend sie mitleidig laechelnd die Spritze ansetzte. So eine als Freundin haben! Waere das nicht das Schoenste? Und ganz natuerlich, gesetzmaessig, wie die Erfuellung langgehegter unbewusster Hoffnungen und eines Versprechens, welches ihm einst im Sprechzimmer vom Schicksal gegeben wurde? "Bestimmt kommt man schwer an sie ran", dachte er. "Wenn sie nicht sowieso einen Freund hat." Ausserdem war sie aelter als er, und hatte vermutlich kein Interesse an Gruenschnaebeln. Sie assen schweigend, wobei ihre Blicke zuweilen wie Lichtstrahlen sich kreuzten und imaginaere Blitze auf der Netzhaut einer anderen Wahrnehmung ausloesten. Hinterher wurde sie wieder geschaeftsmaessig, schob resolut das Geschirr beiseite und schrieb, waehrend sie noch einmal ueber die einzelnen Punkte sprachen, mit feiner Schrift auf seiner Liste herum. "Wichtig wird sein, wann der Mietvertrag zum ersten Mal abgeschlossen wurde", dozierte sie beispielsweise, "und wie lange das Haus euer Lebensmittelpunkt ist. Wenn jemand mehr als 5 Jahre an einem Ort gewohnt hat, ist er praktisch unkuendbar." Er dachte, dass wohl keiner von ihnen diese Bedingung erfuellte, wie auch? Ein Studium dauerte 4, 5 Jahre, und viele zogen zwischendurch um oder wechselten die Uni, das wurde sogar erwartet. - Doch liess er sie reden, ihre weichen beweglichen Lippen, die Zunge, die sich rhythmisch dazwischenschob, er haette ihr endlos zuhoeren koennen. Es gab auch genug zu besprechen; sie kamen von der Tatsaechlichkeit zur Wahrscheinlichkeit und von dieser zu den Moeglichkeiten, die ihnen offenstanden, so dass keine Verlegenheit aufkam, was normalerweise der Fall war, wenn ihm eine Frau gut gefiel. "Wobei", dachte er, "sie ist keine absolute Attraktion, nicht so wie manchmal, wenn ich sofort merke, ich werde wahnsinnig, wenn ich mit der nicht schlafe. Dies ist was Anderes ..." Er erzaehlte Einzelheiten von seinen Mitbewohnern, wie sie lebten, was sie machten; um Erfolg zu haben, glaubte er, musste die Stimmung stimmen und ein irgendwie positiver Eindruck im Behoerdenapparat hinterlassen werden. Er erzaehlte von seinen Reiseplaenen, von Schnitt und Einrichtung der Raeume, von dieser und jener Begebenheit, und zwischendurch gab es ein Missverstaendnis, weil sie dachte, Birgitta sei seine Freundin und sich wunderte, dass er sie allein durch Afrika ziehen liess. Anscheinend sympathisierte sie vorsichtig mit seinen Anliegen. "Herr Lohrmann ist viel unterwegs. Wenn Du ihn die naechsten Tage nicht erwischst, bin ich gern bereit, mit ihm ueber euch zu sprechen. Ich persoenlich finde eure Wuensche legitim, ob die Verwaltungschefs das auch so sehen, ist die grosse Frage", sagte sie. Doch er war misstrauisch und wusste nicht, wieweit er ihr trauen konnte. Ihm erzaehlte sie das eine, und ihrem Chef womoeglich das andere. Vielleicht spuerte sie seinen Argwohn; denn ploetzlich erklaerte sie mit einem Anflug von Bitterkeit: "Leider habe ich keine Entscheidungsbefugnisse, ich bin nur die Assistentin des Sanierungsbeauftragten, und das auch nur befristet fuer zwei Jahre. - Ich bin als Soziologin nach dem Studium hier hereingerutscht. Das heisst, vorher war ich 3 Jahre in einem Stadtteilprojekt. Der Sanierungsbereich bietet allerdings mehr Moeglichkeiten." Da staunte Richard nicht schlecht. Er hatte geglaubt, die Leute im Rathaus saessen alle auf bequemen sicheren Stuehlen. "Was wollen Sie denn nach den zwei Jahren tun", fragte er neugierig. Sie zoegerte. Offenbar war ihr die Frage unangenehm. Er haette sie gern wieder zurueckgenommen, er wollte nicht, dass sich ihr huebsches Gesicht so verzog. "Ich weiss nicht genau. Aber ich sage ja, man hat hier mehr Moeglichkeiten. Im Moment ist zum Beispiel in Barmbek die Stelle des Sanierungsbeauftragten ausgeschrieben, da werde ich mich bewerben, ich hab ja Erfahrung auf dem Gebiet. Und Sie", fragte sie ablenkend, "Sie haben mir ueberhaupt noch nicht gesagt, was Sie so machen." "Maschinenbau", sagte er schnell und hob die Hand. "Ich weiss, das klingt langweilig. - Ist aber eigentlich sehr interessant." Sie versicherte, sie finde das keineswegs langweilig und da erzaehlte er bereitwillig von seinem Studium; und dann von Tengern, wo er aufgewachsen sei, "Ich wohne erst 2 Jahre in Hamburg", ihrem Blick ausweichend, er fand, der hatte jetzt etwas pruefend Intimes, das Kaltglaeserne ihrer Soziologinnenaugen war einem Feuchtwarmen gewichen, und dem konnte er noch weniger standhalten. Spaeter trennten sie sich, und danach ueberlegte er stundenlang, was er tun konnte, um sie wiederzusehen, und dieser Gedanke beschaeftigte ihn so ausschliesslich, dass nichts anderes in seinem Bewusstsein Platz hatte - nicht mal die Frage, ob bei seinem Besuch ueberhaupt etwas herausgekommen war. Es gab zwei Moeglichkeiten: sie anrufen oder einfach abwarten, wann ihn die Kuendigungsgeschichte wieder mit ihr zusammenfuehrte. - Aber das konnte lange dauern, das naechste Mal wuerde vielleicht Ali hingehen, oder der Sanierungsbeauftragte war persoenlich zu sprechen, oder sie war in Urlaub, eine Situation wie heute wuerde sich schwerlich nochmal ergeben. Jedoch, wenn er sie anrief, wuerde sie gleich den Grund wissen wollen; und er musste dann direkt zugeben, dass er sich mit ihr verabreden wollte; und bei dem Gedanken rutschte ihm das Herz in die Hose. Andererseits, er hatte schon elend lange keine Frau mehr gehabt. Irgendetwas stand immer im Weg. Meist wollten die Frauen nicht. In diesem Fall war's vielleicht anders!?; sie war so freundlich gewesen!, vielleicht wuerde sie ja sagen, das waere das Tollste! ... - ... Er musste sich nur ueberwinden. So gingen seine Gedanken hin und her, wie ein rastloser Tiger im Kaefig. "Wenn ich sie anrufe, dann moeglichst noch heute", dachte er, "wer weiss, was morgen ist. - Wenn ich sie aber heute noch erreichen will, muss ich spaetestens um vier anrufen, sonst hat sie Feierabend." Und alle fuenf Minuten sah er auf die Uhr, wieviel Zeit er noch hatte, und kam zu keiner Entscheidung. Schliesslich wurde es viertel vor vier. Er riss sich zusammen. Jetzt oder nie. Was hatte er schon zu verlieren? Er waehlte die Nummer, die sie auf den Brief geschrieben hatte, und wartete. Ein Klicken in der Leitung, dass ihm vor Aufregung bald das Herz sprang, dann meldete sich eine Maennerstimme, und er haette vor Enttaeuschung beinahe aufgelegt. "Ich wollte eigentlich mit Ihrer Kollegin sprechen", sagte er verdattert. "Warten Sie, sie kommt gerade herein." "Ja bitte?" hoerte er ihre Stimme. "Hallo, hier ist der Richard - von der Klopstockterasse", sagte er verlegen. "Ja hallo", meinte sie freundlich, und als er nicht gleich reagierte: "Das eben war Harri, der Kollege, mit dem ich das Buero teile. Er hatte vormittags frei." Nun war definitiv er an der Reihe. "Ja, also, ich wollte fragen, ob wir uns nicht mal ... ob wir uns nicht mal privat verabreden koennen." Jetzt war es heraus, jetzt war ihm alles egal. Ein kurzes Zoegern. "Ja gern", hoerte er noch, dann brach ein unbeschreiblicher Jubel in ihm aus, eine Art inneres Feuerwerk, so dass er kaum noch denken konnte. Das heisst Denken hatte er schon vorher nicht gekonnt, er handelte und steuerte seine Reaktionen rein mechanisch. Er zitterte vor Freude und war froh, dass sie ihn in seinem labilen Zustand nicht sehen konnte. Schwer genug, die Stimme stabil zu halten. Er ahnte, wenn er diese Tuer aufbekam, wartete ein herrlicher Schatz auf ihn. Am besten, sie gleich auf einen konkreten Termin festnageln. "Bei mir ginge es Donnerstag abend", sagte sie, und er spuerte die Vorfreude in ihren Worten, und eine gewisse Vorsicht, wahrscheinlich, vermutete er, weil ihr Kollege die Ohren spitzte. "Donnerstag passt mir." Ihm waere jeder Termin recht gewesen, nur moeglichst bald sollte es sein, damit sie es sich nicht anders ueberlegte. "Wo sollen wir uns treffen?" "Ich weiss nicht, machen Sie einen Vorschlag." Er tat als denke er nach. In Wahrheit hatte er sich vorher schon alles zurechtgelegt. "Darf ich Sie nach Dienstschluss abholen? Wir koennten an der Elbe spazierengehen." Das schien ihm am Unverfaenglichsten, so wuerde man sich am entspanntesten naeherkommen. "Ab wann haben Sie frei?" "Ab 17 Uhr", sagte sie kurz. "Gut", sagte er. "Soll ich vor dem Rathaus auf sie warten? Bei den Blumenrabatten?" "Ja", hauchte sie, und: "ich freue mich". "Ich auch", sagte er, und so begann eine richtige Liebesgeschichte.