DAS VERHÖR VON SEWASTOPOL

Schauspiel

Personen

Der Angeklagte:

Michail Sergejewitsch GORBATSCHOW, Vorsitzender der KPdSU, Praesident der UdSSR

Der Untersuchungsausschuss:

Anatoli Seropowitsch VORGOV, Mitglied des ZK der KPdSU, Vorsitzender

Nikolai Eduardowitsch PUTOV, KGB-Offizier, Ausschussmitglied

Valentin Iwanowitsch WARENNIKOW, General und stellvertretender Verteidigungsminister, Ausschussmitglied

Die Anwaelte:

Pawel Alexejewitsch STAGOV, Staatsanwalt

Tatjana Filippowna HILVOVA, Assistentin des Staatsanwalts und Protokollfuehrerin

Jegor Nikolajewitsch VERTOTSKI, Gorbatschows Anwalt

Die Zeugen:

Jegor Kusmitsch LIGATSCHOW, ehemaliges Mitglied des Politbueros

Juri Anatoljewitsch PROKOFJEW, Mitglied des ZK und des Politbuero der KPdSU und Leiter des Moskauer Stadtkommittees

Wadim Viktorowitsch BAKATIN, vormals Innenminister

Juri Dergejewitsch PLECHANOW, Leiter des KGB Bewachungsdienstes der fuehrenden Politiker

Valentin Michailowitsch FALIN, ehemaliger Botschafter und Direktor der Internationalen Abteilung des ZK

Die Bühne

Ein fensterloser, elektronisch gesicherter Raum in einem Geheimdienstkomplex im Sueden Russlands. Er ist spartanisch, doch fuer die Zwecke des Verhoers ausreichend eingerichtet. Tische fuer Ausschuss, Staatsanwalt, Verteidigung, das Protokoll, ein Stehplatz fuer die Wache, Mikrofone, Aufzeichnungsgeraete. Ein Bild Lenins haengt links an der Wand.

Im Hintergrund eine beleuchtete Karte der Sowjetunion. Die Staedte Leningrad, Stawropol, Sewastopol und Moskau sind rot markiert. Es wird der folgende Text projiziert oder ueber Lausprecher angesagt: ES IST DIENSTAG, DER 27.8.1991. SEIT TAGEN STEHEN IN MOSKAU PANZER AUF ALLEN WICHTIGEN KREUZUNGEN. AM WEISSEN HAUS HABEN ZEHNTAUSENDE MENSCHEN BARRIKADEN AUFGEBAUT. GORBATSCHOW IST IN SEINEM FERIENDOMIZIL AUF DER KRIM VERHAFTET UND NACH SEWASTOPOL, INS DORTIGE KGB-ZENTRUM, GEBRACHT WORDEN.

Der Ausschuss und die Anwaelte kommen herein, breiten ihre Sachen aus. Anschliessend wird Gorbatschow hereingefuehrt und blinzelt in das grelle Licht. Die Wache weist ihm den Platz neben seinem Anwalt zu.

 

  1. Szene
  2. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 1. TAGES

    VORGOV Genosse Gorbatschow, bitte entschuldigen Sie die primitiven Bedingungen, unter denen Sie hier untergebracht sind.

    GORBATSCHOW Was soll das alles? Warum werde ich festgehalten? Was haben Sie mit meiner Familie gemacht?

    VORGOV Bitte. Sie muessen sich keine Sorgen zu machen.

    GORBATSCHOW Es ist wohl meine Sache, ob ich mir um meine Familie Sorgen mache.

    VORGOV Ihre Familie ist in Sicherheit. Sie werden spaeter Gelegenheit haben, mit ihnen zu telefonieren.

    GORBATSCHOW Wo haben Sie sie hingebracht?

    VORGOV Sie befinden sich noch immer auf Ihrer Feriendatscha in Foros.

    GORBATSCHOW Und wo befinde ich mich? Ich meine, was ist das hier fuer ein Bunker, ein riesiges Gebaeude ohne Fenster, ohne Licht?

    VORGOV Wir haben Sie an diesen sicheren Ort gebracht, um Sie in Ruhe verhoeren zu koennen. Sobald die neue Sowjetmacht sich stabilisiert hat, werden Sie nach Moskau ueberstellt, zur zentralen Anklagebehoerde. Bis dahin muessen Sie mit uns vorlieb nehmen.

    GORBATSCHOW Anklage? Wieso Anklage? Wessen bezichtigt man mich.

    VORGOV Eins nach dem Anderen, Genosse. Soweit ist es noch nicht. Dieser Ausschuss wird lediglich gewisse Untersuchungen vornehmen und Empfehlungen abgeben.

    GORBATSCHOW Untersuchungen welcher Art?

    VORGOV Ob die Anschuldigungen, die gegen Sie erhoben werden, zutreffen.

    GORBATSCHOW Welche Abschuldigungen?

    VORGOV Man beschuldigt sie des Hochverrats, oder mindestens, unserer Partei geschadet zu haben.

    GORBATSCHOW Das ist absurd. Ich bin der Vorsitzende der KPdSU und der gewaehlte Praesident der UdSSR. Wie koennen Sie es wagen, mich einzusperren?

    VORGOV Aber Genosse, Sie wissen doch, das Notstandskomittee hat Sie von Ihren Funktionen entbunden.

    GORBATSCHOW Ich weigere mich, diesen illegalen Staatsstreich anzuerkennen. Sie haben keinerlei Recht, mich festzuhalten. Sie selber sind die Hochverraeter und Verschwoerer. Hueten Sie sich; denn Sie werden zu gegebener Zeit zur Rechenschaft gezogen.

    VORGOV Bitte, Michail Sergejewitsch, beruhigen Sie sich. Wir wollen nichts weiter als Ihre Aussagen zu Protokoll nehmen.

    GORBATSCHOW Und wenn ich mich weigere? Ich werde nichts sagen, bevor ich nicht mit einem Anwalt gesprochen habe.

    VORGOV Ihr Anwalt, Herr Vertotski, sitzt neben Ihnen. Ich schlage vor, wir unterbrechen die Sitzung, damit Sie sich mit ihm beraten koennen.

    (Gorbatschow zieht sich mit Vertotski ins Nebenzimmer zurück.)

    STAGOV Hoffen wir, dass er freiwillig aussagt.

    WARENNIKOW Vielleicht haette man ihn ueber die Konsequenzen aufklaeren sollen, falls er schweigt.

    PUTOV Welche Konsequenzen sollte das haben?

    WARENNIKOW Ich meine Konsequenzen fuer ein kuenftiges Strafverfahren.

    VORGOV Vertotski wird ihn schon aufklaeren.

    STAGOV Er macht einen ziemlich verwirrten Eindruck.

    PUTOV Wer hat eigentlich angeordnet, ihm diese Medikamente zu geben? Ich wuerde mich nicht wundern, wenn unser Auftrag dadurch wesentlich erschwert wird.

    VORGOV Wir mussten ihn irgendwie ruhigstellen. Als wir ihm die Ruecktrittserklaerung vorlegten, ist er ganz friedfertig gewesen. Aber als wir ihn von seiner Familie trennten, hat er sich masslos aufgeregt.

    WARENNIKOW Ich haette ihn nicht fuer so empfindlich gehalten.

    PUTOV Er ist ein Familienmensch. Wenn man so einem die Familie wegnimmt, dreht er durch.

    WARENNIKOW Er wird sich schon beruhigen.

    PUTOV Ich fuerchte, unter diesen Umstaenden werden wir nicht viel aus ihm herausbekommen. Was fuer einen Grund hat er, seine Motive vor uns auszubreiten?

    VORGOV Ich denke, dass er aussagen wird. Subjektiv hat er ein gutes Gewissen; warum sollte er sich zurueckhalten.

    WARENNIKOW Wir muessen ihn weichklopfen und so viel wie moeglich aus ihm herausbekommen. Um so leichter faellt es den Moskauern spaeter, ihn zu verurteilen.

    VORGOV Ich denke, es ist nicht unsere Aufgabe, ihn 'weichzuklopfen'. Wir sollen eine moeglichst objektive Analyse abliefern, wie seine Taten zu bewerten sind.

    STAGOV Dazu gehoert meines Erachtens auch, zu verstehen, wie ein einzelner Konterrevolutionaer unsere Partei und unser Land in eine derartige Lage bringen konnte.

    WARENNIKOW Er war nicht allein. Er hatte genuegend Helfershelfer. Die meisten laufen leider noch immer frei herum.

    STAGOV Von ihm geht die groesste Gefahr aus. Immer wenn die sogenannte Perestroika in den letzten Jahren gefaehrdet war, hat er das Ruder herumgerissen. Denken Sie an den Brief, den diese Professorin in der 'Sowjetskaja Rossija' publiziert hat. Keiner von den liberalen Pinschern hat gewagt, zu protestieren - bis Gorbatschow aus dem Ausland zurueckkam und persoenlich einschritt.

    PUTOV Jeder dachte, dass sie den Brief im Auftrag des Politbueros geschrieben hat.

    VORGOV Ein Teil der Fuehrung stand definitiv hinter ihr. Die Partei als Ganzes ist keineswegs vom Gorbatschow-Virus infiziert. Es gab und gibt genuegend vernuenftige Leute, denen sein Kurs nicht gefaellt.

    WARENNIKOW Ja sicher. Aber er hat es die ganze Zeit geschafft, sie klein zu halten. Zum Schluss wollte er sogar Jasow und Krjutschkow entlassen.

    VORGOV Den Verteidigungsminister und den Geheimdienstchef, ha. Damit hat er den Bogen ueberspannt.

    PUTOV Anscheinend hat er die Beiden falsch eingeschaetzt. Er hielt sie fuer harmlos, weil er sie selbst aufgebaut hat.

    WARENNIKOW Der Befreiungsschlag war dringend noetig. Er haette eigentlich schon viel frueher kommen muessen. Gorbatschow hat mit seinen 'Reformen' und Intrigen hat er die ganze Partei kaputtgemacht.

    PUTOV Dahinter steckt offenbar ein erhebliches kriminelles Potential.

    WARENNIKOW Sie brauchen nicht sarkastisch zu werden, Genosse. Wir stehen vor einem grossen Problem, wahrscheinlich dem groessten unserer Laufbahn; naemlich die Buechse der Pandora wieder zuzumachen, die er geoeffnet hat.

    VORGOV Stattgegeben. Aber man soll mit den kleinen Dingen anfangen. Im Moment besteht unsere Aufgabe nur darin, einen Bericht ueber seine Verfehlungen abzuliefern; und auch unsere Meinung zu den Motiven.

    PUTOV Tatsaechlich finde ich die Frage nach seinen Motiven aeusserst reizvoll. Was treibt einen Menschen dazu, sich auf einen derartigen Zirkus einzulassen. Als Generalsekretaer war er der maechtigste Mann in der Sowjetunion und haette es bis ans Ende seiner Tage bleiben koennen.

    VORGOV Geltungssucht, wuerde ich sagen, in erster Linie Geltungssucht. Er wollte das eine haben, also die Bewunderung des Westens, ohne das andere, also seine absolute Macht, zu verlieren.

    WARENNIKOW Wenn Sie mich fragen, ich halte ihn fuer einen amerikanischen Spion. - Auch wenn sie mich auslachen, Genosse Putov. Ich glaube, die naechsten Wochen werden Sie eines besseren belehren.

    PUTOV Tatsaechlich ein Witz, General.

    WARENNIKOW An Ihrer Stelle waere ich vorsichtig, Genosse. Ich weiss, auch Wladimir Krjutschkow, Ihr oberster Vorgesetzter, hegt diesen Verdacht. Ich bin sicher, er wuerde es sehr begruessen, wenn wir den Nachweis hier fuehren koennten.

    VORGOV Genossen! Wenn es in der Vergangenheit bei der Bekaempfung der Konterrevolution solche Meinungsunterschiede gegeben haette, waeren die Kommunisten nie an der Macht geblieben.

    PUTOV Es tut mir leid. Tatsaechlich stimme ich in der Beurteilung der Lage in jeder Hinsicht voellig mit Genossen Krjutschkow ueberein.

    VORGOV Ist Ligatschow eigentlich schon da?

    STAGOV Nein, wir haben ihn erst ab 14 Uhr bestellt.

    VORGOV Das passt ganz gut. Vorher werde ich mit den Praeludien sicher nicht fertig.

    WARENNIKOV Was ist eigentlich mit Ligatschow? Seit einem Jahr hat man nichts mehr von ihm gehoert. Und ploetzlich taucht er hier auf.

    VORGOV Er lebt hier ganz in der Naehe, wussten Sie das nicht?

    WARENNIKOV Nein. Ich weiss nur, man hat ihm einen Platz im Komittee angeboten, aber der Dummkopf wollte sich uns nicht anschliessen.

    VORGOV Mein Eindruck ist, er zaehlt sich selbst nicht mehr zu den aktiven Politikern. Er hat genug von der Politik, nachdem ihn Gorbatschow so gedemuetigt hat.

    WARENNIKOW Aber er isoliert sich damit ... Na, ist nicht mein Bier, muss er selber wissen. - Eine ganz andere Frage: Wissen Sie, wie wir in Moskau vorankommen?

    PUTOV Ich hatte heute morgen mehrere Telefongespraeche in die Hauptstadt. Die Lage ist weitgehend unter Kontrolle. Das weisse Haus bereitet noch Probleme, aber letztendlich wird Jelzin nachgeben, davon bin ich ueberzeugt.

    WARENNIKOW Ich verstehe nicht, warum man mit Jelzin soviel Federlesen macht. Und ihm auch noch die Moeglichkeit gibt, sich oeffentlich zu produzieren. Soviel ich weiss, kann er noch immer ungehindert mit der ganzen Welt telefonieren und sogar Fernsehinterviews geben.

    PUTOV Unsere Leute halten Jelzin fuer einen potentiellen Verbuendeten. Er hat Gorbatschow in der Vergangenheit hart angegriffen. Warum sollen wir ihn uns zum Feind machen?

    WARENNIKOW Weil er ein Extremist ist, dem Gorbatschows sogenannte Reformen nicht weit genug gehen. Weil er am Bestand der Sowjetunion gar nicht interessiert ist, sondern nur an seinem eigenen kleinen Reich. Weil er die Kommunisten seit Jahren provoziert und fast alle Entscheidungen der KP sabotiert. - Es gibt tausend Gruende. Ich sehe mit Jelzin keine Verstaendigungsmoeglichkeiten. Aber bitte. Ein Teil des Komittees scheint anderer Ansicht zu sein.

    VORGOV Kein Anlass zur Beunruhigung. Jelzin ist zwar ziemlich schlau und hat auch ein paar Freunde im Notstandskomittee, aber nach meiner Meinung ist er nur eine Randerscheinung der Geschichte, die sich uns beugen muss. Das Komittee will eben auf moeglichst breiter Basis operieren.

    PUTOV Richtig. Wenn wir Jelzin auf unsere Seite ziehen, haben wir praktisch keine Gegner mehr. Es gibt in Moskau niemanden, der sich Gorbatschow ernsthaft zurueck wuenscht.

    VORGOV Bezueglich Gorbatschow gebe ich Ihnen recht. Die Menschen atmen auf, weil sie sein Lavieren und Taktieren schon lange leid sind.

    WARENNIKOV Und seine Falschheit, und sein staendiges Zurueckweichen vor dem Klassenfeind. Kuenftige Generationen werden uns dankbar sein, dass wir endlich gehandelt haben. Man hat ihn viel zu lange gewaehren lassen.

    PUTOV Ob Sie uns wirklich danken werden? Man liebt den Verrat, nicht die Verraeter.

    WARENNIKOW Was soll das heissen?

    PUTOV Wir haben unsere Eide und die Verfassung gebrochen.

    VORGOV Was heisst hier Verfassung? Er selbst hat die Verfassung mehrmals umgemodelt, damit sie ihm nicht im Wege steht.

    WARENNIKOW Er kann noch froh sein. Frueher haette man kurzen Prozess mit ihm gemacht.

    STAGOV Ich denke, wenn man jetzt nicht gehandelt haette, waere es zu spaet gewesen.

    PUTOV Trotzdem macht mir unser Vorgehen Kopfschmerzen. Die Verfassung ist der Hebel, ueber den man uns belangen koennte.

    WARENNIKOW Sie mit Ihrer Verfassung! Auch Lenin hat die Verfassung gebrochen. Anders waere er nicht ans Ziel gekommen. Und Russland heute noch immer ein unterentwickeltes Agrarland.

    PUTOV Wir SIND ein unterentwickeltes Agrarland.

    WARENNIKOW Ich muss schon bitten. Wenn ich Sie reden hoere ...

    PUTOV Aber so ist es! In 70 Jahren Sowjetmacht ist es uns nicht annaehernd gelungen, den Westen einzuholen. Die Gesellschaft ist ungeduldig geworden, und diese Ungeduld spiegelt sich sogar in einem Teil des Notstandskomitees wieder. Einen Breschnew wuenscht sich keiner zurueck.

    WARENNIKOW Ich schon.

    VORGOV Es kaeme darauf an, einen Kompromiss zu finden, mit dem jeder leben kann. Der Oekonomie ihre Freiheit lassen, ohne die Herrschaft der Partei dranzugeben.

    STAGOV Ich weiss nicht, ob das moeglich ist. So ein Experiment ist frueher schon versucht worden, soviel ich weiss.

    VORGOV Von Lenin in den 20er Jahren.

    WARENNIKOW Das ist doch eigentlich Gorbatschows Linie ...

    VORGOV Gorbatschows Politik war falsch, ein Teil seiner Ideen nach meiner Ansicht in Ordnung.

    STAGOV Ich weiss nicht. Ich wuerde mich sicherer fuehlen, wenn die Produktionsmittel weiter in der Hand der Partei blieben.

    VORGOV (lacht) Sie sind ein junger Mann, Genosse Stagov, aber anscheinend Experimenten abgeneigt.

    PUTOV Ausserdem stimmen Sie offenbar mit Jelzin und seinen Freunden ueberein.

    STAGOV Auf keinen Fall.

    PUTOV Die behaupten auch, dass ein freier Markt freie Buerger voraussetzt.

    WARENNIKOW Was soll das? Warum provozieren Sie uns staendig? Wir haben ganz andere Sorgen. Wir muessen den Schaden beheben, den er angerichtet hat.

    (Die Tuer oeffnet sich und Gorbatschow und Vertotski kommen ins Sitzungszimmer zurueck.)

    VERTOTSKI Mein Mandant hat sich bereit erklaert, vor dem Ausschuss auszusagen. Er betont allerdings, dass er die Rechtmaessigkeit des Putsches damit keineswegs anerkennt.

    VORGOV Das ist sehr erfreulich. - Dann koennen wir wohl anfangen.

    VERTOTSKI Mein Mandant hat mir ausserdem mitgeteilt, dass er unter Konzentrationsstoerungen leidet. Anscheinend macht ihm die Hitze zu schaffen.

    VORGOV Die Wache soll nachfragen, wann die Klimaanlage endlich repariert ist. (Er blickt eine der Wachen an, die daraufhin die Buehne verlaesst.) - Wie schlimm ist es? Muessen wir die Sitzung unterbrechen?

    GORBATSCHOW Nein, im Moment gehts noch.

    VORGOV Gut. Dann werden wir jetzt anfangen. Alle einverstanden? (Er blickt in die Runde) Ja? Darf ich Ihnen zunaechst die Beteiligten vorstellen? Der Staatsanwalt, Genosse Stagov, und seine Assistentin Hilvova, die auch das Protokoll fuehren wird. (Man verbeugt sich) Die Ausschussmitglieder. Oberst Putov, zu meiner Linken, ist KGB-Offizier, hier rechts sitzt General Warennikow ...

    GORBATSCHOW (faellt ihm ins Wort) Warennikow und sich selbst brauchen Sie nicht vorzustellen. Ich kenne euch besser als mir lieb ist.

    VORGOV Mit Verlaub, Genosse, wir sollten die Form einhalten, fuer das Protokoll. - Also, der General ist einer der Stellvertreter des Verteidigungsministers. Ich bin Anatoli Vorgov, Mitglied des ZK der KPdSU und Vorsitzender dieses Untersuchungsausschusses.

    GORBATSCHOW Herrn Putov kenne ich allerdings nicht.

    PUTOV (erhebt sich) Nikolai Putov, KGB-Offizier.

    VORGOV Seit vielen Jahren.

    PUTOV Wie meinen?

    VORGOV Ich meine KGB-Offizier.

    PUTOV Ach ja, seit sehr vielen Jahren.

    VORGOV Bester Kenner des Geheimnisdienstes.

    WARENNIKOW Bester oder zweitbester?

    PUTOV Zweitbester, wuerde ich sagen. - Dass Sie mich nicht kennen, Herr Generalsekretaer, ist nicht weiter verwunderlich. Ich habe lange in eher untergeordneten Positionen gearbeitet und bin erst vor wenigen Tagen zum Leiter der Spezialabteilung 'Russland' ernannt worden.

    VORGOV Wir kommen als naechstes zum Zweck des Verfahrens. Ich moechte betonen, dass es sich hier um kein gerichtliches Untersuchungsverfahren im engeren Sinn handelt, sondern um eine Voruntersuchung. Nachdem das Nostandskomittee Sie Ihrer Aemter enthoben hat, ist unsere Kommission von Partei und Staat eingesetzt worden, um verschiedene Vorgaenge waehrend Ihrer Amtszeit zu durchleuchten. Dazu werden wir Sie befragen, und nehmen uns auch die Freiheit, Zeugen aufzurufen, um Ihre Aussagen zu bestaetigen und eventuell Einseitigkeiten zu korrigieren; denn natuerlich besteht ein grosses Interesse an der vorbehaltlosen Aufklaerung aller Tatbestaende. Wir werden anschliessend ihre Motive analysieren und auf dieser Grundlage ein Gutachten erstellen und eine Empfehlung darueber abgeben, ob Sie aus der Partei ausgeschlossen und staatlicherseits wegen Hochverrats angeklagt werden sollten. - Ach ja, die Empfehlung bezueglich des Parteiausschlusses eruebrigt sich, wenn sie freiwillig auf Ihre Mitgliedschaft verzichten und von Ihren Aemtern zuruecktreten.

    GORBATSCHOW Ich bin schon haeufig zum Ruecktritt aufgefordert worden. Auf dem letzten April-Plenum habe ich ihn sogar von mir aus angeboten.

    VORGOV Sie sollten nicht zoegern, Ihr Angebot zu erneuern.

    GORBATSCHOW Er ist vom ZK mit grosser Mehrheit abgelehnt worden.

    VORGOV Offenbar hat das ZK seine Meinung geaendert.

    GORBATSCHOW Ich fuehle mich als Kommunist. Warum sollte ich aus der KPdSU austreten? Ausserdem sehe ich nicht, dass dieses Gremium die Legitimation besitzt, solche Angebote entgegen zu nehmen.

    VORGOV Ganz wie Sie wollen. - Noch etwas zum Procedere. Die Untersuchung wird so ablaufen, dass wir zunaechst Ihren persoenlichen Hintergrund durchleuchten und Ihren Aufstieg zum Generalsekretaer analysieren. Damit sollten wir spaetestens morgen fertig sein. Als naechstes werden wir uns die innenpolitischen Fehlentwicklungen waehrend Ihrer Amtszeit vornehmen; vorgesehen sind dafuer ein bis zwei Sitzungstage; und danach die Aussenpolitik. Dazwischen werden wir die Zeugen hoeren, und zwar Zeugen des Staatsanwalts im Wechsel mit Entlastungszeugen der Verteidigung. Leider war es nicht ganz einfach, Zeugen zu finden, die fuer Sie aussagen wollen.Vielleicht gibt es jedoch Personen, an die wir nicht gedacht haben. Sie sollten mit Ihrem Verteidiger besprechen, wen wir eventuell noch einladen koennten. Sind Sie mit diesem Vorgehen einverstanden?

    GORBATSCHOW Ich denke ja. - Bevor wir anfangen, habe ich aber noch zwei Fragen.

    VORGOV Die waeren?

    GORBATSCHOW Die erste betrifft meine Familie. Geht es Ihr wirklich gut?

    VORGOV Sie brauchen sich absolut keine Sorgen zu machen. Ich versichere Ihnen nochmals, Ihre Familie ist gesund und in Sicherheit.

    GORBATSCHOW Wenn ich Ihnen trauen koennte ...

    PUTOV Bitte glauben Sie uns. Wir wollen hier Politik machen und haben nicht vor, Ihre Familie als Geisel zu benutzen.

    VORGOV Und die zweite Frage?

    GORBATSCHOW Wieviele Tage sind seit meiner Verhaftung vergangen. Ich habe mein Zeitgefuehl voellig verloren.

    VORGOV Es ist Dienstag, der 27. August. Seit Ihrer Verhaftung sind 9 Tage vergangen.

    GORBATSCHOW Ich muss sie schier verschlafen haben. Ich vermute, man hat mir Medikamente ins Essen gemischt.

    VORGOV Uns blieb nichts anderes uebrig, nachdem Sie sich so aufgefuehrt haben.

    GORBATSCHOW Halten Sie es nicht fuer normal, wenn sich jemand einer illegalen Entfuehrung widersetzt?

    VORGOV Entschuldigen Sie bitte unser Vorgehen. Es liess sich nicht anders machen.

    GORBATSCHOW Ich hatte meiner Frau versprochen, auf jeden Fall bei ihr zu bleiben.

    VORGOV Ihre Frau weiss, dass es Ihnen gut geht.

    GORBATSCHOW Natuerlich wuerde ich auch gern wissen, was in Moskau los ist.

    VORGOV (verstaendigt sich mit Putov und Warennikov) Also, ich kann ihnen folgendes mitteilen: Das Notstandskommittee hat seine Machtbasis ausgebaut und eine Reihe von Dekreten erlassen, um die oeffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Im Augenblick wird eine Regierung der nationalen Einheit gebildet.

    GORBATSCHOW Hat es denn keinen Widerstand gegen den Staatsstreich gegeben?

    VORGOV Wir mussten einige unkooperative Regierungsmitglieder und ZK-Sekretaere entlassen. Das war alles.

    GORBATSCHOW Das kann ich nicht glauben.

    WARENNIKOV Es ist aber so. Die Menschen haben von Ihren sogenannten Reformen die Nase voll und sind froh, dass sie Sie los sind.

    GORBATSCHOW Was ist mit Jelzin?

    VORGOV Er steht im weissen Haus unter Arrest.

    GORBATSCHOW Weiss man schon, wer die Regierung fuehren wird?

    VORGOV Die Geschaefte sind vorlaeufig vom Genossen Krjutschkow uebernommen worden.

    GORBATSCHOW (spoettisch) Der Geheimdienstchef als Ministerpraesident.

    VORGOV Er wird vom Vizepraesidenten, vom Verteidigungsminister und von verschiedenen Politbueromitgliedern unterstuetzt.

    GORBATSCHOW Vom Vizepraesidenten? Ich habe geahnt, dass die Anderen meine Gegner sind. Aber fuer ihn haette ich meine Hand ins Feuer gelegt.

     

     

  3. Szene
  4. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 2. TAGES: DER DUFT DER REFORMATION ODER EIN UNSICHERER KANTONIST SITZT IN JEDEM ZK

    (Putov und Vorgov allein im Verhandlungszimmer)

    PUTOV Haben Sie vielleicht einen Bleistift? Ich will mir ein paar Notizen machen.

    VORGOV Da, nehmen Sie einen von meinen Kugelschreibern.

    PUTOV Ich meine Bleistift. Fuer manche Zwecke ziehe ich Bleistifte vor.

    VORGOV Ich verstehe. (kramt in einer Schublade) Hier haben Sie einen. Ziemlich stumpf allerdings. (reicht ihn Putov)

    PUTOV Oh, es wird schon gehen. - Der General ereifert sich ziemlich. Das heisst ... ich meine, er nimmt seinen Auftrag sehr ernst.

    VORGOV Tun Sie das nicht?

    PUTOV Doch, doch, weitgehend schon, nur ...

    VORGOV Nur?

    PUTOV Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Verhoer so sinnvoll ist, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, wo alles noch in der Schwebe haengt.

    VORGOV Oh, ich finde, es hat auf jeden Fall ein paar interessante Aspekte.

    PUTOV Zum Beispiel?

    VORGOV Allein schon die Frage, wie so einer an die Macht kommen konnte.

    PUTOV Ganz einfach, er hat das Politbuero auf seine Seite gebracht.

    VORGOV Niemand ahnte anscheinend, wohin es fuehren wuerde, wenn manihm die Fuehrung anvertraut.

    PUTOV Niemand kann in die Zukunft schauen. Solange Breschnew lebte, hat sich Gorbatschow wie ein Musterschueler benommen.

    VORGOV Was ich meine, wenn ein Generationenwechsel ansteht, scheint sich in einer leninistisch gefuehrten Partei oft derselbe Vorgang zu wiederholen. Es wird eine Persoenlichkeit zum Vorsitzenden gemacht, die den demokratischen Zentralismus innerlich ablehnt.

    PUTOV Sie meinen Prag 1968.

    VORGOV Ja. Es gibt eine Linie, Nagy, Dubcek, Gorbatschow.

    PUTOV Es muss eine Art Systemfehler sein.

    VORGOV Und worauf ist er zurueckzufuehren?

    PUTOV Wahrscheinlich sitzen in jedem ZK unsichere Kantonisten, die sich unter normalen Umstaenden nicht vor trauen.

    VORGOV Aber warum wird ausgerechnet einer von denen zum Parteivorsitzenden gewaehlt? Was treibt die andern dazu, Leute wie Nagy, Dubcek oder Gorbatschow zu ihren Anfuehrern zu machen?

    PUTOV Schwer zu sagen. Sie wirken harmlos und kompentent.

    VORGOV Ich will Ihnen eine Erklaerung anbieten. Sie haben vorhin gesagt, niemand haette ahnen koennen, was er vorhat. Ich bin mir da nicht sicher. Ich glaube, gerade diese reformerische Note macht einen Teil seines Charismas aus. Ich habe es damals auf einer der ersten Parteikonferenzen mit Gorbatschow als Politbuero-mitglied gespuert, jeder hat es gespuert, es war eine Anziehung, eine Art Duft, der ihn umwehte.

    PUTOV ... der Duft der Reformation?

    VORGOV Koennte man sagen.

    PUTOV Ein bisschen Masochismus muss auch dabei sein. Denn dass das leninistische System auf Reformen ziemlich empfindlich reagiert, sagt einem schon der gesunde Menschenverstand.

    VORGOV Sie meinen, jeder Parteisekretaer, der Gorbatschow unterstuetzte, haette wissen muessen, dass er seinen sicheren Job riskiert?

    PUTOV Nicht in der Deutlichkeit ...

    VORGOV An sich hoert sich ihr Argument ganz logisch an. Je abstrakter etwas formuliert ist, um so besser hoert es sich an. Aber um so schwieriger ist es, sich in der Realitaet daran zu halten. In der damaligen Situation hat keiner logisch nachgedacht. Alle haben gespuert, es liegt etwas in der Luft, aber alle, anfangs auch ich, haben es fuer etwas positives gehalten.

    PUTOV Ich gebe zu, ein interessantes Phaenomen. Zumal es im Westen anscheinend nicht auftritt. Ich meine, im Westen haben sie kein Problem mit Fuehrern, die das Gesellschaftssystem aushebeln wollen.

    VORGOV Die Oberschicht ist dort mit ihrem System anscheinend zufrieden. Sie profitiert ja auch am meisten davon.

    PUTOV Oh, unsere Granden sind unter Breschnew auch zufrieden gewesen. Ich glaube, es hat einen anderen Grund.

    VORGOV Naemlich?

    PUTOV Ein US-Praesident, der sich falsch oder seltsam verhaelt, wird nicht wiedergewaehlt. Das ist eine Rueckkopplung, die es bei uns nicht gibt.

    VORGOV Mag sein. Aber hilft uns das weiter?

    PUTOV Eine Konsequenz waere, das Notstandskommittee sollte aufpassen, dass es nicht in die alten Fehler verfaellt, und einfach nur die alten Strukturen wiederbelebt.

    VORGOV Ich glaube, niemand will zu Breschnew zrueck. Es geht darum, unsere Gesellschaft ins Lot zu bringen und alles Notwendige zu tun, damit Ruhe und Ordnung zurueckkehren.

    PUTOV Niemand? Ich glaube, einige schon. Die Ansichten des Generals ...

    VORGOV Die Ansichten des Generals sind von vorgestern. Er gehoert einer anderen Generation an als wir.

    PUTOV Trotzdem hat man ihn in den Ausschuss berufen.

    VORGOV Er hat sich dem Ausschuss geradezu aufgedraengt, ich nehme an, weil er mit Gorbatschow noch ein Huehnchen zu rupfen hat. PUTOV ... und in Moskau sind sie froh, ihn ein paar Wochen los zu sein.

    VORGOV Gut moeglich.

    PUTOV Und Stagov? Er ist noch ziemlich jung, scheint aber auch ein Betonkopf zu sein. Haben Sie das vorher gewusst?

    VORGOV Ich kannte ihn genauso wenig wie sie. Wir hielten es fuer sinnvoll, auf die lokale Staatsanwaltschaft zurueckzugreifen.

    PUTOV Man haette sich nach ihm erkundigen sollen. Er scheint mir fuer die Aufgabe nicht hundertprozentig geeignet.

    VORGOV Er hat die besten Empfehlungen.

    PUTOV Mit Empfehlungen muss man heutzutage vorsichtig sein. Sie schwanken, je nachdem aus welcher Richtung sie kommen.

    VORGOV Jeder bevorzugt natuerlich seine eigene Richtung.

    PUTOV Natuerlich.

    VORGOV Welche bevorzugen Sie uebrigens?

    PUTOV Oh, ich behalte alle Richtungen im Auge.

    VORGOV Keine Praeferenzen?

    PUTOV Gewisse Praeferenzen durchaus. Aber als Profi behalte ich alle Richtungen im Auge.

    VORGOV Das glaube ich gern. Wie man hoert, bekommen Sie staendig Sonderinformationen aus der Haupstadt.

    PUTOV Der KGB steht fuer Informationen, das wissen Sie doch. Aber es gibt in Moskau nichts Neues, das koennen Sie mir glauben.

    VORGOV Man muss auf alles vorbereitet sein.

    PUTOV Man muss immer auf alles vorbereitet sein.

    VORGOV Gut, dass wenigstens Gorbatschow hier festsitzt.

    PUTOV Der ist weg vom Fenster, woimmer er sitzt.

    VORGOV Sonst waere die Lage noch verworrener.

    PUTOV Halten Sie die Lage fuer verworren?

    VORGOV Nun, sagen wir, manches ist seltsam.

    PUTOV Was meinen Sie?

    VORGOV Zum Beispiel, dass kein ZK-Plenum einberufen wurde, um ihn offiziell abzusetzen.

    PUTOV Die alten Parteistrukturen sollen anscheinend nicht wiederbelebt werden.

    VORGOV Das stimmt mich ein wenig melancholisch.

    PUTOV Sie haben sich nicht bewaehrt; wir sprachen eben darueber.

    VORGOV Nicht einmal der Ausnahmezustand wurde verhaengt. Sehr ungewoehnlich, finden Sie nicht?

    PUTOV Das Notstandskommittee sieht offenbar keine Veranlassung. Es haelt die Lage fuer unter Kontrolle.

    VORGOV Zigtausende vor dem Weissen Haus, die Barrikaden aufbauen, ein Jelzin, der sich plustert wie ein Truthahn. Nennen Sie das 'unter Kontrolle'?

    PUTOV Krjutschkow und Jasow scheinen keine Probleme damit zu haben.

    VORGOV Ja, ich weiss. Sie wollen Jelzin auf ihre Seite ziehen.

    PUTOV Was waere die Alternative? Wollen Sie Blutvergiessen wie in Litauen?

    VORGOV Ich weiss auch nicht, was ich mit Jelzin machen wuerde. Vielleicht ist es ja richtig, ihn einzubeziehen. Ich bin aber ueberzeugt, Warennikov wuesste ein paar Methoden, um Sicherheit und Ordnung ganz schnell wieder herzustellen.Traenengas, ein paar Wasserwerfer, um die Menschen wegzudraengen. Die Barrikaden vor dem Weißen Haus waeren für Panzer kein Hindernis. Breschnew hat es in Prag vorgemacht. In Afghanistan sind wir mit ganz anderen Problemen fertig geworden. Jelzin waere in Null-komma-nichts verhaftet.

    PUTOV Klingt ein bisschen, als ob Sie ein derartiges Vorgehen gutheissen wuerden.

    VORGOV Keineswegs, lieber Oberst. Wie ich schon sagte, ich bin mir unschluessig. Ich nehme keineswegs den Standpunkt der Stalinisten in meiner Partei ein.

    PUTOV Wie ist denn Ihr Standpunkt?

    VORGOV Ich wuerde sagen, wertkonservativ. Ich denke, dass wir uns von dieser Seite treffen koennten. Oder?

    PUTOV Durchaus.

    (Warennikov kommt herein)

    VORGOV Das einzige, was ich sicher weiss, ist dass Gorbatschow nicht wiederkommen darf, ansonsten bin ich fuer alles offen, verstehen Sie?

    PUTOV Ich verstehe. Und bin ganz Ihrer Meinung.

    (die uebrigen Teilnehmer des Verhoers kommen herein und begeben sich auf ihre Plaetze.)

    VORGOV Genosse Gorbatschow, wenn Sie einverstanden sind, wollen wir uns mit Ihrem Lebenslauf und Ihrem Aufstieg zum Generalsekretaer beschaeftigen, um einen Eindruck von Ihrer Persoenlichkeit und Ihren Motiven zu gewinnen.Ich erteile dem Staatsanwalt das Wort.

    STAGOV Sie sind Michail Sergejewitsch Gorbatschow, geboren am 2.3.1931 in Priwolnoje.

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Ich moechte Sie fragen, ob Sie Ihre Aussagen unter Eid machen wollen.

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Schwoeren Sie, dass Sie vor diesem Ausschuss die Wahrheit sagen werden, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?

    GORBATSCHOW Ich schwoere es.

    STAGOV Sie sind in Priwolnoje aufgewachsen.

    GORBATSCHOW Ja.

    PUTOV Bitte entschuldigen Sie. Wo liegt Priwolnoje?

    GORBATSCHOW Ein kleines Dorf im Nordkaukasus.

    STAGOV Sie haben seit 1950 in Moskau Jura studiert und sind 1952 in die Partei eingetreten?

    GORBATSCHOW So ist es.

    STAGOV Nach dem Studium sind Sie in den Dienst der Partei getreten.

    GORBATSCHOW Nach einem kurzen Zwischenspiel in der Staatsanwaltschaft von Stawropol.

    STAGOV So? Davon steht gar nichts in der Kaderakte.

    GORBATSCHOW (wiegelt ab) War praktisch nur eine Probezeit, eine Art Praktikum.

    STAGOV Hat es Ihnen dort nicht gefallen?

    GORBATSCHOW Es herrschte eine seltsame Athmosphaere. Da ich in der Partei sehr aktiv war, habe ich meine Kontakte genutzt, und bei der Jugendorganisation eine Stelle gefunden.

    STAGOV Ihre Kaderakte ist ziemlich duenn. Die meisten Vorgesetzen loben sie ueber den gruenen Klee. (blaettert darin) In den 30ern ist ein Onkel nach Amerika ausgewandert.

    GORBATSCHOW Wie sind sie eigentlich an meine Kaderakte gekommen?

    STAGOV Man hat seine Quellen. - Bezueglich des Onkels steht hier nur eine kurze Notiz. Anscheinend ist ueber ihn wenig bekannt. Wissen Sie, warum er auswanderte?

    GORBATSCHOW Ich hatte niemals Kontakt zu ihm.

    STAGOV Wissen Sie, wo er sich aufhaelt?

    GORBATSCHOW In Amerika, nehme ich an.

    STAGOV Ich meine, in welcher Stadt in Amerika.

    GORBATSCHOW Nein. Ich sagte doch: Ich hatte niemals Kontakt zu ihm.

    VORGOV Genosse Stagov, ich denke, solche Dinge sollten die Moskauer Behoerden untersuchen. Wir koennen nur die Fragen klaeren, ueber die wir Unterlagen besitzen.

    STAGOV Ihr Aufstieg in der Partei ist ziemlich ungebremst verlaufen. Mit 28 Erster Sekretaer des regionalen Jugendverbandes, mit 35 Parteichef von Stawropol, mit 40 Erster Sekretaer der Region und ZK-Mitglied der KPdSU. Anscheinend hatten Sie keine Schwierigkeiten, Karriere zu machen?

    GORBATSCHOW Man koennte das so sehen. Allerdings waren diese Posten viel weniger einflussreich als ihre hochtrabenden Bezeichnungen vermuten lassen.

    STAGOV Inwiefern?

    GORBATSCHOW Man wurde staendig vom Zentrum bevormundet.

    STAGOV Koennen Sie das praezisieren?

    GORBATSCHOW Um nur ein Beispiel zu nennen. Nordkaukasien ist an sich eine der Kornkammern unseres Landes. Aber wir hatten Probleme, fuer uns selbst genuegend Getreide zu produzieren, geschweige fuer die Nation. Und zwar zum groessten Teil aufgrund unzulaenglicher, antiquierter Produktionsmethoden. Reformen waren dringend noetig. Ich musste mich jedoch in allen wichtigen Fragen der Agrarabteilung des ZK unterordnen, die einem 70jaehrigen Apparatschik unterstand, der von modernen Produktionsmethoden keine Ahnung hatte.

    PUTOV Hoert sich an, als waeren Sie unzufrieden gewesen.

    GORBATSCHOW Kann man sagen, ja.

    PUTOV Und sind trotzdem immer weiter aufgestiegen. Sehen Sie darin keinen Widerspruch?

    GORBATSCHOW Nein. Sollte ich? - Ich liess mich nicht unterkriegen. Es stimmt, ich musste mich meist unterordnen. Die Erfahrung, dass man nicht alles, was richtig ist, machen kann, habe ich oft genug gemacht, gerade auch als Generalsekretaer, das koennen Sie mir glauben.

    PUTOV Ihnen ist die Perestroika nicht weit genug gegangen.

    GORBATSCHOW Sie waere erfolgreicher, wenn sie nicht verwaessert worden waere.

    WARENNIKOW So! Was wollten Sie denn noch alles aendern.

    GORBATSCHOW Ich haette gern viel mehr veraendert, musste aber alle moeglichen Ruecksichten nehmen.

    PUTOV ... und haben sich doch alle zu Feinden gemacht.

    VORGOV Bitte, Genossen, zum Thema. Zur Perestroika kommen wir erst morgen.

    STAGOV Sie sagten, ihre Anstrengungen seien oft wirkungslos gewesen. Wie reagierten Sie auf diese Erkenntnis?

    GORBATSCHOW Ich bildete mich zum Agrarexperten weiter, und liess nicht nach, im ZK Voerschlaege fuer Reformen zu machen.

    STAGOV Und dann hat Andropov sie nach Moskau geholt.

    GORBATSCHOW Es gab eine Vakanz im Politbuero. Er hat sich fuer mich eingesetzt.

    STAGOV Sie muessen Ihn machtig beeindruckt haben. Innerhalb von drei Jahren aus der tiefsten Provinz ins Politbuero ...

    GORBATSCHOW Andropov hat die Entscheidungen nicht allein getroffen. Ich denke, dass ich noch andere Fuersprecher hatte.

    STAGOV Anscheinend hat sich Breschnew auf ihn verlassen.

    GORBATSCHOW Breschnew war in seinen letzten Jahren kaum noch handlungsfaehig. Er musste sich auf Vertraute verlassen.

    PUTOV Andropov war damals Leiter des KGB. Finden Sie es nicht einen erstaunlichen Vorgang, dass der Chef des KGB sich fuer einen Agrarexperten einsetzt?

    GORBATSCHOW Juri war nie in erster Linie Geheimdienstler. Er war ein Mann der Partei mit einem grossen Interesse, das sowjetische System effektiver zu machen. Er war sehr aufgeschlossen und kam immer zu den Konferenzen der Gebietssekretaere, das liess er sich nicht nehmen, und pflegte Kontakte mit uns Juengeren. Er war mehr als Breschnew daran interessiert, was nach seiner Zeit geschehen wuerde. Uebrigens kam er ebenfalls aus dem Sueden. Wir haben zusammen Schach gespielt.

    VORGOV Von Breschnew hatten Sie keine hohe Meinung?

    GORBATSCHOW Ich habe ihn zu wenig gekannt. Aber soviel ist richtig, ich hielt ihn fuer wenig vorausschauend. Er hat nie daran gedacht, einen Nachfolger aufzubauen. Ein Nachfolger waere ein Konkurrent gewesen.

    VORGOV Sie glauben, er hat sich wenig Gedanken ueber die Zukunft gemacht?

    GORBATSCHOW Wenn ueberhaupt, hat er wahrscheinlich gedacht, dass alles so weiterlaeuft.

    PUTOV ... ein Irrtum, wie sich herausgestellt hat.

    GORBATSCHOW (grinst) Kann man sagen, ja.

    WARENNIKOV Wahrscheinlich haette er Sie verhindert, wenn er gewusst haette, worauf es hinauslief.

    GORBATSCHOW Ich weiss nicht. Fuer ihn war wichtig, dass waehrend seiner Lebenszeit niemand seine Macht bedrohte. Ansonsten liess ihm das Schicksal unseres Landes kalt.

    WARENNIKOV Ich protestiere gegen diese Beleidigungen und widerspreche ganz entschieden. Die fruehere Fuehrung unter Genossen Breschnew hat sich 20 Jahre um das Land verdient gemacht und der Sowjetunion Stabilitaet und einen gewissen Wohlstand beschert. Was man von Ihrer Regierung nicht sagen kann.

    GORBATSCHOW Es herrschte Stillstand, der absolute Stillstand, besonders in seinen letzten Regierungsjahren. Die Gesellschaft war wie gelaehmt. Alle haben aufgeatmet ...

    PUTOV Wie kam es nach ihrer Meinung zu dieser Laehmung?

    GORBATSCHOW Breschnew hat keine Reformen zugelassen. Er hielt jede Veraenderung fuer gefaehrlich. Es ist ein Konstruktionsfehler unseres Systems, dass immer wieder Leute ueber seine Zukunft entscheiden, die mit einem Bein im Grab stehen.

    WARENNIKOV Unser System ist doch seit 1917 erstaunlich stabil. Nach den Ereignissen der letzten Tage bin ich optimistisch, dass wir die Sowjetherrschaft auch im naechsten Jahrhundert aufrechterhalten werden.

    GORBATSCHOW Das stalinistische System besitzt nur eine scheinbare Stabilitaet, die vom diktatorischen Machtwillen einer kleinen Clique erzwungen wird und viele Opfer kostet.

    VERTOTSKI Bitte, Herr Vorsitzender. Ich moechte einen Moment mit meinem Mandanten sprechen.

    VORGOV Natuerlich.

    VERTOTSKI (fluestert mit Gorbatschow)

    GORBATSCHOW (laut) Warum sollte ich? (zu Vorgov:) Wir koennen das Verhoer fortsetzen.

    PUTOV Sie haben von Konstruktionsfehlern gesprochen. Das alte System hatte nach Ihrer Ansicht wohl viele Konstruktionsfehler?

    GORBATSCHOW Ich glaube schon.

    WARENNIKOV Hatten Sie demnach von Anfang an vor, den Kommunismus zu beseitigen.

    GORBATSCHOW Ich bin Kommunist und hatte nie vor, den Kommunismus zu beseitigen. Allerdings hat sich meine Einstellung im Laufe der letzten Jahre veraendert.

    WARENNIKOW Inwiefern?

    GORBATSCHOW Mir ist klar geworden, wie weit wir vom Kommunismus entfernt sind.

    WARENNIKOV Wann haben Sie demnach erkannt, dass Sie unser System beseitigen wollen?

    VORGOV Genosse. Wir sind schon wieder in einer Diskussion ueber Gorbatschow als Generalsekretaer. In dieser Sitzung sollten wir uns auf die Zeit vor seiner Ernennung beschraenken.

    PUTOV Wir waren bei Ihrer Anfangszeit im Politbuero. Sie haben sich dort schnell zurechtgefunden. ... ein Senkrechtstarter, den man nicht aufhalten kann, wuerden Sie dieser Einschaetzung zustimmen?

    GORBATSCHOW Eher nicht. Man muss sehen, Anfang der 80er Jahre bestand das Politbuero aus lauter Greisen. Ausser mir und Ligatschow gab es keine juengeren Mitglieder, das heisst juenger als 75. Und dann starben innerhalb eines Jahres Breschnew, Andropov, Ustinov und Tschernenko, also genau die Einflussreichsten unter den Alten. Es war wie eine Epidemie. Damit war der Weg frei. Es gab zwar leichte Widerstaende, vor allem aus Kreisen der Regierung, ich meine Gromyko und ein paar andere, die aber in der Partei relativ wenig Einfluss besassen. Sie haben versucht, zuerst Tschernenko und spaeter Ligatschow auf ihre Seite zu ziehen, aber ohne Erfolg.

    VORGOV Warum glauben Sie, ist die Entscheidung auf Sie statt auf Ligatschow gefallen?

    GORBATSCHOW Ich weiss nicht. Andropov hatte dafuer gesorgt, dass ich den Generalsekretaer bei Krankheit vertrete. Dadurch gab es eine gewisse Voreinstellung, wuerde ich sagen.

    VORGOV Ligatschow haette versuchen koennen, Sie mit Hilfe Gromykos zu verdraengen.

    GORBATSCHOW Er zeigte keinen besonderen Ehrgeiz, Generalsekretaer zu werden. Als Gromyko einsah, dass er bei ihm keinen Erfolg hatte, hat er sich mit mir arrangiert.

    WARENNIKOV Was ihm nicht viel geholfen hat.

    GORBATSCHOW Seine Zeit war abgelaufen.

    WARENNIKOV Einen verdienten Aussenminister, der seine Loyalitaet versichert hat, mir nichts dir nichts auszuwechseln ...

    GORBATSCHOW Ich traute ihm nicht. Ausserdem passte er nicht zu meinen aussenpolitischen Absichten, ich meine, atomare Abruestung, Rueckzug aus Afghanistan und so weiter. Das war mit Gromyko nicht zu machen. Er war ein kalter Krieger. Ausserdem, seine Entlassung entsprach dem ueblichen Vorgehen.

    PUTOV Sie meinen, dem ueblichen Vorgehen in der Breschnew-Aera.

    GORBATSCHOW Wie meinen Sie das?

    PUTOV Ich meine demokratische Usancen. Der Aussenminister kann nur vom Ministerpraesidenten oder dem Parlament entlassen werden.

    GORBATSCHOW Breschnew war erst ein Jahr tot. Wie haette ich da demokratische Usancen pflegen sollen? Wie Sie wohl wissen, habe ich als erster 'demokratische Usancen' ueberhaupt eigefuehrt, sobald ich sie durchsetzen konnte. Ueberhaupt bin ich das erste demokratisch gewaehlte Staatsoberhaupt in der Geschichte unseres Landes.

    STAGOV Der demokratische Zentralismus hat schon immer ein starkes volksdemokratisches Element gehabt. Ihre Wahl zum Praesidenten dagegen war aeusserst zweifelhaft. Was dabei vor sich ging, kennt man sonst nur aus Dritte-Welt Diktaturen. Der Diktator aendert die Verfassung und laesst sich dann zum Praesidenten waehlen.

    GORBATSCHOW Sie haben es noetig, mir Verfassungsbruch vorzuwerfen.

    PUTOV Sie koennen nicht bestreiten, dass die Zusammensetzung des Parlamentes, das Sie gewaehlt hat, aeusserst zweifelhaft war. Ein Grossteil der Delegierten war von der Partei ernannt worden.

    GORBATSCHOW Das bestreite ich auch nicht. Trotzdem war der Vorgang ein erster Schritt auf die Demokratie, die durch Ihren Putsch totgetreten wird.

    WARENNIKOV Was, Demokratie. Was soll das bringen? In jedem Bezirk, in dem die Abgeordneten frei gewaehlt werden konnten, hat sich gezeigt, dass die Partei vollstaendig einbrach und unberechenbare Demokraten die Mehrheit gewannen.

    GORBATSCHOW Die Partei hat sich in den 70 Jahren ihrer Alleinherrschaft viele Feinde geschaffen. Sie muss es tolerieren, wenn man sie kritisiert.

    STAGOV Das Problem ist wahrscheinlich, dass Sie in dieser Runde mit Ihrem Demokratieverstaendnis ziemlich allein dastehen. Niemand hier will eine Demokratie nach westlichem Muster.

    GORBATSCHOW Was Sie wollen, weiss ich. Sie wollen zurueck zum Kommandosystem. Aber ich sage Ihnen etwas: Es gibt auch Kommunisten, denen die Freiheit viel bedeutet, weil sich Freiheit und Gleichheit in der idealen Gesellschaft ergaenzen.

    STAGOV Das Gerede von der Freiheit kennen wir von den Kapitalisten, die damit nur ihre Herrschaft bemaenteln.

    WARENNIKOW Jeder Schueler weiss, dass sich Sozialismus und Demokratie ausschliessen. Ausserdem 'ideale Gesellschaft'. Wenn ich das hoere. Das sind doch Traeumereien. Hirngespinste sind das. Die Sowjetunion war ein funktionierendes Staatsgebilde, das Sie zerstoert haben. Und mit allem, was Sie daherreden, wollen Sie nur Ihre Verbrechen bemaenteln.

    GORBATSCHOW Manchmal denke ich, Sie haben recht, und die Vorstellungen, an denen ich mich orientierte, haben mit dem Sowjetsystem gar nichts zu tun; und zwar, weil wir nie einen Sozialismus hatten.

    VORGOV Ich sehe, die Debatte laesst sich nicht regulieren. Ich denke daher, wir sollten die Vernehmung des Generalsekretaersfuer heute abschliessen und den Zeugen Ligatschow hoeren. Sind Sie einverstanden, Genosse Stagov? (Stagov nickt.) Herr Verteidiger?

    VERTOTSKI Keine Einwaende. Wir haetten Ligatschow ebenfalls vorgeschlagen.

    VORGOV Um so besser. Er ist also zugleich Zeuge der Anklage und der Verteidigung. - (zur Wache) Bitte rufen Sie Ligatschow herein.

    (Der Wachtposten oeffnet die Tuer. Ligatschow tritt ein. Er ist salopper gekleidet als die Anderen.)

    LIGATSCHOW Guten Tag, Genossen.

    GORBATSCHOW Jegor Kuzmitsch!

    LIGATSCHOW Michail.

    GORBATSCHOW Wo kommst du denn her?

    LIGATSCHOW Ich wohne hier ganz in der Naehe, wusstest du das nicht? Auf meiner Datscha im schoenen Sewastopol.

    VORGOV Genosse Ligatschow, Sie haben sich dem Ausschuss zur Verfuegung gestellt. Wollen Sie schwoeren, dass Sie die Wahrheit sagen werden?

    LIGATSCHOW Ich schwoere.

    STAGOV (erhebt sich) Genosse Ligatschow, warum sind Sie hier und nicht in Moskau, wo die Politik gemacht wird.

    LIGATSCHOW Moskau ist mir zu laut und zu schmutzig. Und meist auch zu kalt.

    STAGOV Sie haben nicht immer so gedacht.

    LIGATSCHOW Nein. Als Michail mich letztes Jahr aus dem Politbuero geworfen hat, ...

    GORBATSCHOW Eine unfeine Formulierung.

    LIGATSCHOW Ein unfeiner Vorgang.

    GORBATSCHOW Die Mehrheit im ZK war gegen dich. Alles ist rechtlich einwandfrei abgelaufen.

    LIGATSCHOW Natuerlich, Ihr habt euch an die Statuten gehalten. Trotzdem war der ganze Vorgang ziemlich ungewoehnlich und erniedrigend. Und es ist klar, dass meine Entmachtung hauptsaechlich von dir betrieben wurde. Ich habe dir das sehr uebel genommen.

    GORBATSCHOW Von dir kamen staendig Querschuesse gegen die Reformen. Da mussten wir einschreiten.

    LIGATSCHOW Bist du nicht derjenige, der immer ueber Demokratie geredet hat?

    GORBATSCHOW Ich verstehe nicht, ...

    STAGOV Entschuldigen Sie, Genosse, ich wuerde gern die Vernehmung des Zeugen fortsetzen.

    GORBATSCHOW Meinetwegen.

    STAGOV Genosse Ligatschow, was haben Sie nach Ihrer Demission gemacht?

    LIGATSCHOW Nichts besonderes. Zuerst war ich todungluecklich. Macht ist wie eine Droge, muessen Sie wissen, besonders die grosse Macht. Und wir im Politbuero hatten grosse Macht. Man kommt nicht freiwillig von ihr los, auch wenn Sie einem letztendlich schadet. Ich meine der Psyche. - Aber dann, nach einigen Wochen habe ich mich auf meine vielen anderen Interessen besonnen, die ich durch die Politik voellig vernachlaessigt hatte.

    STAGOV Was fuer Interessen sind das?

    LIGATSCHOW Oh, zum Beispiel die Familie, die Kuenste, der Gartenbau. Besonders die Blumenzucht. Koennen Sie sich vorstellen, wie schoen ein kleines Beet von Hyazinthen ist? Wie prachtvoll! - Jegor, habe ich zu mir gesagt, du bist keiner von den Idioten, die sich jahrelang aufregen, weil sie ihr Poestchen verloren haben. - Und seitdem bin ich ueber die Politik hinaus.

    VORGOV Apropos Interessen. Gorbatschow hat ausgesagt, Sie seien nicht daran interessiert gewesen, Generalsekretaer zu werden.

    LIGATSCHOW Weniger als er, wuerde ich meinen.

    VORGOV Als sie letztes Jahr entlassen wurden, haben Sie Ihre fruehere Haltung bereut?

    LIGATSCHOW Welche Haltung?

    VORGOV Nicht selbst Generalsekretaer geworden zu sein.

    LIGATSCHOW Zuerst ja. Aber seit ich hier unten lebe, hat sich meine Einstellung veraendert.

    WARENNIKOV Waere es nicht ihre Pflicht gewesen, das Steuer in die Hand zu nehmen, spaetestens als sie erkannten, dass der neue Kapitaen in die voellig falsche Richtung segelt?

    LIGATSCHOW Am Anfang hat niemand fuer moeglich gehalten, wieweit Michail das Schiff vom Kurs abbringen wuerde. Seine Argumente klangen sehr ueberzeugend. Nur durch Reformen koennen wir unser Land aus seiner Stagnation befreien, Perestroika, Glasnost, blabla, Sie kennen das ja. Er hat mit diesem Gerede keine Ruhe gegeben und uns so lange weichgeklopft, bis wir gesagt haben: "Ok, why not, let him go".

    STAGOV Aber irgendwann liess sich der Umfang des Desasters erkennen.

    LIGATSCHOW Da war es zu spaet. Fuer mich wenigstens. Er hatte viele Positionen mit eigenen Leuten besetzt und konnte mich ziemlich leicht isolieren, sobald er merkte, dass ich seine Politik nicht mehr unterstuetze. - Offiziell war ich fuer Ideologie verantwortlich. Ich habe auf dieser Schiene Einwaende gegen die Perestroika in die Parteikongresse gebracht. Wir haben auf mehreren Parteitagen und ZK-Sitzungen versucht, eine Mehrheit zu bekommen. Vergeblich. Im ZK und Politbuero hatte er fast alle auf seiner Seite. Erst in letzter Zeit scheint es einen Umschwung gegeben zu haben.

    WARENNIKOV Wenn man sieht, die Partei wird an den Abgrund gefuehrt, muss man dann nicht andere Massnahmen in Erwaegung ziehen als Eingaben auf Parteitagen?

    LIGATSCHOW Nicht mit mir. Ich bin kein Mann gewalttaetiger Methoden, falls Sie das meinen.

    VORGOV Kollegen. Wir sind schon wieder bei Gorbatschows Zeit als Generalsekretaer. Eigentlich wollten wir Genossen Ligatschow nach dem Ende der Aera Breschnew befragen.

    LIGATSCHOW Ueber diese Zeit gibt es nicht viel zu sagen. Es gab eine kurze Spanne der Unsicherheit, aber dann hat Michail wie selbstverstaendlich die Fuehrung uebernommen.

    STAGOV Sie haben ausgesagt, er sei auf den Posten des Generalsekretaers ziemlich versessen gewesen,

    LIGATSCHOW Versessen ist uebertrieben. Alles lief auf ihn hinaus. Er war ueberall beliebt. Er ist ein Mensch, dem man blindlings alles anvertrauen wuerde, sein Vermoegen, seine Tochter und sein Leben, wenn Sie verstehen. Er haette einen guten Banker abgegeben. Zu unserer Zeit waren Banker nicht sehr angesehen. Also ist er Generalsekretaer geworden.

    VORGOV Was genau meinen Sie mit 'er haette einen guten Banker abgegeben'? Erfolgreich, Gelder zu aquirieren, oder erfolgreich, sie zu verwalten und zu vermehren?

    LIGATSCHOW Die Ueberredungsschiene. Zu verwalten weniger. Ich war nicht ueberrascht, als er Frau Thatcher eingewickelt hat. Leider ist fuer uns dabei kein Gewinn herausgesprungen.

    STAGOV Was koennen Sie uns noch ueber seine Person sagen? Was ist er fuer ein Mensch? Von welchen Motiven wird er geleitet?

    LIGATSCHOW Er ist ein guter Mensch. Er ist tiefgruendiger als ich. Er steht zu seinen Ueberzeugungen. Was wollen Sie hoeren?

    STAGOV Ich meine eher im Hinblick auf seine Karriere.

    LIGATSCHOW Wir beide konnten sehr gut in dem salzigen See schwimmen, der unsere Partei war. Er hatte mit Sicherheit die groesseren Ambitionen, und so ist er ganz nach oben gekommen. Allerdings haben es ihm die Leute, von ein paar Neidern abgesehen, auch ziemlich leicht gemacht. Sie waren eben darauf gepolt, dass der Generalsekretaer die Befehle gibt. In Russland wird man dazu erzogen, dass andere die Befehle geben.

    PUTOV Glauben Sie, in anderen Laendern ist das anders?

    LIGATSCHOW Ich weiss nicht.

    WARENNIKOV Hatten Sie je den Eindruck, er koenne unter dem Einfluss der Amerikaner stehen?

    LIGATSCHOW Wie meinen Sie das?

    WARENNIKOV Oh, nur so, allgemein. Hatten Sie den Eindruck, er koenne amerikanische Interessen hoeher bewerten als sowjetische.

    LIGATSCHOW Nein. Definitiv nein.

    VORGOV Zum Fragenkreis der Aussenpolitik werden wir spaeter kommen. Wir haben dazu auch weitere Zeugen. Haben Sie noch Fragen an Ligatschow, Genosse Stagov?

    STAGOV Nein, Herr Vorsitzender.

    VORGOV Herr Vertotski?

    VERTOTSKI Ich habe nur eine Frage. Die Ihre persoenliche Zukunft betrifft. Sie haben der Partei viele Jahre gedient und gute Arbeit geleistet. Warum weigern Sie sich, fuer das Notstandskomittee taetig zu werden?

    LIGATSCHOW Ach, haben Sie mit Plechanow geredet? Nein? - Nun, wie ich sagte, ueber die politische Phase bin ich hinaus. Es stimmt zwar, in der Politik kannst du viel erreichen. Gerade in Zeiten des Umbruchs hast du viel Gestaltungsspielraum. Aber die Frage ist, was bedeutet das fuer dein Leben. Wenn du 70 oder 80 bist und hast dein Leben auf ZK-Sitzungen vertan ... Fuer mich ist das die falsche Orientierung. Ich finde es weit unterhaltsamer, Blumen zu zuechten. Ausserdem bin ich mir nicht sicher ... ich meine ... Wie ich schon sagte, bestimmte Methoden liegen mir nicht.

     

     

     

  5. Szene
  6. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 3. TAGES: KANN MAN EIN SYSTEM VERBESSERN, OHNE ES ZU VERAENDERN?

    STAGOV Was mich interessieren wuerde, wie haben Sie sich die Umgestaltung unseres Wirtschaftssystems vorgestellt.

    GORBATSCHOW Wir haben lange ueberlegt, wie sich die Wirtschaft in Schwung bringen laesst, und sind zu der Ueberzeugung gekommen, dass wir erstens eine Marktwirtschaft brauchen, und dass sich zweitens Marktwirtschaft und Sozialismus nicht ausschliessen.

    STAGOV Die oekonomische Entwicklung der letzten zwei Jahre hat uns eines besseren belehrt.

    GORBATSCHOW Sie meinen ...

    STAGOV Ich meine den Einbruch der Produktion und die enormen Preissteigerungen. Haben Sie im Ernst geglaubt, dass sich die Planwirtschaft so einfach umstellen laesst?

    GORBATSCHOW Ich kenne diese Vorwuerfe. Man muss zwei Dinge bedenken. Erstens, wir haben die Wirtschaft gar nicht so radikal umgestellt, wie von Ihrer Seite behauptet wird. Im Gegenteil, viele der alten Strukturen sind intakt geblieben, weil wir natuerlich wussten, dass wir nicht alles von einem Tag auf den anderen umbauen koennen.

    STAGOV Es bleibt die Tatsache, dass Sie die Oekonomie gegen die Wand gefahren haben. Allein im letzten Jahr ist die Produktion um 30 Prozent zurueckgegangen; und die Inflation ist auf ueber 100 Prozent gestiegen. Wie haben Sie sich vorgestellt, dass es weitergehen soll?

    GORBATSCHOW Es war klar, dass unsere Reformen nicht von heute auf morgen greifen.

    STAGOV Und solange sollten die Menschen hungern?

    GORBATSCHOW Niemand hungert in Russland. - Aber angesichts gewisser Entwicklungen ist mir schon auch der Gedanke gekommen, dass ein Marktsystem wie im Westen auf keinen Fall erstrebenswert ist. Nicht nur wegen der Umstellungsschwierigkeiten, sondern ich meine die immensen Gewinne auf der einen Seite, und die Armut, die Schattenwirtschaft, Verbrechen, Prostitution ...

    STAGOV Haetten Sie das nicht vorher wissen koennen? Wenn es etwas gibt, was wir Kommunisten auf der Schule lernen ...

    GORBATSCHOW Vielleicht. - Sie muessen aber bedenken, ich hatte nicht nur mit den Nein-sagern zu tun, die schnellstmoeglich zum Kommandosystem zurueckwollen. Ich musste mich auch mit anderen Standpunkten auseinandersetzen. Es gibt ernst zu nehmende Leute, denen die Reformen nicht weit genug gehen. Sie werfen mir vor, ich sei vor der Partei und dem militaerisch-industriellen Komplex, die nur auf den Erhalt ihrer Privilegien aus sind, zurueckgewichen. Es gibt sogar eine kleine Gruppe von Radikalen, die noch viel mehr im Sinn haben.

    VORGOV Es gibt immer viele Meinungen. Sie kennen das Sprichwort. Wenn 3 Russen zusammenkommen, hat man am Ende 30 Meinungen. Waere es nicht darauf angekommen, wenigstens einen Fixpunkt sich zu bewahren, das heisst den Marxismus- Leninismus.

    GORBATSCHOW Ich habe mich seit Beginn meiner Amtszeit immer an Lenin orientiert.

    STAGOV Das behaupten Sie.

    GORBATSCHOW In den meisten meiner Dekrete und Reden habe ich mich ausdruecklich auf ihn bezogen, weil mir bewusst war, wir koennen zwar Stalin in Frage stellen, aber jede Bemuehung, uns vom echten Lenin zu distanzieren, wuerde die Wurzeln unseres Gesellschaftssystems in Frage stellen.

    STAGOV Ich kann Ihnen eine Reihe von Beispielen nennen, wo Sie gegen leninistische Prinzipien verstossen haben.

    GORBATSCHOW Welche sollten das sein?

    STAGOV Ich meine besonders die Aufhebung des Parteienmonopols, aber auch die Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten, wo es den sogenannten Demokraten schnell gelungen ist, Fuss zu fassen.

    GORBATSCHOW Der Kongress der Volksdeputierten ist eine Schoepfung Lenins, wie Sie wissen sollten. Die Zulassung anderer Parteien im letzten Jahr entsprach einem breiten gesellschaftlichen Konsens und ist mit Billigung des ZK erfolgt.

    STAGOV Billigung oder nicht. Ein Kernpunkt des Bolschewismus ist die Fuehrungsrolle der kommunistischen Partei, anders gesagt, die Diktatur des Proletariats, die wurde aufgegeben ...

    WARENNIKOV ... was aus der Partei wurde, war ihnen egal, nehme ich an.

    GORBATSCHOW Ich moechte meine vorige Aussage einschraenken. Ich haette sagen sollen, bis VORLETZTES Jahr habe ich mich ausschliesslich an Lenin orientiert. Danach sind andere Kraefte ins Spiel gekommen, auf die ich mich einstellen musste.

    WARENNIKOV Koennte es sein, dass Sie Lenin nur im Munde fuehrten, um von Ihren wahren Absichten abzulenken?

    GORBATSCHOW Die waeren?

    WARENNIKOV Hatten Sie nicht eine Demokratie nach westlichem Muster im Kopf?

    GORBATSCHOW Ja und nein. Wie gesagt, die Leninschen Schriften sind die Grundlage all meiner Entscheidungen gewesen, ich wollte sie mit den Vorteilen der Marktwirtschaft verbinden.

    VORGOV Aber Sie haben den Einfluss des Zentralkommittees auf die Regierung systematisch zurueckgedraengt. Mit unserer Partei ging es immer weiter bergab. Sie verfiel still vor sich und geriet langsam in Vergessenheit - im ZK-Gebaeude am Alten Platz war es still und leer wie in einer Grabkammer.

    WARENNIKOV Eine Schande fuer jeden Kommunisten.

    GORBATSCHOW Im ZK-Gebaeude war es schon immer still und leer wie in einer Grabkammer. 'Grabkammer' ist absolut treffend. Genau das habe ich gedacht, als ich zum ersten Mal dahin kam; 'hier ist es wie in einem Mausoleum', habe ich gedacht. Denn niemand traute sich, laut zu reden, aus Furcht, die Greise zu stoeren. Dabei waren sie schwerhoerig und hatten schalldichte Bueros.

    PUTOV Trotzdem bedeutete es fuer Sie die Kroenung Ihrer Karriere, dort zu arbeiten?

    GORBATSCHOW Ja. Es war das Zentrum der Macht.

    PUTOV Seltsam, dass sich ein ganzes Land von einem Mausoleum aus beherrschen laesst.

    GORBATSCHOW Ja, gespenstisch, nicht wahr.

    PUTOV Wie hat es funktioniert? GORBATSCHOW Die Steuerung vollzog sich auf extrem abstraktem Niveau. Das Politbuero gab normalerweise keine praezisen Anweisungen. Trotzdem wusste jeder, was er zu tun hatte.

    PUTOV Woher?

    GORBATSCHOW Die Triebfeder war, niemand wollte sich unbeliebt machen. Man wusste, der kleinste Fehltritt konnte die schlimmsten Folgen haben, es gab genuegend Beispiele. Den meisten half dieses Bewusstsein, das 'Richtige' zu tun.

    PUTOV Wie beurteilen Sie diese Art der Machtausuebung?

    GORBATSCHOW Einserseits elegant und bequem und durchaus effektiv. Aber man muss fragen, effektiv wofuer. Effektiv, um an der Macht zu bleiben, oder effektiv, um eine Nation voran zu bringen.

    PUTOV Das ZK-Gebaeude ist die ganze Zeit ein Mausoleum geblieben?

    GORBATSCHOW Nein. Kurz nach meinem Amtsantritt nahm ich einschneidende Aenderungen in der Hierarchie vor, und die Grabkammer lebte auf, es begann dort zu summen wie in einem Bienenschwarm.

    PUTOV Inzwischen hat es aber wieder aufgehoert zu summen.

    GORBATSCHOW Ja. Seit vorletztem Jahr haben sich die Aktivitaeten haben verlagert, auch weil die Partei zuletzt nicht mehr richtig mitzog.

    VORGOV Halten Sie es fuer moeglich, dass Sie Ihre Autoritaet hauptsaechlich der Erinnerung an jenes Mausoleum zu verdanken haben?

    GORBATSCHOW Am Anfang bestimmt.

    VORGOV Und hinterher?

    GORBATSCHOW Ich hoffe, genug eigene Autoritaet gewonnen zu haben.

    WARENNIKOV Wenn Sie ehrlich sind ... Ihre Autoritaet ist doch kontinuierlich geschwunden. Niemand hat Sie mehr ernst genommen. Indem die Erinnerung an Breschnew und Stalin zerfiel, zerfiel auch Ihre Autoritaet.

    GORBATSCHOW Das ist Ihre Meinung.

    WARENNIKOV Es war der Respekt vor Breschnew und Stalin, der Sie so lange an der Macht gehalten hat. Sonst haette man diesem Unwesen viel frueher ein Ende bereitet.

    PUTOV Die alte Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern. Wuerden Sie uns da recht geben?

    GORBATSCHOW Selbst wenn es so waere. Sie haben mich gewaehren lassen.

    WARENNIKOV Wir haben zu spaet erkannt, der Kaiser hat gar keine Kleider an.

    GORBATSCHOW Ihre Kleider haette ich nicht anziehen wollen.

    STAGOV Genosse Gorbatschow, wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich noch einmal zur Wirtschaftspolitik zurueck. Sie haben gesagt, in den ersten Jahren sei die Partei an den Entscheidungsprozessen beteiligt worden.

    GORBATSCHOW Ja. Alle wichtigen oekonomischen Reformen sind zuerst im ZK beschlossen worden und orientieren sich uebrigens an Lenins 'Neuer Oekonomischen Politik' aus den 20er Jahren.

    STAGOV Wegen der NOEP haben Sie 1998 Bucharin rehabilitiert, wenn ich das richtig sehe.

    GORBATSCHOW Ja, er war der Vordenker der NOEP. Er hat sie ab 1921 zusammen mit Lenin entworfen.

    STAGOV In den 30ern ist er wegen seiner falschen Ideen aus der Partei ausgeschlossen und verurteilt worden. Sie geben Bucharins Wirtschaftstheorie als leninistisch aus. Generationen von Leninismus-Experten haben das anders gesehen.

    GORBATSCHOW Stalinismus-Experten, wuerde ich sagen.

    STAGOV Als naechstes waeren Sie uns mit Trotzki gekommen.

    VERTOTSKI Einspruch, Herr Vorsitzender. Eine rein polemische Unterstellung.

    GORBATSCHOW Lassen Sie ihn. Man muss doch sehen, 1917, in der Revolutionszeit war unsere Partei ein grosses Ideenreservoir. Vereinfacht dargestellt, gab es neben Lenins Zentrum eine 'rechte' Fraktion um Bucharin, welche, wiederum stark vereinfacht gesagt, die Mechanismen des Marktes mit dem Bolschewismus in Einklang bringen wollte. Auf der anderen Seite gab es utopische, am fruehen Marx orientierte, linksradikale Vorstellungen ...

    WARENNIKOV .. die Lenin scharf verurteilte.

    GORBATSCHOW Mag sein.

    STAGOV Trotzki ...

    GORBATSCHOW Trotzki wuerde ich keiner dieser Gruppen zurechnen. Er sass mit Stalin im Zentrum und war sein Konkurrent um die Macht. Erst als seine Felle davonschwammen, hat er sich ein linkes Maentelchen umgehaengt.

    STAGOV Noch einmal zur NOEP. Die NOEP war doch ein Desaster. Sie war eine Reaktion des spaeten, schon kranken Lenins auf gewisse Probleme beim Umbau der Feudalgesellschaft zum Sowjetsystem. Allerdings eine falsche Reaktion, wie sich rasch zeigte. Stalin hat sie 1929 beendet und um so vehementer die Kollektivierung betrieben.

    GORBATSCHOW Die Kollektivierung hat der Gesellschaft enorm geschadet. Abgesehen von der Gewalt und dem Blutvergiessen hat sie zur Hungerkatastrophe der Jahre 1931/32 gefuehrt. Sie hat Wunden aufgerissen, die zum Teil bis heute nicht verheilt sind. Alles nur wegen hysterischer Befuerchtungen der stalinschen Parteibuerokratie.

    PUTOV Es gab anscheinend einen Punkt, wo die Parteikader die Revolution sichern wollten, statt sich auf weitere Experimente einzulassen. Halten Sie so ein Verhalten nicht fuer legitim?

    GORBATSCHOW Genau dieses Problem der Unbeweglichkeit der Kader hat uns die langjaehrige wirtschaftliche Stagnation beschert. - Es gab damals mehrere historische Wendepunkte, wo die Buerokratie die Ziele der Revolution verfaelschte. Der eine, Anfang der 20er Jahre ...

    WARENNIKOV Genosse Vorsitzender, ich halte diese historischen Exkurse fuer wenig hilfreich.

    VORGOV Warum?

    WARENNIKOV Sie sind reine Ablenkungsmanoever. Ich denke, dass Gorbatschow die NOEP nur vorschiebt. In Wirklichkeit hatte er die Einfuehrung kapitalistischer Marktstrukturen im Sinn. GORBATSCHOW Die NOEP bezweckte die Einfuehrung von Marktstrukturen. Die Partei sollte zwar im Besitz der Produktionsmittel bleiben, jedoch die Verfuegungsgewalt quasi verpachten, an die Bauern und Unternehmer, zum Zwecke hoeherer Effektivitaet und zum Nutzen aller.

    PUTOV Ich hatte vor Monaten ein Gespraech mit einem befreundeten Oekonomen. Der hat folgendes gesagt. Gorbatschows Programm hoert sich in der Theorie sehr ueberzeugend an. Aber in der Praxis fuehrt es ins Chaos, damals wie heute. Man sieht es doch. Man weiss es aus Erfahrung. Ein Gemisch von staatssozialistischen und kapitalistischen Wirtschaftselementen foerdert Schattenwirtschaft und Korruption; denn man benoetigt ein ausuferndes System von Vermittlern zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor, wobei die Vermittler besonders hohe Profite einstreichen ...

    WARENNIKOV ... und letztendlich laeuft die Wirtschaft ganz aus dem Gleis, und dann gibt es nur zwei Alternativen. Entweder die Partei bringt sie gewaltsam ins Gleis zurueck, wie damals durch die Kollektivierung ...

    GORBATSCHOW ... oder wie heute. Denn nicht wahr, darum sitzen wir doch hier?

    WARENNIKOV ... oder man ueberlaesst den Kapitalisten die Macht. Kann man natuerlich auch tun.

    GORBATSCHOW Warum lassen Sie mich meine Reformen nicht zu Ende bringen?

    VORGOV Weil Ihre sogenannten Reformen immer konfuser und widerspruechlicher wurden; es war keine Linie mehr zu erkennen.

    GORBATSCHOW Meine Gegner wurden immer staerker, und auch unverschaemter. Ich musste Kompromisse eingehen.

    WARENNIKOV Ja, mit Jelzin und seiner Bande.

    GORBATSCHOW Nicht nur mit Jelzin, auch mit den Konservativen im Zentralkommittee und in den Ministerien.

    PUTOV Sie versuchten, es allen recht zu machen, um niemandem auf die Fuesse zu treten.

    GORBATSCHOW Ich denke, ich bin einigen Leuten auf die Fuesse getreten.

    PUTOV Am Schluss hat sie keiner mehr ernst genommen. Hat sich der Eiertanz also gelohnt?

    GORBATSCHOW Es gab keine Alternative, da ich mich auf Gewaltmassnahmen nicht einlassen wollte.

    STAGOV Wir haben das Thema Gewalt schon mehrfach gestreift. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, etwas genauer darauf einzugehen. Sind Sie sich bewusst, dass der Leninismus Gewalt als politisches Mittel durchaus befuerwortet?

    GORBATSCHOW Nur in extremen historischen Situationen.

    STAGOV Was ist fuer Sie eine extreme historische Situation?

    GORBATSCHOW Zum Beispiel waehrend einer Revolution, in der sich das Proletariat von der Knechtschaft durch das Kapital befreit.

    STAGOV Sonst faellt Ihnen nichts ein?

    GORBATSCHOW Nein.

    STAGOV Andere aussergewoehnliche Umstaende; wenn eine Regierung die Verfassung bricht?

    GORBATSCHOW Nein. Gewiss nicht.

    STAGOV In ihren Augen. War unser Vorgehen gegen die Ungarn 1953 und 1968 gegen die Tschechen gerechtfertigt?

    GORBATSCHOW Nein.

    PUTOV Koennen Sie sich ueberhaupt eine Situation vorstellen, in der gewaltsames Vorgehen des Staates gerechtfertigt ist?

    GORBATSCHOW Nach meiner Meinung ist Gewalt nur in extremen Ausnahmefaellen zulaessig. Wenn ein Staat von einem anderen angegriffen wird, zum Beispiel.

    STAGOV Dass wir uns gegen Hitlerdeutschland wehren mussten, geben Sie also immerhin zu?

    GORBATSCHOW Ja. Ich moechte aber etwas hinzufuegen.

    STAGOV Bitte.

    GORBATSCHOW Gewalt in Notwehrsituationen halte ich prinzipiell fuer gerechtfertigt. Meinem Stil entspricht sie allerdings nicht. Ich wuerde immer versuchen, sie zu vermeiden.

    STAGOV Appeasement. So hat man diese Art der Politik im Westen, glaube ich, genannt.

    GORBATSCHOW Von mir aus.

    STAGOV Nach der kommunistischen Lehre tendieren die kapitalistischen Staaten zur Gewalt, weil sie ihre Herrschaft ausdehnen wollen. Wuerden Sie dem zustimmen?

    GORBATSCHOW Nein. Natuerlich versucht jede Nation, Vorteile wahrzunehmen und Fehler der anderen auszunutzen. Aber die Politik der Amerikaner in den letzten 20, 30 Jahren ist nicht aggressiver gewesen als unsere.

    WARENNIKOV Fuer das Protokoll. Im Gegensatz zu seiner frueheren Einlassung widerspricht Genosse Gorbatschow hier einem Prinzip des Leninismus.

    VERTOTSKI Welches Prinzip meinen Sie?

    WARENNIKOV Den Imperialismus.

    VORGOV Stimmen Sie dem zu? Verneinen Sie den Imperialismus des Westens?

    GORBATSCHOW Wenn Sie es so drehen wollen. Ja.

    STAGOV Jeder weiss, Kapitalisten tun unter gewoehnlichen Umstaenden massvoll und friedliebend. Aber nur solange man sie nicht am Geldverdienen hindert. Wenn es ans Eingemachte geht, ich meine, ihren Privatbesitz an den Produktionsmitteln und so weiter, haben sie keine Hemmungen, mit der Waffe auf andere loszugehen. Wie, denken Sie, sollte man auf so einen Angriff reagieren?

    GORBATSCHOW Ich sehe heute keine Grossmacht, die ernsthaft glaubt, ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen zu koennen.

    WARENNIKOV Wenn Sie sich nur nicht taeuschen.

    STAGOV Ihre Sichtweise hat sicherlich Auswirkungen auf die Aussenpolitik gehabt?

    GORBATSCHOW Sicherlich.

    VORGOV Bitte, Genosse Stagov. Zur Aussenpolitik kommen wir morgen.

    GORBATSCHOW Ich bin kuerzlich in der Schweiz gewesen und habe zufaellig einen der Soehne Herrmann Hesses kennen gelernt, das ist der Schriftsteller, der als erster Deutscher nach dem Krieg den Nobelpreis fuer Literatur bekam. Er hat ziemlich psychologische Romane geschrieben. - Der Sohn erzaehlte mir, er und alle seine Brueder seien Kommunisten gewesen und haetten den Vater wegen dessen apolitischer Innerlichkeit hart angegriffen. Der aber hat sie gewarnt und gesagt, seid euch klar, wenn ihr es ernst meint mit eurem Kommunismus, muesst ihr auf Menschen schiessen und sie umbringen. - Ich kann dazu nur sagen, hier besteht ein Missverstaendnis. Kommunismus heisst zwar, sich von den Kapitalisten zu befreien, doch dies bedeutet keineswegs physische Vernichtung.

    STAGOV Sondern?

    GORBATSCHOW Sondern Ihnen ihre Rolle als Ausbeuter zu nehmen.

    STAGOV Und sie glauben, das ist auf gewaltlosem Wege moeglich?

    GORBATSCHOW Ja. Die Aera der Gewalt ist in den zivilisierten Staaten vorbei. Es ist ein Wettbewerb der Ideen im Gange, in dem die Kommunisten nur bestehen werden, wenn sie durch praktisches Verhalten beweisen, dass sie die besseren Argumente haben.

    WARENNIKOV Ich halte es fuer ein bisschen naiv, zu glauben, die Kapitalisten wuerden die Produktionsmittel herausruecken, sobald wir sie mit unseren Ideen besiegt haben.

    GORBATSCHOW Das bleibt abzuwarten. Mit Gewalt loest man keine Probleme, man schafft sich welche. Auch mit Ihrem Staatsstreich erweisen Sie der kommunistischen Partei keinen Dienst, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Sie wird womoeglich daran zerbrechen.

    VORGOV Ich denke, wir sollten diese Diskussion jetzt beenden und zu konkreteren Dingen zurueckkehren. Hat die Staatsanwaltschaft weitere Fragen?

    STATOV Ja, ich habe noch Fragen. Sie haben vorher zugegeben, nicht nur aussenpolitisch von den Prinzipien des Marxismus-Leninismus abgewichen zu sein.

    GORBATSCHOW Habe ich das gesagt?

    STAGOV Ich meine, durch die Ereignisse des letzten Jahres.

    GORBATSCHOW Ach so, ja. Gezwungenermassen.

    STAGOV Sie sprachen von aeusseren Einfluessen. Welche waren das.

    GORBATSCHOW Die Demonstrationen im Januar, der zunehmende Einfluss Jelzins, ... ich musste Entscheidungen treffen, mit denen ich meine Gegner nicht allzu sehr vor den Kopf stiess.

    STAGOV Worum ging es bei den Demonstrationen, ich meine, aus Ihrer Sicht?

    GORBATSCHOW Die Lage war wegen der Streiks der Bergarbeiter, die die Kohleversorgung in Frage stellte, aeusserst gespannt. Ausserdem hatte es auf breiter Front Preiserhoehungen gegeben. Als sich herumsprach, dass wir in Litauen auf Zivilisten geschossen haben, wollten das viele nicht hinnehmen.

    STAGOV Hatten Sie Verstaendnis fuer diese Einstellung?

    GORBATSCHOW Teilweise schon. Die Menschen waren aufgebracht, weil sie meinten, wir wuerden zu Breschnews Gewaltmethoden zurueckkehren.

    STAGOV Wie kamen Sie zu dieser Meinung?

    GORBATSCHOW Jelzin und seine Leute haben sie mit falschen Informationen aufgehetzt.

    STAGOV Hatten Sie demnach kein Verstaendnis fuer die Demonstranten.

    GORBATSCHOW Doch. Einerseits schon.

    STAGOV Trotzdem haben Sie die Demonstration verboten.

    GORBATSCHOW Es bestand eine grosse Gefahr fuer die oeffentliche Ordnung. Die Kundgebung war viel zu spaet angemeldet worden. 150000 Menschen, die vom Majakowski-Platz den Kalmin-Prospekt entlang ziehen ...

    PUTOV Entspricht das nicht Ihrem Ideal von Demokratie? Ich meine, wenn die Menschen fuer Ihre Ansichten auf die Strasse gehen?

    GORBATSCHOW Ich fuerchtete, die Lage koennte ausser Kontrolle geraten.

    STAGOV Trauten Sie den Ordnungskraeften nicht?

    GORBATSCHOW Weder den Ordnungskraeften noch den Demonstranten.

    STAGOV Wussten Sie, dass eine der Hauptforderungen auf dieser Demonstration Ihr Ruecktritt gewesen ist?

    GORBATSCHOW Es ist so hingestellt worden, als wollte ich Panzer ins Baltikum schicken.

    STAGOV Wollten Sie?

    GORBATSCHOW Nein. Sobald ich von den Schiessereien erfuhr, befahl ich den Rueckzug. - Ausserdem wurde von den Jelzin-Anhaengern verbreitet, nur aufgrund seines Druckes werde mit den Litauern verhandelt. In Wirklichkeit hatte Jelzin ueberhaupt nichts damit zu tun. Seine ganze Politik besteht darin, dass er mich fuer alles Negative verantwortlich macht, und versucht, daraus Vorteile zu schlagen, um seinen Einfluss zu vergroessern. Er ist masslos ehrgeizig und nur an seiner Karriere interessiert.

    WARENNIKOW Ueber Herrn Jelzin brauchen Sie uns nichts zu erzaehlen. Wir kennen ihn zu genuege.

    VORGOV Genossen, es ist spaet geworden. Ich schlage vor, die Befragung fuer heute beenden.

    (Die anderen sind einverstanden. Man verlaesst die Buehne. Gorbatschow und sein Anwalt bleiben allein im Verhandlungszimmer. Vertotski blaettert in seinen Aufzeichnungen.)

    VERTOTSKI (aufblickend) Es ist sehr heiss.

    GORBATSCHOW Auf der Krim ist es im Sommer immer sehr heiss.

    VERTOTSKI Bei der Hitze faellt es einem schwer, sich auf die Fargen zu konzentrieren.

    GORBATSCHOW Finden Sie? Sie kommen aus Leningrad, nicht wahr?

    VERTOTSKI Ja.

    GORBATSCHOW Ich weiss, fuer Euch Nordlichter ist die Hitze ziemlich ungewohnt. Wer wie ich aus Suedrussland stammt ...

    VERTOTSKI Gestern haben Sie sich noch selbst darueber beklagt.

    GORBATSCHOW Ich fuehlte mich krank. Ich weiss nicht, was mit mir los war. Inzwischen geht es mir besser.

    VERTOTSKI Freut mich zu hoeren.

    GORBATSCHOW Ich denke, ich bin dem Verhoer absolut gewachsen.

    VERTOTSKI Ja, ich denke auch. Sie machen eine ziemlich gute Figur. Allerdings, eines moechte ich Ihnen noch einmal ans Herz legen.

    GORBATSCHOW Ja?

    VERTOTSKI Bitte halten Sie sich mit gewissen Aeusserungen etwas zurueck.

    GORBATSCHOW Ich wusste, dass das jetzt kommt.

    VERTOTSKI Ich mache mir nur Sorgen um Sie. Sagen Sie nicht immer alles so unverbluemt, wie Sie es denken.

    GORBATSCHOW Wir haben doch abgesprochen, dass ich eine Strategie der Offenheit verfolgen muss. Glasnost im Augenblick ihres Unterganges. (lacht) - Ich kann mich unmoeglich verteidigen, wenn ich einen Teil der Tatsachen und meiner Ueberzeugungen ausklammere. Der Ausschuss wuerde tatsaechlich ein zweifelhaftes Bild von mir gewinnen.

    VERTOTSKI Sie koennen ruhig Ihre Ueberzeugungen verteidigen. - Ich meine die Formulierungen. Mit Ihren Schroffheiten machen Sie sich angreifbar. Versuchen Sie, verbindlicher zu sein.

    GORBATSCHOW ICH bin verbindlich. Ich habe allerdings den Eindruck, dass meine Anklaeger unnachgiebig sind.

    VERTOTSKI Sie koennen es sich leisten. Sie sitzen im Moment am laengeren Hebel.

    GORBATSCHOW Meinen Sie im Ernst, man koennte Leute wie Warennikov durch einen versoehnlichen Tonfall positiv beeinflussen?

    VERTOTSKI Warennikov nicht. Aber Vorgov und Putov.

    GORBATSCHOW Was, glauben Sie, habe ich ueberhaupt zu befuerchten?

    VERTOTSKI Nun, wenn die Empfehlung des Ausschusses negativ ausfaellt ...

    GORBATSCHOW Aus meinen Aemtern haben sie mich bereits verjagt. Der Parteiausschluss ist doch nur noch Formsache.

    VERTOTSKI Es koennte ein Strafverfahren geben.

    GORBATSCHOW Was habe ich nach Ihrer Ansicht schlimmstenfalls zu erwarten?

    VERTOTSKI Warennikov will Ihnen Hochverrat nachweisen. Auf Hochverrat steht die Todesstrafe.

    GORBATSCHOW Ist das Ihr Ernst?

    VERTOTSKI Ich weiss nicht. Man wird die allgemeine politische Entwicklung abwarten muessen. Ob sich die Hardliner im Notstandskommittee durchsetzen, und wie sich die Stimmung Ihnen gegenueber entwickelt. Ich moechte Ihnen nur raten, sich etwas zurueckzuhalten mit Aeusserungen, die spaeter gegen Sie verwendet werden koennten.

    GORBATSCHOW Besten Dank fuer den freundlichen Hinweis, Herr Anwalt. Doch ich denke, ich werde bei meiner Linie bleiben. (will gehen)

    VERTOTSKI Es gibt noch einen anderen Grund, warum Sie sich in Acht nehmen sollten.

    GORBATSCHOW Was meinen Sie?

    VERTOTSKI Warennikovs Verbindung zu den Milizen.

    GORBATSCHOW Sie meinen ...

    VERTOTSKI Prokofjews Milizen. Mit denen ist nicht zu spassen, das sollten Sie wissen. Es hat konkrete Drohungen gegeben.

    GORBATSCHOW Ich kenne Prokofjew seit Jahren. Er hat in Moskau fuer die Partei gute Arbeit geleistet.

    VERTOTSKI Er ist Mitglied des Notstandskomittees und, soweit ich weiss, ziemlich unberechenbar.

     

  7. Szene
  8. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 4. TAGES: SCHLIESSEN SICH DEMOKRATIE UND KOMMUNISMUS AUS?

    VORGOV Wir haben heute schon ein grosses Programm hinter uns. Sollen wir uns auf morgen vertagen?

    STAGOV Da Prokofjew wartet, wuerde ich um ein paar Minuten fuer Prokofjew bitten. Er will in (blickt auf die Uhr) 3 Stunden nach Moskau zurueckfliegen.

    VERTOTSKI Koennten wir in diesem Fall auch noch Bakatin hoeren?

    VORGOV Einverstanden. - Der Genosse Prokofjew bitte. - (Der Wachtposten holt Prokofjew herein) - Juri Anatoljewitsch, der Ausschuss ist sehr erfreut, Sie zu sehen.

    PROKOFJEW Ganz meinerseits. Ich moechte mich entschuldigen, dass mir fuer meine Aussage nur wenig Zeit bleiben wird, da ich nachher nach Moskau zurueck muss. Eine Sitzung des Notstandskommittees ...

    VORGOV Wir haben volles Verstaendnis fuer Ihre schwierige Aufgabe. - Wollen Sie hier unter Eid aussagen?

    PROKOFJEW Ja.

    VORGOV Schwoeren Sie, dass Sie die Wahrheit sagen werden?

    PROKOFJEW Das schwoere ich.

    VORGOV Welche Stellung nehmen Sie gegenwaertig ein?

    PROKOFJEW Ich bin Politbueromitglied und Vorsitzender des Moskauer Stadtparteikommittees. Ausserdem stellvertretender Vorsitzender des staatlichen Notstandskomittees.

    VORGOV Gut. Das Verhoer kann beginnen. Bitte, Genosse Stagov.

    STAGOV Genosse Prokofjew, haben die Ereignisse dieses Jahres Sie ueberrascht?

    PROKOFJEW Welche meinen Sie?

    STAGOV Ich meine alle. Die Demonstrationen wegen unseres Vorgehens in Litauen, die Erstarkung Jelzins und jetzt die Absetzung des Generalsekretaers?

    PROKOFJEW Nein, ich war darauf vorbereitet.

    STAGOV Wie haben Sie sich vorbereitet?

    PROKOFJEW Es gab mehrere informelle Treffen mit ZK-Mitgleidern, auf denen wir den Ernst der Lage besprachen. Am bedeutungsvollsten war der 16. April dieses Jahres. In Smolensk versammelten sich Parteisekretaere aus den grossen Staedten, offiziell wegen der 50-Jahr-Feier des Kriegsbeginns.

    STAGOV Und inoffiziell?

    PROKOFJEW Inoffiziell haben wir den Parteifunktionaeren des Gebiets Smolensk gratuliert, weil sie bisher von der Perestroika weitgehend verschont geblieben sind. - Aber im Ernst. Wir haben uns im kleinen Kreis zusammengesetzt und besprochen, was man tun konnte.

    STAGOV Zu welchen Schluessen sind Sie gekommen?

    PROKOFJEW Oh, wir haben alles moegliche erwogen. Hauptsaechlich wurde gefordert, einen ausserordentlichen Parteitag einzuberufen, um Gorbatschow abzusetzen.

    STAGOV Dazu ist es nicht gekommen.

    PROKOFJEW Nein, wir konnten in dieser Hinsicht keine gemeinsame Linie finden. Inzwischen sind wir ja von der Realitaet ueberholt worden.

    STAGOV Haben die Gespraeche am 16. April ueberhaupt ein greifbares Ergebnis gebracht?

    PROKOFJEW Ja. Wir haben ein Papier zusammengestellt, das als Antrag fuer das offizielle ZK-Plenum Ende April gedacht war.

    STAGOV Was stand darin?

    PROKOFJEW Es trug den Titel 'Vorschlaege fuer ausserordentliche Massnahmen zur Rettung des Landes' und war ein Beschlussentwurf, der sich grundsaetzlich gegen bestimmte Auswuechse der Reformen richtete.

    GORBATSCHOW Der das gesamte Antikrisenprogramm der Regierung ausgehebelt haette. Die Partei durfte unter keinen Umstaenden ...

    STAGOV Bitte Genosse, Sie sind jetzt nicht an der Reihe.

    (Putov fluestert mit Vorgov)

    VORGOV Genosse Prokofjew, Genosse Stagov, haben Sie etwas dagegen, wenn wir voruebergehend ein Streitgespraech zulassen? Oberst Putov schlaegt dies vor, um ein objektiveres Bild von den Auseinandersetzungen in der Partei zu gewinnen.

    PROKOFJEW Also, ich habe ueberhaupt nichts dagegen.

    VORGOV Gut. Genosse Gorbatschow, was wollten Sie sagen?

    GORBATSCHOW Meinen Dank an den Oberst. So kann ich gewissen Behauptungen gleich entgegen treten. Ich wollte sagen, die Abweichler hatten meines Erachtens nur ihre eigenen Interessen im Kopf. Sie haetten aber damit alles durcheinander gebracht und die Wirtschaft lahmgelegt. Das Gesetz war bereits vom obersten Sowjet angenommen worden.

    PROKOFJEW Mit ziemlich fragwuerdigen Methoden.

    GORBATSCHOW Was meinen Sie?

    PROKOFJEW Bei der Abstimmung im obersten Sowjet ist mit ziemlich fragwuerdigen Methoden operiert worden.

    STAGOV Koennen Sie Ihre Vorwuerfe praezisieren?

    PROKOFJEW Parlamentarier sind massiv unter Druck gesetzt worden. Nein-Stimmen sind ungueltig erklaert und Enthaltungen als Ja-Stimmen gewertet worden.

    PUTOV Ich erinnere mich an diese Vorwuerfe.

    VERTOTSKI Einspruch. Das sind unbewiesene Behauptungen.

    GORBATSCHOW Der Parlamentspraesident hat damals die Mehrheit der Stimmen eindeutig festgestellt. Davon abgesehen: Das Antikrisenprogramm war unbedingt noetig, um die Handlungsfaehigkeit der Regierung sicherzustellen. Der Staat war praktisch zahlungsunfaehig. Nicht auszudenken, was geschehen ware, wenn die Partei im April Prokofjews unverantwortlichen Vorschlaegen zugestimmt haette.

    VORGOV Hat sie nicht zugestimmt?

    GORBATSCHOW Gluecklicherweise nicht. Sie ...

    PROKOFJEW Gorbatschow schien den Inhalt des Papiers im Voraus zu kennen und hatte sich gewappnet. Er ...

    GORBATSCHOW Es wurde mir vor dem Plenum zugespielt, so dass ich entsprechende Massnahmen treffen konnte. Allerdings muss ich sagen, ich habe durchaus mit meiner moeglichen Absetzung oder einer Spaltung der Partei gerechnet.

    VORGOV Was genau ist passiert?

    GORBATSCHOW Am ersten Tag des Plenums, es muss der 30. April gewesen sein, war die Stimmung sehr aufgeheizt. Von vielen Seiten wurden masslose Forderungen erhoben. Stalinisten und Demokraten bildeten eine unheilvolle Allianz und spielten sich gegenseitig die Baelle zu. Als mich dann einige Redner in scharfer Form persoenlich angriffen, hatte ich die Nase voll. Ich habe meinen Ruecktritt als Parteivorsitzender erklaert.

    PUTOV Was geschah dann?

    GORBATSCHOW Es gab Tumulte. In einer Sitzungspause kam das Politbuero zusammen. Ich war nur kurz anwesend und sagte ziemlich wuetend, Mitglieder des Politbueros, besonders Prokofjew, haetten auf meinen Ruecktritt hingearbeitet. Dann zog ich mich in mein Arbeitszimmer zurueck.

    PUTOV Warum ist Ihr Ruecktritt dann doch nicht wirksam geworden?

    GORBATSCHOW Viele Politbuero- und ZK-Mitglieder stellten sich auf meine Seite. Sie verurteilten die Angriffe auf mich kategorisch und forderten mich auf, weiter zu machen. Ihr Antrag ist dann mit ungefaehr 70 zu 20 Stimmen angenommen worden, bei einem Dutzend Enthaltungen. Danach entspannte sich die Athmosphaere. Die Anhaenger des alten Systems hatten verloren.

    PROKOFJEW Wir haben noch versucht, einige Leute umzustimmen, aber vergeblich. Nachts hielten wir Beratungen ab. Wir waren verzweifelt. Mit dem Land geschah etwas, was nicht einmal unsere Feinde vermocht hatten. Trotzdem lief die Mehrheit wie die Lemminge hinter dem Generalsekretaer her.

    PUTOV War dies der einzige parteiinterne Versuch, Gorbatschow zu stuerzen?

    PROKOFJEW Der einzige ernstzunehmende. Vorher ist Kritik im ZK meist nur verhalten geaeussert worden; und danach ... nun, das Aprilplenum hat den sogenannten Reformen noch einmal ziemlichen Auftrieb gegeben.

    STAGOV Genosse Prokofjew, eine letzte Frage. Haben Sie eine Erklaerung fuer den Eifer, mit dem Gorbatschow seine Reformen betrieben hat?

    PROKOFJEW Nein. Eigentlich nicht.

    STAGOV Koennen Sie sich vorstellen, dass eine fremde Macht ihn in der Hand gehabt hat?

    PROKOFJEW Durchaus denkbar. Ich meine, was sein Vorgehen angeht. Da koennte man schon auf den Gedanken kommen.

    STAGOV Haben Sie Beweise oder wenigstens Hinweise fuer diese Vermutung?

    PROKOFJEW Nein. Nicht den geringsten.

    STAGOV Auch keine Geruechte, Dinge, die Ihnen von Dritten zugetragen worden sind.

    PROKOFJEW Geruechte ... also Geruechte gab es. Zum Beispiel soll er sich vor und nach ZK-Sitzungen telefonisch mit dem amerikanischen Botschafter beraten haben.

    STAGOV Wenn Sie sagen: Geruechte, heisst das, Sie koennen das bestaetigen, oder nicht bestaetigen?

    PROKOFJEW Ich weiss nicht. Einmal gab es eine ZK-Konferenz, auf der wegen unseres Vorgehens in Deutschland heftig debattiert wurde. Wir versuchten, ihn zu ueberzeugen, die DDR nicht aus dem Warschauer Buendnis zu entlassen. In einer Sitzungspause zog er sich mit seinen Getreuen in ein Nebenzimmer zurueck.

    STAGOV Was ist daran so bemerkenswert?

    PROKOFJEW Als ich zufaellig an dem Zimmer vorbeiging, war die Tuer offen und auf einer Tafel standen auslaendische Namen, vor allem englische. Wie man mir sagte, handelte es sich um Mitglieder der englischen und amerikanischen Mission in Moskau und Berlin.

    STAGOV Wer sagte Ihnen das?

    PROKOFJEW Ein Kollege aus dem Politbuero.

    STAGOV Und was schlossen Sie daraus?

    PROKOFJEW Ich zog keine besonderen Schluesse. Es ist jedoch kolportiert worden, er habe Befehle fuer sein weiteres Vorgehen in Empfang genommen. (Gorbatschow lacht)

    VERTOTSKI Herr Stagov, darf ich dem Zeugen eine Zwischenfrage stellen.

    STAGOV Eine Sekunde. Ich moechte zuerst hoeren, was dann geschah. Genosse Prokofjew?

    PROKOFJEW Man kann nicht beweisen, ob es einen Zusammenhang gibt; aber seine Konferenzstrategie aenderte sich schlagartig. Er gab den Kritikern in einigen wesentlichen Punkten nach, so dass er die Mehrheit auf seine Seite brachte. Es wurde ein Protokoll verabschiedet, mit dem alle Seiten leben konnten, das aber im Endeffekt Gorbatschow und seinen Leuten in die Haende spielte, weil es ihnen Zeit gab, vollendete Tatsachen zu schaffen.

    STAGOV (zu Vertotski) Ihr Zeuge.

    VERTOTSKI Glauben Sie tatsaechlich, dass er sich von den Amerikanern Befehle geholt hat?

    PROKOFJEW Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht.

    VERTOTSKI Halten Sie es nicht fuer denkbar, dass er sich nur mit ihnen kurzgeschlossen hat, um Informationen auszutauschen?

    PROKOFJEW Ja. Durchaus denkbar.

    VERTOTSKI Angenommen, der Generalsekretaer haette mit den Amerikanern konspiriert. Glauben Sie, er haette ihre Namen offen an die Tafel geschrieben?

    PROKOFJEW Wahrscheinlich nicht. Aber ...

    VERTOTSKI Vielen Dank. Das genuegt mir schon.

    STAGOV Wir koennten Gorbatschow selbst fragen. (wendet sich Gorbatschow zu). Erinnern Sie sich an den Vorfall?

    GORBATSCHOW Ich erinnere mich sehr gut. Aber ich weigere mich, auf diese absurden Anschuldigungen einzugehen.

    STAGOV Es war von Geruechten die Rede. Ich wollte Sie lediglich um Ihre Sicht der Dinge bitten.

    GORBATSCHOW Kein Kommentar.

    VERTOTSKI Mein Mandant bestreitet diese Vorwuerfe, die auf Nichts als Spekulationen beruhen, aufs Entschiedenste.Es ist wohl klar, dass er in den kritischen Phasen der Wiedervereinigung mit den Westmaechten Kontakt halten musste.

    STAGOV Ich habe noch eine Frage an den Genossen Prokofjew.

    VORGOV Bitte.

    STAGOV Genosse, koennten Sie uns etwas zur Persoenlichkeit Gorbatschows sagen. Gibt es eventuell eine psychologische Erklaerung fuer seinen Reformeifer?

    PROKOFJEW Ich fuerchte, ich kann dazu wenig beitragen. Fuer mich ist der Generalsekretaer als Person schwer durchschaubar. Vielleicht, weil Vorgesetzte immer schwer durchschaubar sind. Er muss aber einen seltsamen und widerspruechlichen Charakter haben. Einerseits empfindlich und schwaechlich und bei den geringsten Angriffen zum Ruecktritt bereit. Andererseits unermuetlich bestrebt, das sozialistische System von oben her auszuhoehlen. - Er hat es in 6 Jahren geschafft, aus unserer kerngesunden Partei, die die Gesellschaft vollstaendig geleitet und kontrolliert hat, einen Haufen verzagter Verlierer zu machen, die selbst jetzt, im Augenblick seines erzwungenen Abganges, gegenueber anderen Kraeften womoeglich ins Hintertreffen geraet.

    GORBATSCHOW Ich wollte der KPdSU ein frisches Programm geben, und sie von der Macht der Buerokraten befreien.

    PROKOFJEW Sind wir nicht alle Buerokraten? Auch wenn wir uns das schoenste Programm geben. Eine Parteiorganisation wie unsere muss eine Verwaltungsmaschine sein.

    GORBATSCHOW Aber die Buerokratie sollte auf ein Minimum beschraenkt und nur Mittel zum Zweck sein. Und sie sollte andere Ziele als den puren Machterhalt haben.

    PROKOFJEW Die Partei und ihre Sekretaere muessen besondere Macht haben, sonst bricht unser Staat auseinander.

    GORBATSCHOW Nicht zuviel Macht. Sonst vernachlaessigen sie die eigentlichen Aufgaben.

    STAGOV Was, meinen Sie beide, sind die Aufgaben einer kommunistischen Partei?

    PROKOFJEW Ich wuerde sagen, ein Dreigestirn: die Errungenschaften der Revolution sichern, die Produktionsmittel im Sinne des Proletariats verwalten, die Gesellschaft anfuehren.

    GORBATSCHOW Fuer das hoechstmoegliche Wohl der Bevoelkerung sorgen. Wobei Wohl einerseits bedeutet Lebensstandard, andererseits auch eine mentale Komponente hat, also Zufriedenheit und Glueck. - Vor allem muss sich die Partei modernen Bedingungen anpassen. Was frueher nicht moeglich war, ein gehoeriges Mass an Freiheit, halte ich in der heutigen Zeit fuer vertretbar, ja notwendig.

    STAGOV Koennte dieses Anpassen beispielsweise bedeuten, sich an den sozialdemokratischen Parteien des Westens zu orientieren?

    GORBATSCHOW Beispielsweise.

    WARENNIKOW Was Sie vorschlagen, die Entmachtung der Buerokratie, die Hinwendung zur Sozialdemokratie, usw ... Wuerden Sie sagen, das ist mit den Statuten der Partei vertraeglich?

    PROKOFJEW (unterbricht) Natuerlich nicht. Es steht in eklatantem Widerspruch zu allen Prinzipien des Marxismus-Leninismus.

    WARENNIKOW (wendet sich an Prokofjew) Kann nach Ihrer Meinung jemand mit solchen Vorstellungen Vorsitzender einer kommunistischen Partei sein?

    PROKOFJEW Nicht einmal gewoehnliches Mitglied, denke ich.

    GORBATSCHOW Koennte ich dazu auch etwas sagen?

    VORGOV Natuerlich.

    GORBATSCHOW Im Juli, beim letzten ZK-Plenum, ist das neue Programm der KPDSU verabschiedet worden, wo wir die Reformen ein fuer allemal festgeschrieben haben. Ein grosser Sieg fuer die Perestroika.

    PROKOFJEW Eine Niederlage fuer uns, zugegeben.

    GORBATSCHOW Meine Ideen sind somit durchaus im Einklang mit den Parteistatuten.

    PROKOFJEW Die Aenderungen sind keineswegs so weitgehend wie Sie behaupten. Ausserdem wird das neue Programm keinen Bestand haben. (Er blickt auf die Uhr.)

    VORGOV (raeuspert sich) Oberst Putov, ich denke, wir haben den beiden Kontrahenten genug Gelegenheit fuer einen Schlagabtausch gegeben. (Putov nickt.) - Hat der Staatsanwalt noch Fragen? (Stagov schuettelt den Kopf) - Nein, dann erteile ich dem Verteidiger das Wort. Herr Vertotski, bitte.

    VERTOTSKI Herr Prokofjew, seit wann sind Sie Politbueromitglied?

    PROKOFJEW Seit Januar 1990.

    VERTOTSKI Also erst seit anderthalb Jahren.

    PROKOFJEW Ja.

    VERTOTSKI Hat Herr Gorbatschow ihre Ernennung behindert oder gefoerdert?

    PROKOFJEW Das letztere.

    VERTOTSKI Warum, glauben Sie, hat er Sie gefoerdert?

    PROKOFJEW Er hielt mich fuer geeignet, nehme ich an.

    VERTOTSKI Es gibt in der Partei viele faehige Leute. Warum gerade Sie?

    PROKOFJEW Ich weiss nicht. Wahrscheinlich war er mit meiner Arbeit in der Hauptstadt zufrieden. Als Gegengewicht zu Jelzin, meine ich.

    VERTOTSLI Koennte es sein, dass Sie sein besonderes Vertrauen genossen?

    PROKOFJEW Koennte wohl sein.

    VERTOTSKI Herr Prokofjew, was verstehen Sie unter 'Loyalitaet'?

    STAGOV Einspruch, Genosse Vorsitzender. Ich sehe nicht, wieweit dies zur Sache gehoert.

    VORGOV Einspruch stattgegeben.

    VERTOTSKI Gut, dann anders gefragt: Wann, denken Sie, hat der Generalsekretaer aufgehoert, Ihnen zu vertrauen.

    PROKOFJEW Das muessen Sie ihn schon selber fragen.

    VERTOTSKI Wann haben Sie sich zum ersten Mal offen gegen ihn gestellt? (Prokofjew ueberlegt.) - Vielleicht erst im April?

    PROKOFJEW Vielleicht.

    VERTOTSKI Warum so spaet? Hatten Sie sich Ihre Meinung zur Perestroika nicht bereits viel frueher gebildet?

    PROKOFJEW Durchaus. Ich war schon immer ein Gegner gewisser Auswuechse der Reformen. Privatisierung, Pressefreiheit, Wahlen ... von all dem halte ich nicht viel. Dennoch war meine Abkehr ein schleichender innerer Prozess.

    VERTOTSKI Wann begann Ihre innere Abkehr von der Perestroika?

    PROKOFJEW Definitiv im Laufe des letzten Jahres. Ich erkannte, dass es so nicht weitergehen kann, dass das Land vor die Hunde geht ...

    VERTOTSKI Wann haben Sie beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen.

    PROKOFJEW Nach den Januar-Demonstrationen. Wenn ein Demonstrationsverbot erlassen wird, und niemand haelt sich daran, das ist fuer mich der Beginn der Anarchie. Wir vom Parteiapparat standen damals unheimlich unter Druck.

    VERTOTSKI Inwiefern?

    PROKOFJEW Die Demonstranten drohten, unsere Zentrale zu stuermen. Wir haben die Drohung sehr ernst genommen und alle erdenklichen Vorsichtsmassnahmen getroffen. Tatsaechlich konnten wir sie abwehren. Doch als alles vorbei war, habe ich mir geschworen: in so eine Situation willst du nie wieder kommen. Darum habe ich in Smolensk die Initiative ergriffen.

    VERTOTSKI War das auch der Zeitpunkt, an dem Sie Ihre beruehmte Eingreiftruppe zusammengestellt haben?

    PROKOFJEW So ist es.

    VERTOTSKI Koennen Sie uns etwas mehr darueber sagen?

    PROKOFJEW Nun, wir kamen auf die Idee, uns in Zukunft von kommunistisch gesinnten Soldaten beschuetzen zu lassen. Es haben sich spontan eine ganze Reihe von Offizieren gemeldet. Wir haben die besten ausgewaehlt und eine Elitetruppe zusammengestellt, die der Partei treu ergeben ist.

    PUTOV Eine Zwischenfrage. Ist das die Truppe, die fuer den Zwischenfall am Zetkin-Ufer verantwortlich ist?

    PROKOFJEW Sie ist keineswegs verantwortlich.

    PUTOV Sagen wir verwickelt. Die in den Zwischenfall am Zetkin-Ufer verwickelt war.

    PROKOFJEW Ja.

    VERTOTSKI Und es ist die Truppe, die im Mai vom Polizeipraesidenten verboten wurde?

    PROKOFJEW Der Polizeipraesident ist vorgestern entlassen worden.

    VERTOTSKI Ist diese Truppe nicht eine Art illegale paramilitaerische Vereinigung?

    PROKOFJEW Diese Truppe wird der Kern einer neuen Roten Armee sein, auf die sich die Partei wahrhaft verlassen kann, und die auch diffizile Operationen mit der noetigen Verve durchfuehrt.

    VORGOV Herr Verteidiger, ich weiss nicht, was Sie mit Ihren Fragen bezwecken.

    VERTOTSKI Es geht mir darum, zu zeigen, dass nicht Gorbatschow, sondern seinen Gegnern Gesetzesverstoesse anzulasten sind.

    VORGOV Es geht hier nicht um die Gegner. Es geht nur um den ehemaligen Generalsekretaer.

    VERTOTSKI Also gut. Herr Prokofjew, Sie sagen, nach den Januardemonstrationen haben Sie sich von Gorbatschow abgewandt. Vor zehn Minuten haben Sie ausgesagt, bereits vor Smolensk geheime Treffen organisiert zu haben.

    PROKOFJEW Ich sagte: spaetestens im Januar.

    VERTOTSKI Sie haben Ihr Interesse am Wohlergehen unseres Landes betont. War es nicht vielmehr so, dass Sie an Ihrem eigenen Wohlergehen interessiert waren?

    PROKOFJEW Nein, keineswegs.

    VERTOTSKI Aber durch die Aufhebung des Parteimonopols liefen die regionalen Parteisekretaere Gefahr, ihre bis dato absolute Kontrolle ueber ihre Provinz zu verlieren. Frueher war der Vorsitzende des Moskauer Parteikommittees der Herrscher der Stadt. Heute hat er gegenueber dem gewaehlten Buergermeister das Nachsehen.

    PROKOFJEW Die Parteisekretaere werden ebenfalls gewaehlt, wie Sie wissen sollten. Von den Parteigliederungen. Und da kann ich Ihnen sagen: die Forderungen, Gorbatschow abzusetzen, gingen keineswegs nur von den Regionsvorsitzenden aus, sondern die Kritik kam von unten. Auf den lokalen Plenartagungen haben ganz normale Parteimitglieder das Ende der Perestroika verlangt. Unsere Haltung spiegelte die Stimmung der einfachen Kommunisten.

    VERTOTSKI Ein Hauptpunkt in Ihrem Entwurf fuer das Aprilplenum war, die Rechte anderer Parteien stark zu beschneiden.

    PROKOFJEW Wir wollten fuer die KPdSU den Status der Regierungspartei gesetzlich verankern. Was ist verwerflich daran?

    VERTOTSKI Nicht nur das. Sie wollten das gesamte System der Fuehrungskader und die Kontrolle der Massenmedien durch die Partei wiederherstellen.

    PROKOFJEW Wir meinten, nur so liesse sich die ausufernde Anarchie eindaemmen.

    GORBATSCHOW Ihr wolltet Eure Pfruende sichern.

    PROKOFJEW Das siehst du ganz falsch. Du solltest verstehen, verdiente Leute fuerchteten, dass unser Land im Chaos untergeht.

    GORBATSCHOW Ich finde es bemerkenswert, dass eure Aktionen immer zeitgleich mit den Aufrufen der Jelzinanhaenger erfolgten, mich zu stuerzen.

    PROKOFJEW Ich weiss, du wirfst uns Verschwoerung vor. Absurd! Wir haben mit denen nichts gemein. Richtig ist hoechstens, man haengt sich manchmal automatisch aneinander, wenn man einen maechtigen gemeinsamen Gegner hat, das ist ein ganz natuerlicher Vorgang. Aber von unserer Seite, ich meine von der Seite der Partei, wird es kein Buendnis mit den Demokraten geben.

    GORBATSCHOW Man sollte hier einmal die ganzen Raenke und Anfeindungen aufzaehlen, denen ich ...

    VORGOV Genosse! Sie hatten bereits Gelegenheit, sich zu aeussern. Die Befragung des Zeugen obliegt ihrem Anwalt. - Herr Vertotski.

    VERTOTSKI (bespricht sich kurz mit Gorbatschow) Keine Fragen mehr, Herr Vorsitzender.

    VORGOV Dann moechte ich mich bei dem Genossen fuer sein Erscheinen bedanken. Wir wuenschen ihm viel Glueck bei seinen schwierigen Aufgaben.

    PROKOFJEW Auf Wiedersehen. (Er verlaesst die Buehne.)

    VORGOV Als naechstes bitte ich den Zeugen Bakatin herein. (Bakatin wird hereingefuehrt.) - Sie sind Wadim Viktorowitsch Bakatin, wohnhaft in Moskau, letzter, das heisst vorletzter Innenminister der UdSSR. Ist das richtig?

    BAKATIN Richtig.

    VORGOV Sind Sie bereit, vor dem Untersuchungsausschuss auszusagen?

    BAKATIN Ja.

    VORGOV Ist Ihre Aussage freiwillig?

    BAKATIN Ich bin nicht ganz freiwillig hier, falls Sie das meinen.

    VORGOV Nein. Wir wissen, dass Sie sich geweigert haben, in Moskau ins Flugzeug zu steigen. Was ich meine ist, ob Sie bezueglich des Inhaltes Ihrer Aussagen in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt wurden.

    BAKATIN Nicht dass ich wuesste.

    VORGOV Wollen Sie ihre Aussagen unter Eid machen?

    BAKATIN Das ist mir egal, gelinde gesagt.

    VORGOV Wir wuerden es vorziehen. In Ordnung? (Bakatin nickt) Gut, dann schwoeren Sie, dass Sie vor diesem Ausschuss die Wahrheit sagen werden, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

    BAKATIN Ich schwoere.

    VORGOV Bitte Herr Vertotski.

    VERTOTSKI Doktor Bakatin, in welchem Zeitraum waren Sie Innenminister?

    BAKATIN Von Maerz 1989 bis zum Februar diesen Jahres.

    VERTOTSKI Als Innenminister waren Sie massgeblich an der Umsetzung von Perestroika und Glasnost beteiligt.

    BAKATIN Also ... massgeblich? Nein, ich denke, dazu war ich nicht lange genug im Amt.

    VERTOTSKI Trotzdem ist gesagt worden, Sie seien der wahre Motor der Perestroika ...

    BAKATIN Das halte ich fuer uebertrieben.

    VERTOTSKI Aber sie waren in einer Zeit Innenminister, als sich die Reformen noch einmal erheblich beschleunigten.

    BAKATIN Das ist richtig.

    VERTOTSKI ... ein Antreiber, dem alles nicht schnell und nicht weit genug ging.

    BAKATIN Kann man sagen.

    VERTOTSKI Was sind in Ihren Augen die Kernpunkte der Reformen?

    BAKATIN Zum einen vollstaendige Demokratisierung. Und zwar nicht nur als Basis, damit die Wirtschaft besser funktioniert, sie wissen schon, dieses Gerede, muendige Buerger sind die besseren Konsumenten, und so weiter. Sondern Demokratisierung heisst fuer mich viel mehr.

    VERTOTSKI Naemlich?

    BAKATIN Zum einen als ein Zweck an sich, weil sie das Leben der Menschen bereichert. Wobei ich ueber die westlichen Vorstellungen von Demokratie hinausgehen wuerde.

    VERTOTSKI Inwiefern?

    BAKATIN Die westliche Demokratie ist fuer mich durchaus kein Vorbild. Wir hatten eine Arbeitsgruppe, in der das westliche System studiert wurde.

    VERTOTSKI Was ist dabei herausgekommen?

    BAKATIN Der dortige Parlamentarismus bedeutet letztlich, dass sich eine Minderheit, naemlich die Abgeordneten, ueber die Mehrheit hinwegsetzt. Mit subtilen Methoden, zugegeben, aber in gewisser Weise ist es nicht viel anders als bei uns ...

    VERTOTSKI Bei uns sind die Sowjets an das imperative Mandat gebunden.

    BAKATIN Imperatives Mandat hin oder her. Die Parlamentarier scheren sich weniger um das Wohl der Bevoelkerung als um ihr eigenes. Oft werden sie obendrein von Interessengruppen beeinflusst, von den Lobbyisten der grossen Konzerne usw. Ganz egal, welches Parlament Sie sich anschauen, viele Entscheidungen kommen undemokratisch und irrational zustande, auch wenn sie formal demokratischen Regeln gehorchen.

    VORGOV Wie sollten denn nach Ihrer Meinung Entscheidungen zustande kommen?

    BAKATIN Auf dem Hintergrund der Freiheit, aber einer qualifizierten Freiheit, die mehrere Bedingungen erfuellen muss.

    VORGOV Die waeren?

    BAKATIN Zum einen, sie muss eine Freiheit des Individuums sein, nicht nur des Kollektivs. Nonkonformistisch, wuerde ich sogar sagen. Zum zweiten, sie muss autonom sein, das heisst, sekundaere politische Umstaende koennen mich nicht davon abbringen, sie auszuueben. Sie wird nur durch meine Verantwortung gegenueber den Mitmenschen eingeschraenkt. Zum dritten, jeder hat Anspruch auf sie, nicht nur eine Minderheit. Jeder besitzt sie in gleicher Weise, und damit ist sie die ideale Voraussetzung fuer den Kommunismus.

    WARENNIKOV Demokraten und Kommunisten sind Feinde. Normalerweise sind sie sich nur in einem Punkt einig, naemlich darueber, dass Demokratie und Kommunismus sich ausschliessen. Und nun kommen Sie daher und behaupten das Gegenteil.

    BAKATIN Ich fuerchte, hier liegt eine Begriffsverwirrung vor. Wenn ich von Demokratie oder vom Kommunismus rede, meine ich etwas voellig anderes als Sie. Unter Kommunismus verstehe ich nicht die stalinistische Diktatur, die uns jahrzehntelang geknechtet hat. Und wenn ich von Demokratie rede, meine ich nicht das politische System, das sich der Kapitalismus gegeben hat.

    VERTOTSKI Sondern?

    VORGOV Was er meint, ist das Wolkenkuckucksheim. - Im Ernst, glauben Sie wirklich, Ihre Vorstellungen lassen sich realisieren?

    BALATIN Es kommt auf den Versuch an.

    VORGOV Die Menschen koennten mit Ihrer Art von Freiheit gar nicht umgehen, und die allermeisten legen auch gar keinen Wert darauf.

    BAKATIN Ihnen ist natuerlich daran gelegen, diesen Versuch zu verhindern, weil er Ihre Rolle ueberfluessig machen wuerde.

    VORGOV Er wuerde ungluecklich enden, fuer uns alle.

    BAKATIN Besonders fuer die Machthaber, das ist klar.

    VORGOV Also, ich denke, wir sollten die Diskussion beenden und zum Thema zurueckkommen.

    PUTOV Entschuldigen Sie, ich haette eine Zwischenfrage an den Generalsekretaer.

    VORGOV Bitte.

    PUTOV Genosse Gorbatschow, koennen Sie den seltsamen Ideen ihres ehemaligen Ministers etwas abgewinnen?

    GORBATSCHOW Nein, ich hielt ihn in dieser Hinsicht immer fuer einen Traeumer.

    PUTOV Wie sind sie darauf gekommen, ihn zum Innenminister zu machen?

    GORBATSCHOW Er ist ein exzellenter Jurist.

    PUTOV Es gibt in Moskau viele exzellente Juristen.

    GORBATSCHOW Nicht so viele wie Sie denken. Zu einem guten Juristen gehoert mehr als Paragraphenverstand und ein Praedikatsexamen. Ein guter Jurist weiss um die Grenzen des Rechtes, und er erhaelt sich gewisse Traeume.

    PUTOV Meinen Sie nicht, seine Arbeit wuerde darunter leiden?

    GORBATSCHOW Nein, ganz im Gegenteil.

    PUTOV Danke, Genosse.

    VERTOTSKI Doktor Bakatin, warum, glauben Sie, kann selbst ein Reformer wie Gorbatschow Ihren Ideen nicht folgen?

    BAKATIN Nun, Gorbatschow ... ist eben Gorbatschow. Er ist ein bedeutender Neuerer, aber im alten System gross und maechtig geworden. Er hat die Prozesse in Gang gesetzt, mit denen wir uns befreien konnten; aber es ist kaum zu erwarten, dass jemand wie er Visionen verwirklicht.

    VERTOTSKI Was ich meinte, war die Frage, wie sich Gorbatschow gegenueber Ihren Ideen verhielt. Koennen Sie bestaetigen, dass er sie ablehnte?

    BAKATIN Ja. Ihm gingen sie viel zu weit. Er hatte oder hat etwas anderes im Sinn, eine Art Kombination von Marktwirtschaft und Kommandosystem, wobei er sich aus Beidem das Beste herauspicken wollte.

    VERTOTSKI Was hielten sie von dieser Idee?

    BAKATIN Ich fand sie besser als alles, was bisher dagewesen ist.

    VERTOTSKI Hat Gorbatschow Ihrer Ansicht nach je einen Verfassungsbruch begangen?

    BAKATIN Nein. Er hat sich immer peinlich an die Gesetze gehalten. Wie ich schon sagte, er war viel zu befangen im alten System, um die Grundlagen anzutasten. Ausserdem wusste er, dass man ihm einen Strick daraus drehen konnte.

    PUTOV Gestatten Sie mir noch eine Zwischenfrage?

    VERTOTSKI Ja, bitte, selbstverstaendlich.

    PUTOV Sie sagten, Gorbatschow habe niemals Verfassungsbruch begangen. Trotzdem hat es gerade in letzter Zeit Entwicklungen gegeben, die die Verfassung unseres Landes beschaedigt haben. Ich denke an die vielen neuen Gesetze, an die Aufloesung der Sowjetunion als Bundesstaat ...

    BAKATIN Es hat sich eine Dynamik entwickelt, die er nicht mehr im Griff hatte. Er hat die Kontrolle ueber das Staatswesen verloren. Dafuer kann man ihn nicht direkt verantwortlich machen kann.

    PUTOV Indirekt schon?

    BAKATIN Indirekt haengt der Zerfall der Sowjetunion sicher mit der Perestroika zusammen. Voelker machen sich gern selbststaendig, besonders wenn man sie jahrzehntelang geknebelt hat.

    PUTOV Muss ein Praesident nicht versuchen, den Zerfall seines Staates aufzuhalten?

    BAKATIN Das waere nur mit Gewalt moeglich gewesen; und ich glaube nicht, dass Gewaltanwendung mit der Verfassung im Einklang ist. - Uebrigens, der Zerfall der Sowjetunion, der fuer Sie vielleicht schmerzhaft ist, ist fuer die Weiterentwicklung der Reformen meines Erachtens von grossem Vorteil.

    VERTOTSKI Ihre Meinung in Ehren. Aber hier interessieren wir uns fuer Gorbatschows Intentionen. - Bei dem, was Sie sagen, hoere ich ein bisschen heraus ..., das heisst, ich habe den Eindruck, er haette sich einen weniger durchschlagenen Erfolg seiner Reformen gewuenscht.

    BAKATIN Mit Sicherheit. Er waere mit einem Kommandosystem mit ein paar demokratischen Elementen zufrieden gewesen, mit sich selbst als Praesident und einer eher unkritischen Oeffentlichkeit.

    VORGOV Warum hat er es nicht dabei belassen, sondern die Politik mit immer neuen Gesetzen verunsichert?

    BAKATIN Die Welle, die er losgetreten hatte, liess sich nicht aufhalten, selbst wenn er gewollt haette. Ihm blieb gar nichts uebrig, als sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Wobei ihm Jelzin zunehmend die Show gestohlen hat.

    VERTOTSKI Apropos Jelzin. Wie kamen Sie eigentlich mit Jelzin zurecht? Gab es mit ihm mehr Beruehrungspunkte als mit Gorbatschow? Ich meine sowohl menschlich als auch ideologisch.

    BAKATIN Nein. Weder menschlich noch ideologisch. Ideologisch ist er vielleicht eine Art Demokrat. Aber menschlich ... also, er ist jemand, dem es nicht um die Sache geht. Er will an die Macht, das ist alles.

    VERTOTSKI Ich schliesse aus Ihren Worten, dass Sie Gorbatschow naeher als Jelzin stehen.

    BAKATIN Ja. Viel naeher.

    VERTOTSKI Trotzdem sind Sie im Februar als Innenminister zurueckgetreten.

    BAKATIN Ja.

    VERTOTSKI Koennen Sie uns erklaeren, warum?

    BAKATIN Die Erklaerung ist ganz einfach. Die Demonstrationen im Januar haben Michail schwer verunsichert, und er wollte sie kurzerhand verbieten. Ich war dagegen. Da ich ihn nicht ueberzeugen konnte, bin ich gegangen.

    VERTOTSKI War diese Reaktion nicht ueberzogen?

    BAKATIN Hoeren Sie! Demonstrationsfreiheit ist ein Eckpfeiler der Demokratie.

    VERTOTSKI Gorbatschow hat ausgesagt, er befuerchtete Unruhren.

    BAKATIN Natuerlich wussten wir, dass Jelzin versuchen wuerde, die Empoerung der Leute fuer sich zu instrumentalisieren. Und dennoch, ich kann mir nur wenige Situationen vorstellen, wo ich eine Manifestation verbieten wuerde, zum Beispiel Progrome, wenn ein nationalistischer Mob pruegelnd durch die Strassen zieht, da muesste man einschreiten. Aber nicht bei einer Demonstration gegen Menschenrechtsverletzungen durch unsere Truppen im Baltikum.

    VERTOTSKI Billigte Gorbatschow demnach das Vorgehen im Baltikum?

    BAKATIN Das kann man so nicht sagen. Soweit ich weiss, war er anfangs nicht hundertprozentig informiert. Vielleicht wollte er auch nicht so genau informiert sein.

    VERTOTSKI Wie meinen Sie das?

    BAKATIN Er hatte mehr als genug Schwierigkeiten am Hals. Und die Militaers haben ihm erzaehlt, die Probleme in Litauen seien unter Kontrolle. Als es dann lichterloh brannte, musste er natuerlich eingreifen.

    VERTOTSKI Sie sagen, er musste eingreifen. Hat er sich dabei illoyal gegenueber unseren Truppen verhalten; ich meine, hat er sie kritisiert oder gar eines Verbrechens beschuldigt?

    BAKATIN Nein. Sobald er sah, was vor sich ging, hat er ihnen befohlen, sich in die Kasernen zurueckzuziehen. Gluecklicherweise sind sie dem Befehl nachgekommen.

    VORGOV Gestatten Sie mir eine Zwischenfrage?

    VERTOTSKI Selbstverstaendlich.

    VORGOV Herr Bakatin, ich sehe, wir kommen auf die Diskussion von vorhin zurueck. Konkret gefragt, waere es nicht noetig gewesen, die Kontrolle im Baltikum unter allen Umstaenden zurueckzugewinnen?

    BAKATIN Nein, wieso? Die ueberwaeltigende Mehrheit der Balten war gegen uns.

    VORGOV Aber Gorbatschows Entscheidung bedeutete letztlich unseren Rueckzug aus Litauen. Noch einmal: Begeht eine Regierung nicht Landesverrat, wenn sie einen Teil des eigenen Territoriums kampflos preisgibt?

    BAKATIN Nein. Sie begeht Landesverrat, wenn sie auf ihre eigenen Buerger schiesst.

    VORGOV Soweit ich weiss, haben die Amerikaner waehrend des Sezessionskrieges auch auf ihre eigenen Leute geschossen.

    BAKATIN Voelkerrechtlich gehoert das Baltikum gar nicht zu unserem Territorium. Stalin hat es widerrechtlich annektiert. Fuer den Vorteil, den er damals daraus gezogen hat, zahlen wir heute die Zeche.

    VORGOV Muessten nach Ihrer Logik nicht alle Verschiebungen von Landesgrenzen, die sich aus dem 2. Weltkrieg ergeben haben, rueckgaengig gemacht werden?

    BAKATIN Nicht alle. Nur die ungerechten.

    VORGOV Wobei sich fragt, ob der status quo ante nicht selber durch ungerechte Kriege zustandegekommen ist. Die Deutschritter zum Beispiel, die in Ostpreussen jahrhundertelang die Herrenrasse gespielt haben ...

    BAKATIN Dann will ich so antworten: Man muss all das korrigieren, was die lokale Mehrheit eindeutig als ungerecht empfindet.

    VORGOV Was, bitteschoen, verstehen Sie unter lokaler Mehrheit.

    BALATIN Ich gebe zu, das ist nicht immer einfach festzulegen. Ich meine diejenigen, die unter dem ungerechten Zustand zu leiden haben.

    VORGOV (ungeduldig) Also gut. Ich sehe, wir kommen schon wieder zu weit ab. (blickt auf die Uhr) Es ist sehr spaet. Herr Vertotski, haben Sie noch Fragen an den Zeugen?

    VERTOTSKI Nur noch ein oder zwei kurze Fragen zur Innenpolitik. Herr Bakatin, erinnern Sie sich an das Aprilplenum des ZK?

    BAKATIN Ja. Ich erinnere mich sehr gut.

    VERTOTSKI Worum ging es?

    BAKATIN Einem wachsenden Teil der Partei die Illusion zu nehmen, dass sie noch lange fest im Sattel sitzen wuerden, dass die alten Strukturen wieder restauriert werden koennten, kurz, sie zu ueberzeugen, sich an die neue Zeit anzupassen. Natuerlich fiel vielen die Aussicht schwer, auf ihre Privilegien zu verzichten.

    VERTOTSKI Der Genosse Prokofjew hat ausgesagt, die Abstimmungen sowohl im obersten Sowjet als auch im Aprilplenum seien nicht korrekt abgelaufen, es sei Druck ausgeuebt worden. Koennen Sie das bestaetigen?

    BAKATIN Der hat es noetig, von Druck-Ausueben zu reden. Wenn es nach ihm ginge, duerfte in Russland niemand seine Meinung sagen.

    VERTOTSKI Ist Druck ausgeuebt worden?

    BAKATIN Nicht mehr als ueblich. Und auf jeden Fall weniger als zu Breschnews Zeiten.

    VERTOTSKI Wie ist das April-Plenum aus Ihrer Sicht verlaufen?

    BAKATIN Am ersten Tag haben die Gegner der Perestroika die Initiative ergriffen, und es sah zeitweise so aus, als ob sie die Oberhand gewinnen. Aber dann ist die Stimmung gekippt, weil man merkte, sie haben kein ueberzeugendes Konzept - ausser die Rueckkehr zur Planwirtschaft. Die Mehrheit hat doch lieber weiter auf den Generalsekretaer gesetzt.

    VORGOV Aus Ueberzeugung oder mangels Alternative?

    BAKATIN Weiss nicht. Auf jeden Fall hatte er die Mehrheit. Und darauf kommt an, oder?

    VORGOV Ist es nicht eine sonderbare Logik, die Sie hier verfechten? Zuerst erzaehlen Sie uns etwas von ihren hehren demokratischen Idealen. Aber wenn es darauf ankommt, zaehlt auf einmal nur das Stimmergebnis.

    BAKATIN Mag sein. Das ist so eine Art von Zynismus bei mir. Ich neige bisweilen zum Zynismus. Besonders wenn ich verhaftet worden bin.

    VORGOV Belassen wir es dabei. Ich danke Ihnen, Doktor Bakatin. Wir schliessen die heutige Sitzung und vertagen uns. Morgen kommen wir auf die Aussenpolitik.

    (Alle ausser Putov verlassen die Buehne. Putov geht zum Telefon und nimmt den Hoerer in die Hand.)

    PUTOV Bitte verbinden Sie mich mit dem Vorsitzenden des obersten Sowjets der RFSR. Jelzin, ja. Nein, er muss da sein. Er erwartet meinen Anruf. - (nach einer Pause) Hallo Boris Nikolajewitsch. Ja, ich freue mich auch. Wie ist die Lage? (Pause) Der KGB macht keine Probleme; wie auch? Ich habe fast taeglich Kontakt mit allen Abteilungsleitern. Aber was ist mit Jasow und den Militaers? (Pause) Sehr erfreulich. Trotzdem sollten Sie sich vorsehen. Falls er seine Meinung aendert. (Pause) Nicht mal bewaffnet? Dann kann ja nichts passieren. (Pause) Ich bin hier etwas unruhig geworden, wegen des Generals in unserem Ausschuss, ein Betonkopf, der Ihnen am liebsten sofort Strom und Telefon abstellen wuerde. (Pause) Ja, Warennikow. (Pause) Denke ich auch. Aber als er von Kriegsrecht und Verhaftungen anfing ... (Pause) Ja, ein grosser Stratege. (lacht) (Pause) Trotzdem glaube ich, in Moskau haette ich mehr fuer Sie tun koennen.Sie wissen, ich war sehr ungluecklich, als man mich hierhin abkommandierte. Besonders jetzt, wo sich die Lage wieder zuspitzt. (Pause) Dann ist gut. Wenn Sie das sagen, glaube ich es unbesehen. (Pause) Keine Sorge, ich werde hier alles in die richtigen Bahnen lenken. (Pause)Nein, ziemlich unproblematisch. Vorgov ist sehr kooperativ. (Pause) Was? (lacht) Ich muss schon sagen, Boris Nikolajewitsch, sehr mutig, Sie kaufen uns allen den Schneid ab, ja wirklich. (Pause) Was ich noch sagen wollte. Nachdem das Kommittee so viele Zugestaendnisse macht, sollten wir nicht ein wenig auf sie zugehen? (Pause) Ich glaube, man erwartet, dass Konsultationen stattfinden. (Pause) Ja, eine Art Regierung der nationalen Einheit. (Pause) Entschuldigen Sie, Boris Nikolajewitsch, ich habe Sie nicht verstanden. (Pause) Also, offizielle Gespraeche lehnen Sie ab? (Pause) Ich? Nein. Ich werde mich nicht einmischen. Mein Interesse ist, dass wir endlich wieder stabile Verhaeltnisse bekommen. Es ist rein polizeilicher Natur, sozusagen.

  9. Szene
  10. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 5. TAGES: GIBT ES EINEN GERECHTEN KRIEG? PAZIFISTEN MIT PROFILNEUROSEN

    VORGOV General Plechanow ist von General Warennikov als Zeuge vorgeschlagen worden. Der Ausschuss hat dem stattgegeben.

    VERTOTSKI Ein etwas ungewoehnlicher Vorgang.

    VORGOV Was ist daran ungewoehnlich?

    VERTOTSKI Dass ein Ausschussmitglied von sich aus Zeugen einlaed.

    VORGOV Wir haben der Verteidigung dasselbe Recht eingeraeumt. Wir haben auch von Ihnen ungeprueft Zeugen akzeptiert. - Sie wissen, Herr Vertotski, dies ist kein Strafgericht, sondern eine Untersuchung, in welcher moeglichst viele Facetten der Wahrheit offengelegt werden sollen. Uns wurde gesagt, dass Plechanow Wichtiges beizutragen hat. Also hoeren wir ihn. - (zum Wachtmeister:) Bitten Sie General Plechanow herein. (Plechanow kommt herein und begibt sich in den Zeugenstand.) Sie sind Juri Dergejewitsch Plechanow?

    PLECHANOW Ja.

    VORGOV Welche Funktion ueben Sie aus?

    PLECHANOW Ich bin Leiter des KGB Bewachungsdienstes der fuehrenden Politiker, das heisst zustaendig fuer alle Politbueroglieder und die wichtigsten Minister.

    VORGOV Sind Sie bereit, zu schwoeren, dass Sie vor diesem Gremium die Wahrheit sagen werden und nichts als die Wahrheit?

    PLECHANOW Ich schwoere.

    VORGOV Da Sie Sonderzeuge des Ausschusses sind, werde ich selbst das Verhoer durchfuehren. - Also, Genosse General, sie hatten viel mit dem Generalsekretaer zu tun?

    PLECHANOW Ja, taeglich.

    VORGOV Sie kennen ihn demnach ziemlich genau.

    PLECHANOW Ich denke, ja.

    VORGOV Ich moechte Sie fragen, Genosse, wie schaetzen Sie seine Haltung ein?

    PLECHANOW Durch lange Beobachtungen und Analysen bin ich zu der Ueberzeugung gekommen, dass es zwischen ihm und seinen Beratern eine Verschwoerung gegen die Sowjetunion gegeben hat.

    VORGOV Mit welchem Ziel?

    PLECHANOW Mit dem Ziel, unserem Land zu schaden, und zwar sowohl nach innen wie nach aussen. Nach innen, indem man eine Athmosphaere der Anarchie foerdert, nach aussen durch Zugestaendnisse an unsere Feinde, so dass sie unsere Schwaeche nutzen koennen und uns am Ende vernichten.

    VORGOV Haben Sie Beweise fuer Ihre Behauptung?

    PLECHANOW Es gibt keine direkten Beweise; dafuer ist er zu klug.

    VORGOV Wie glauben Sie also, hier beitragen zu koennen?

    PLECHANOW Durch indirekte Informationen.

    VORGOV Informationen welcher Art?

    PLECHANOW Informationen ueber vertrauliche Gespraeche Gorbatschows mit verschiedensten Leuten.

    VORGOV Wie sind Sie an diese Informationen gekommen?

    PLECHANOW Anfang letzten Jahres wurde entschieden, dass der Generalsekretaer abgehoert werden soll.

    VORGOV Wer hat das entschieden?

    PLECHANOW Einige Militaers und die Spitze des KGB.

    VORGOV Genosse Krjutschkow?

    PLECHANOW Ja, Krjutschkow und mehrere Generaele. Spaeter haben Sie auch Jasow eingeweiht. - Ich wurde aufgefordert, den Beschluss in die Tat umzusetzen. Alle Baender und Aufzeichnungen sind durch meine Haende gegangen.

    VERTOTSKI Darf ich eine Zwischenfrage stellen?

    VORGOV Wenn Sie wollen.

    VERTOTSKI Sie sagen, Sie haben ihn die ganze Zeit abgehoert. Trotzdem gibt es keine direkten Beweise fuer eine Verschwoerung?

    PLECHANOW Wie ich schon sagte, er ist sehr klug. Es gab eine Verschwoerung - aber es wurde nicht darueber gesprochen.

    VERTOTSKI Eine Verschwoerung, ueber die nicht gesprochen wird. Das kommt mir seltsam vor.

    PLECHANOW Das mag ihnen seltsam vorkommen. Ich bin aber felsenfest davon ueberzeugt.

    VERTOTSKI Wer ausser Gorbatschow sollte nach Ihrer Meinung darin verwickelt sein?

    PLECHANOW Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich Bakatin.

    VERTOTSKI Den er entlassen hat.

    PLECHANOW Oder vielleicht Rewenko, sein Stabschef. Oder er hat allein operiert.

    VERTOTSKI Zu einer Verschwoerung gehoeren normalerweise mehrere Personen.

    PLECHANOW Wahrscheinlich hat er mit fremden Maechten konspiriert.

    VERTOTSKI Das ist eine andere Frage.

    PLECHANOW Diese Fragen gehoeren zusammen. Die Abhoerprotokolle geben das zwar nicht her, wir fuehren Sie, wie gesagt, allerdings auch erst seit letztem Jahr. Aber ...

    VERTOTSKI Wenn Sie das nicht hergeben, warum sind Sie dann hier erschienen?

    PLECHANOW Bitte lassen Sie mich ausreden. Es gibt andere Bereiche, wo Sie von Bedeutung sind.

    VORGOV Darauf kommen wir gleich. Bitte lassen Sie mich die Befragung fortfuehren, Herr Vertotski!

    VERTOTSKI Ok, ok.

    VORGOV General, ich habe Sie so verstanden, dass es sehr wohl indirekte Hinweise fuer eine Verschwoerung mit auslaendischen Maechten gibt?

    PLECHANOW Ich wuerde sagen, ja. Gorbatschow hatte auf Auslandsreisen genug Gelegenheiten zu konspirativen Gespraechen. Neben den offiziellen Terminen gab es immer wieder sogenannte spontane Verabredungen, teilweise in den Hotels, in denen er sich gerade aufhielt, die wir nicht abhoeren konnten.

    VORGOV Wozu dienten diese Treffen?

    PLECHANOW Offiziell, um Details der Abruestungsverhandlungen zu besprechen. Wenn ihm mal wieder eine grandiose Idee eingefallen war, fuer ein Zugestaendnis, das er den Amerikanern machen wollte, musste sie gleich im Detail mit ihnen abgeklaert werden.

    VORGOV Sie vermuten, dass diese Abklaerungen einen weitergehenden Charakter hatten.

    PLECHANOW Ja.

    VORGOV Beweise haben Sie nicht?

    PLECHANOW Es fiel auf, dass er mit einigen Mitgliedern der Reagan-Administration auf sehr vertrautem Fuss stand.

    VORGOV Mit wem zum Beispiel?

    PLECHANOW Zum Beispiel mit Bush, dem damaligen Vizepraesidenten. Fast bei jedem Besuch war er stundenlang mit ihm allein.

    VORGOV Warum ist das besonders erwaehnenswert?

    PLECHANOW Bush ist vorher Direktor des CIA gewesen.

    GORBATSCHOW Da er der Vizepraesident war, musste ich mich mit ihm unterhalten.

    VORGOV Bitte Genosse. Wir wollen die Befragung zu Ende bringen. Sie haben spaeter Gelegenheit, sich zu aeussern. - Was wollten Sie sagen, General?

    PLECHANOW Besonders bedeutsam scheint mir ein Gespraech, das bei seinem ersten USA-Besuch waehrend einer laengeren Autofahrt stattgefunden hat. Wir wissen zwar nicht, was damals besprochen wurde, aber wir haben mehrere Aufzeichnungen, in denen er dieses Gespraech erwaehnt, gegenueber verschiedenen Leuten, und auch Bush gegenueber, um ihn an irgend etwas zu erinnern. Es scheint ein sehr wichtiges Gespraech gewesen zu sein. Immer, wenn es um kritische Fragen ging, wurde darauf Bezug genommen.

    GORBATSCHOW Ich moechte ...

    VORGOV Bitte, Genosse, nicht jetzt.

    PLECHANOW Manchmal hat er dabei noch so eine Handbewegung gemacht, eine Art Winken, das ich fuer ein geheimes, nur ihm und Bush verstaendliches Signal halte.

    VORGOV Koennten Sie uns die Handbewegung vorfuehren?

    PLECHANOW (winkt mit der linken Hand, wobei er die Finger zu einem nach oben gerichteten Kegel zusammen fuehrt) So ... in etwa. VORGOV Danke. Wir werden Gorbatschow spaeter danach befragen. Gab es noch weitere derartige Kontakte.

    PLECHANOW Es gab die ominoesen Besprechungen mit Baker im Kradnoworskaja-Park.

    VORGOV Was meinen Sie mit 'ominoes'?

    PLECHANOW George Bush ist heute Praesident der Vereinigten Staaten, und jedesmal, wenn es irgendwo auf der Welt ein Problem gibt, schickt er seinen Aussenminister nach Moskau, der Gorbatschow solange bearbeitet, bis er den amerikanischen Loesungsvorschlaegen zustimmt.

    VERTOTSKI Einspruch, Herr Vorsitzender. Subjektive Urteile des Zeugen interessieren hier nicht.

    VORGOV Einspruch stattgegeben. Bitte, General, beschraenken Sie sich auf die Fakten.

    PLECHANOW Jawohl.

    VORGOV Wie Sie vorhin sagten, geben die Abhoerprokolle zwar keinen direkten Hinweis auf eine Verschwoerung, sind aber in anderer Hinsicht von Bedeutung.

    PLECHANOW Ja. Zum einen koennen wir nachweisen, dass er - entgegen seinen Beteuerungen in der russischen Oeffentlichkeit - die ehemaligen Fuehrer der DDR massiv unter Druck gesetzt hat.

    VORGOV In welcher Hinsicht?

    PLECHANOW So dass sie nicht wagten, etwas gegen den drohenden Volksaufstand zu unternehmen. Er hat sie vielmehr ganz im Sinne Kohls solange beschwichtigt, bis es zu spaet war.

    VORGOV Warum halten Sie das fuer bemerkenswert.

    PLECHANOW Es zeigt an einem wichtigen Beispiel, wie er die Russen belogen hat, um seine subversive Politik zu verschleiern. - Aber gut, weitaus wichtiger sind die Gespraeche zwischen ihm und Jelzin, die wir abhoeren konnten.

    VORGOV Und?

    PLECHANOW Aus denen hervorgeht, dass die beiden feindlichen Brueder gar nicht so uneins waren, wenn es gegen die Konservativen ging.

    VORGOV Koennen Sie ein Beispiel geben?

    PLECHANOW Das markanteste Fall liegt keine zwei Monate zurueck. Sie wissen, im Fruehjahr standen wir kurz vor einem Volksaufstand, ich meine die Preiserhoehungen, die Demonstrationen wegen Litauen.

    VORGOV Gorbatschow schien die Lage nicht mehr unter Kontrolle zu haben.

    PLECHANOW Definitiv nicht. Immer haeufiger wurde sein Ruecktritt gefordert. Aber die Nation war gespalten. Die einen wollten die Sowjetmacht zurueck, die anderen setzten auf Jelzin. Alle moeglichen Leute ueberlegten, was man unternehmen konnte. Aber niemand wagte zu handeln. Dann beruhigten sich die Gemueter langsam wieder, die Gelegenheit war verpasst.

    VORGOV Es kam zu der Uebereinkunft zwischen Jelzin und Gorbatschow?

    PLECHANOW Wir wussten natuerlich, was los ist. Die beiden haben oft miteinander telefoniert und sich Ende Juli in Nowo-Ogarjowo getroffen.

    VORGOV Haben Sie das Gespraech belauscht?

    PLECHANOW Ja. Ich denke, das wichtigste haben wir mitbekommen.

    VORGOV Worueber wurde gesprochen?

    PLECHANOW Sie diskutierten die Lage. Ich meine, den neuen Unionsvertrag, die allgemeine Destabilisierung, die Gefahr eines Militaerputsches, und so weiter. Natuerlich legte keiner die Karten offen auf den Tisch. Nur in einem waren sie sich einig.

    VORGOV Worin?

    PLECHANOW Ueber die Abloesung von Jasow und Krjutschkow. Der Druck der oeffentlichen Meinung wurde immer staerker. Gorbatschow brauchte Suendenboecke und Jelzin ein Erfolgserlebenis. Er wollte seine Autoritaet beweisen. Dass er in der Lage ist, die Regierung aufzumischen.

    VORGOV Sind sie sich einig geworden?

    PLECHANOW Ja. Gorbatschow stimmte zu, nicht nur Jasow und Krjutschkow, sondern fast die ganze oberste Schicht der Exekutive auszuwechseln. Im Gegenzug wollte Jelzin aufhoeren, seinen Ruecktritt zu fordern und dem Unionsvertrag zustimmen. Wenigstens tat er so, als sei er dazu bereit.

    VORGOV Was heisst, er tat so?

    PLECHANOW Wir wissen, dass Jelzin im letzten Jahr geheime Verhandlungen mit der Ukraine und Weissrussland gefuehrt hat.Er hatte kein Interesse an Gorbatschows 'Gemeinschaft Unabhaeniger Staaten'. Im Gegenteil. Ihm war klar, dass die GUS Gorbatschows Stellung staerken wuerde.

    VORGOV Fuer Gorbatschow war sie also sehr wichtig?

    PLECHANOW Ja. Die Union war fuer seine Plaene von enormer Bedeutung. Ihr Scheitern haette sich verhaengnisvoll ausgewirkt. Sowohl auf seine Karriere als auch im Hinblick auf die Oeffentlichkeit. Ohne die Union keine Gorbatschow-Regierung, so einfach war das. Darum kam er Jelzin weit entgegen. Jelzin konnte sogar noch weitere Forderungen stellen. Allerdings besitzen wir ueber den Rest des Gespraeches keine gesicherten Erkenntnisse.

    VORGOV Warum nicht?

    PLECHANOW Wir hatten in dem Raum ziemlich viel von unserem Inventar untergebracht, und konnten alles genau verstehen. Doch ploetzlich wurde Jelzin misstrauisch. Er wollte das Gespraech unbedingt auf dem Balkon zu Ende fuehren. Allerdings war es im Grunde zu spaet. Die Informationen reichten uns schon.

    VERTOTSKI Eine Zwischenfrage, Herr Vorsitzender, wenn Sie gestatten.

    VORGOV Bitte.

    VERTOTSKI General, halten Sie es fuer moeglich, dass Jelzin von der Abhoeraktion wusste und nur den ersten Teil des Gespraeches absichtlich preisgegeben hat.

    PLECHANOW Nun, ich weiss nicht. Moeglich ist alles.

    VORGOV Eine absurde Vorstellung.

    VERTOTSKI Aber nicht auszuschliessen.

    VORGOV Eine reine Vermutung, der wir hier nicht nachgehen koennen. Oder gibt es konkrete Hinweise darauf, General?

    PLECHANOW Eigentlich nicht.

    VERTOTSKI Und uneigentlich?

    PLECHANOW Nein. Nichts.

    VORGOV Dann lassen Sie mich bitte die Befragung fortsetzen. Haben Sie Krjutschkow von dem Gespraech unterrichtet?

    PLECHANOW Umgehend.

    VORGOV Wie reagierte er?

    PLECHANOW Ich denke, dass er sehr beunruhigt war.

    VORGOV Sie denken?

    PLECHANOW Nach aussen blieb er gelassen. Aber man kann sich vorstellen, wie es in ihm ausgesehen hat. Seine Stellung war aufs aeusserste gefaehrdet. Er hat dann in meinem Beisein Jasow angerufen. Sie waren sich einig, dass gehandelt werden muss, und zwar sofort.

    VORGOV Gab es fuer den vorliegenden Fall bereits ein Konzept, eine Art Fahrplan fuer Gorbatschows Abloesung?

    PLECHANOW Nein, nicht in dem Sinne. Niemand hatte mit einem derartigen Schlag gerechnet. Vorsichtig wie er war, hatte Gorbatschow bis dahin mit den meisten fuehrenden Militaers Frieden gehalten.

    VORGOV Ganz unvorhergesehen koennen seine Absichten nicht gewesen sein. Sonst waere Krjutschkow letztes Jahr doch nicht auf die Idee gekommen, ihn abzuhoeren.

    PLECHANOW Eine reine Vorsichtsmassnahme. An sich liessen sich die beiden gegenseitig in Ruhe. Sie arbeiteten im allgemeinen gut zusammen.

    VORGOV Wenn es keine konkreten Plaene fuer die Machtuebernahme gab, gab es also auch keine genauen Vorstellungen, in welche Richtung man marschieren wuerde, ich meine politisch.

    PLECHANOW Nein. Ich wuerde sagen, der Coup erfolgte aus einem Affekt heraus. Sich nicht kampflos geschlagen zu geben. Ueber die weiteren Ziele sollte spaeter entschieden werden.

    GORBATSCHOW Darf ich fragen. Ist darueber inzwischen entschieden, das heisst, hat sich das Notstandskommittee auf eine Linie geeinigt?

    VORGOV Genosse ...

    PLECHANOW Soweit ich weiss, nicht. Jasow als Verteidigungsminister tendiert eher zum alten System, hat gute Kontakte zur kommunistischen Partei. Krjutschkow ist den Demokraten gegenueber aufgeschlossener. Er erkennt Jelzins Einfluss an und wuerde ihn gern mit ins Boot holen. Er hat im Moment den groesseren Einfluss.

    VORGOV Danke, General. Aber die kuenftige russische Politik soll nicht unser Thema sein. - Haben Sie noch weitere Informationen, die wichtig fuer uns sein koennten?

    PLECHANOW Im Moment nicht.

    VORGOV Dann danke ich Ihnen fuer die Bereitschaft, hier auszusagen.

    PLECHANOW (verlaesst den Zeugenstand) Auf Wiedersehen.

    VORGOV Auf Wiedersehen, General. - Wenn ich das richtig sehe, steht jetzt ein weiteres Verhoer des Generalsekretaers zur Aussenpolitik auf dem Programm. Sind Sie bereit?

    GORBATSCHOW Wenn Sie gestatten, wuerde ich die Aussagen Plechanows gern mit zwei, drei Saetzen kommentieren.

    VORGOV Zwei, drei Saetze, bitte. Danach wird Sie Stagov zur Aussenpolitik befragen.

    GORBATSCHOW Vielen Dank. Was ich sagen will ist, der Zeuge hat zwar Details aus meinen politischen Unterredungen zum besten gegeben und eine Menge Behauptungen aufgestellt. Aber er hat zugegeben, dass es keinerlei harte Beweise fuer seine absurde Verschwoerungstheorie gibt. Die Vorgaenge, die er beschrieben hat, also die Entlassung des KGB-Chefs und des Verteidigungsministers, gehoeren zu meinen Rechten als Partei- und Staatschef, ich sehe nichts Illegales dabei, das muss jeder zugeben, auch wenn er mit mir politisch nicht uebereinstimmt. Und diese Entscheidungen mit Jelzin, dem Praesidenten der wichtigsten, der russischen Teilrepublik abzusprechen, war nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig. Ich kann demnach nicht erkennen, warum Plechanow uns den Vorgang ueberhaupt geschildert hat. Mein Gespraech mit Jelzin abzuhoeren, und systematisch meine Lebensphaere auszuschnueffeln, ist allerdings ein unerhoerter verbrecherischer Vorgang, der auf die Putschisten zurueckfallen wird.

    VORGOV Sind Sie fertig?

    GORBATSCHOW Ja.

    VORGOV Dann erteile ich dem Staatsanwalt das Wort.

    STAGOV Ich moechte auch, wenn Sie gestatten, bevor ich zum Fragenkomplex der Aussenpolitik komme, ihn kurz zu den konkreten Spionagevorwuerfen vernehmen.

    VORGOV Bitte.

    STAGOV Genosse Gorbatschow, ich moechte einmal explizit nachfragen: Hat ein westlicher Geheimdienst jemals versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen?

    GORBATSCHOW Nein.

    STAGOV Mit ihrer Frau oder einem Ihrer Freunde?

    GORBATSCHOW Meines Wissens nicht.

    STAGOV Waren Sie jemals wissentlich mit CIA Leuten allein?

    GORBATSCHOW Worauf wollen Sie hinaus?

    STAGOV Wir haben von den geheimen Treffen in Hotels gehoert ...

    GORBATSCHOW Die Treffen waren keineswegs geheim, sie waren ...

    STAGOV Sagen wir, unueblich, wir haben von den unueblichen Hoteltreffs gehoert, und von dem beruehmten Gespraech im Auto. Sind die Aussagen Plechanows in diesem Punkt korrekt, das heisst hat es diese Treffen gegeben?

    GORBATSCHOW Also zu den Hoteltreffen. Es gab immer wieder ...

    STAGOV Bitte beantworten Sie meine Frage mit Ja oder Nein. Hat es diese Treffen gegeben.

    GORBATSCHOW Ja. Es hat sie gegeben. Aber sie waren aus sachlichen Gruenden erforderlich. Wenn ein Detailproblem auftrat, wurden oft kurzfristig solche Meetings anberaumt. Wir haben uns dann ganz ungezwungen an dem naechstliegenden Ort verabredet, also auch in Hotels. Ich weiss sowieso nicht. Mal angenommen, ich haette mit den Amerikanern konspirieren wollen, also so ein Quatsch, aber nur einmal angenommen. Dann waeren wir doch ins Weisse Haus gegangen. Dort gibt es genuegend abhoersichere Raeume.

    STAGOV Und das Gespraech im Auto?

    GORBASCHTHOW Mit Bush habe ich mich oefter unterhalten; es ergab sich, dass wir am besten auf dem Weg zum Flughafen reden konnten. STAGOV Wussten Sie damals, dass er vorher Direktor des amerikanischen Geheimdienstes war.

    GORBATSCHOW Nein, ich glaube nicht.

    STAGOV Was heisst Sie glauben nicht?

    GORBATSCHOW Das heisst, wahrscheinlich schon, normalerweise hat man mich ueber die Lebenslaeufe informiert. Aber ich kann mich im Moment nicht erinnern, ob ich es damals wusste.

    STAGOV Gab es weitere Kontakte zu hochrangigen CIA Beamten?

    GORBATSCHOW Nein.

    STAGOV Soweit Sie sich erinnern koennen.

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV In den Hotelgespraechen, waren da CIA-Agenten anwesend.

    GORBATSCHOW Nicht dass ich wuesste.

    STAGOV Kannten Sie die Funktion und Identitaet der Anwesenden?

    GORBATSCHOW Ich denke ja.

    STAGOV Nach meinen Informationen waren bei diesen Gespraechen mehrmals Mitarbeiter des amerikanischen Verteidigungsministeriums beteiligt, die der KGB als Agenten einstuft.

    GORBATSCHOW Der KGB stuft grundsaetzlich jeden amerikanischen Soldaten als Agenten ein.

    STAGOV Wurden jemals Themen besprochen, besser gesagt, wurde in einer Weise gesprochen, die ueber normale aussenpolitische Kontakte hinausgeht.

    GORBATSCHOW Was meinen Sie damit?

    STAGOV Sie wissen schon, dass ueber Tatsachen gesprochen wurde, die ... zum Beispiel, die unsere Sicherheitsorgane als streng geheim eingestuft hatten.

    GORBATSCHOW Nein.

    STAGOV Meines Wissens haben Sie die Amerikaner mit genauen Informationen ueber den Zustand unserer Waffensysteme versorgt, zum Beispiel ueber das geheime SS22-Projekt.

    GORBATSCHOW Ich weiss nicht, woher Sie Ihre Kenntnisse haben. - Aber um konkrete Verhandlungen fuehren zu koennen, musste ich die Gegenseite ueber Art und Anzahl und teilweise auch ueber den Zustand unserer Waffen informieren. Ich habe dasselbe von ihnen erwartet.

    STAGOV Was hielten die Amerikaner von Ihren Abruestungsideen?

    GORBATSCHOW Zuerst waren sie misstrauisch. Dann reagierten sie zunehmend wohlwollender.

    STAGOV Bush's Wohlwollen scheint besonders gross gewesen zu sein.

    GORBATSCHOW Er war wesentlich aufgeschlossener als Reagan. Reagan blieb misstrauisch. Bush hat mir vertraut.

    STAGOV Haben Sie ihm auch vertraut?

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Haben Sie in den Autogespraechen politische Abmachungen getroffen?

    GORBATSCHOW Wenn Sie so wollen, ja.

    STAGOV Was beinhalteten diese Abmachungen?

    GORBATSCHOW Es war nicht so, wie Sie sich das vorstellen. Nichts Konkretes. Und doch in einem gewissen Sinn sehr weitgehend. Wir haben uns intensiv abgecheckt, ich meine als Persoenlichkeiten, vom Charakter her, und dann beschlossen, einander vertrauen, und zwar nicht nur in einzelnen Punkten, sondern generell.

    STAGOV Und so weitgehend, dass Sie sich mit Ihm auf ein geheimes, nur Ihnen beiden verstaendliches Signal geeinigt haben.

    GORBATSCHOW Die Fahrt endete mit dieser spontanen Handbewegung, mit der wir unsere Uebereinstimmung besiegelten. Ein Ausdruck unserer Hoffnung, wenn Sie so wollen. Immer wenn in der Zukunft, besonders nachdem er Praesident geworden ist, eine kritische Frage aufkam, haben wir uns durch diese Handbewegung an unsere grundlegende Abmachung erinnert.

    STAGOV Die Uebereinstimmungen bezogen sich auf alle Abruestungsfragen?

    GORBATSCHOW Sie bezogen sich auf alles, auf die gesamte Weltpolitik, und noch weiter. Das ging bis in den persoenlichen Bereich.

    STAGOV Hatten Sie keine Schwierigkeiten damit, einem Klassenfeind derart entgegenzukommen?

    GORBATSCHOW Nein. Der amerikanische Praesident ist fuer mich kein Klassenfeind. Ich habe Ihnen meinen Standpunkt zum sogenannten amerikanischen Imperialismus bereits erlaeutert.

    STAGOV Sie haben ihn nur allgemein dargestellt.

    GORBATSCHOW Aber daraus ergeben sich konkrete aussenpolitischen Ziele.

    STAGOV Welche sind das?

    GORBATSCHOW Also zum einen lehne ich Gewalt als Mittel der Politik grundsaetzlich ab. Daraus folgt zwangslaeufig der Versuch, die Waffenarsenale in Ost und West, besonders die Atomwaffen, so weit wie moeglich zu reduzieren. - 1945 sind Hiroshima und Nagasaki zerstoert worden. Kurz darauf begannen die Supermaechte mit ihren Rivalitaeten, die bis zu meinem Amtsantritt anhielten und die Welt jahrzehntelang in Angst und Schrecken versetzt haben. Das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens.

    VORGOV Wenn ich unterbrechen darf. Viele haben dieses Gleichgewicht positiv bewertet, da es zu einer langen Phase der Stabilitaet gefuehrt hat. Sie wuerden dem nicht zustimmen?

    GORBATSCHOW Nein. Es bestand ja staendig die Gefahr, dass dieses sogenannte Gleichgewicht durch aussergewoehnliche Ereignisse gestoert wurde. Denken Sie an die Kuba-Krise, die Stationierung der SS20- und Pershing-Raketen und so weiter. Man muss sich doch klar sein: Jahrzehntelang wurden wir vom Damoklesschwert des dritten Weltkrieges bedroht, der unser Land fuer immer ausgeloescht haette. Diese Drohung hat die Aussenpolitik bestimmt, ich wuerde sagen blockiert, so dass keines der dringenden Probleme der Menschheit geloest werden konnte. Stattdessen haben sich beide, Russland wie Amerika, auf politische Abenteuer eingelassen, ich sage nur Vietnam, Afghanistan usw. - Und sie hat unser Land arm gemacht, indem sie uns zu einer Spirale immer neuer Verteidigungsanstrengungen zwang.Davon wollte ich wegkommen. Ich hatte die Vision, die alten Strukturen aufzubrechen und unsere Beziehung zu den Amerikanern auf eine neue Grundlage zu stellen, das heisst endlich weg von der Konfrontation und vom Lagerdenken, zu einem Klima der Freundschaft und des gegenseitigen Vertrauens.

    VORGOV Und so weiter. Einer Ihrer ersten Aktionen in der Aussenpolitik war die Absetzung des Aussenministers. Ein Signal?

    GORBATSCHOW Ja und Nein. Ich habe damals mindestens ein Dutzend Leute der obersten Fuehrungsebene entlassen, die meisten aus Altersgruenden. Auch Gromyko war alt, ueber 75 ...

    VORGOV Aber er war ein verdienter Aussenminister, der nach meiner Erinnerung absolut keine Altersschwaeche erkennen liess.

    GORBATSCHOW Gewiss. Er war ein Sonderfall.

    VORGOV Inwiefern?

    GORBATSCHOW Er gehoerte schon unendlich lange, schon seit den 60er Jahren, zum innersten Fuehrungszirkel. Und es war ihm schwer begreiflich zu machen ... Aber es entsprach dem ueblichen Vorgehen. Der neue Generalsekretaer bestimmt einen Aussenminister, der sein absolutes Vertrauen geniesst.

    VORGOV Er hat seine Loyalitaet erklaert.

    GORBATSCHOW Offen gesagt, ich vertraute ihm nicht. In der Frage der Breschnew-Nachfolge hatte er sich eher feindlich verhalten. Das Entscheidende aber war, er passte nicht zu meinen aussenpolitischen Visionen.

    VORGOV Nun gut. Gromyko ist Geschichte. - Kommen wir zu Ihren sogenannten Abruestungsinitiativen. - Wir hatten verabredet, dass bei diesem Komplex General Warennikov als Experte die Befragung fortsetzt. Wenn der Staatsanwalt einverstanden ist.

    STAGOV Keine Einwaende. (setzt sich)

    WARENNIKOV Vielen Dank, Genossen. Zunaechst moechte ich alle Anwesenden zu strengstem Stillschweigen ueber die Einzelheiten meines Verhoers verpflichten. Ich hoffe, jedem ist klar, dass die westlichen Geheimdienste an jeder Art von militaerischer Information sehr interessiert sind. - Also, Genosse Gorbatschow, wenn ich Sie richtig verstehe, Sie wollten den kalten Krieg beenden, indem Sie den Amerikanern weitreichende Abruestungsangebote machen?

    GORBATSCHOW Ich wollte die starren Fronten aufbrechen. Jeder hatte sich in sein Buendnis eingeigelt. Aus Bruessel kamen nicht Abruestungs-, sondern Aufruestungsinitiativen, ich meine die Pershing, SDI usw.

    WARENNIKOV Haette man, besonders auf SDI, nicht eine Erwiderung finden muessen? Die Amerikaner wollen den Weltraum mit ihren Raketen verminen und wir ...

    GORBATSCHOW Nein. Eben nicht. Ich wollte die Spirale durchbrechen, indem ich weitreichende Angebote machte, und zwar bei allen Waffensystemen. Wenn Sie erlauben, skizziere ich die Ausgangslage, soweit ich sie im Kopf habe, und danach meine Reduktionsvorschlaege.

    WARENNIKOV Bitte. Wir sind gespannt darauf.

    GORBATSCHOW Eines der Grundprobleme aller Abruestungsdebatten bestand darin, dass das Gleichgewicht des Schrecken nur global existiert, das heisst nicht bei jeder einzelnen Waffenart, sondern nur im Ganzen. Zum Beispiel gibt es ein Gleichgewicht bei den schweren Atomwaffen als ganzes, aber im Detail sieht die Sache recht unterschiedlich aus. Die Amerikaner besitzen mehr Langstreckenbomber und U-Boote mit Atomraketen, wir haben mehr Interkontinentalraketen. Meinen Vorschlag, diese drei Posten overall zu halbieren, halte ich heute noch fuer genial. Man ersparte sich das Gefeilsche um Bewertungen. Das Problem war allerdings, die Militaers versuchten zu tricksen. Sie wollten nur veraltetes Material ausrangieren.

    WARENNIKOV Wurde Ihr Vorschlag nicht durch Reagans SDI-Fanatismus unterlaufen?

    GORBATSCHOW Sicher.

    WARENNIKOV SDI vergroessert den Vorteil der Amerikaner bei den Langstreckenwaffen und ist eine eklatante Verletzung des ABM Vertrages, den Breschnew mit ihnen ausgehandelt hat. Noch einmal die Frage: Haette man darauf nicht angemessen reagieren muessen?

    GORBATSCHOW Warum haette ich in alte Fehler verfallen sollen? Zugegeben: Anfangs hatte ich tatsaechlich Gewissensbisse. Setzte ich mein Land nicht einer grossen Gefahr aus, wenn ich Reagan einfach so gewaehren liess? Dann habe ich erkannt: das SDI-Konzept ist ueberhaupt nicht ausgereift. Reagan war ein alter Narr, der glaubte, mit ein paar Raketen im Weltall liesse sich Amerika in eine sichere Insel verwandeln. Sein Nachfolger ist klueger.

    WARENNIKOV Es gab nicht nur SDI. Ich glaube, es war im Mai 89, da tagte der Nato Rat in Bruessel und empfahl eine vollstaendige Modernisierung der taktischen Atomwaffen, OBWOHL Ihr Vorschlag auf dem Tisch lag, unsere SS23 in den INF Vertrag mit aufzunehmen. GORBATSCHOW Man muss die Kurzstreckensysteme und die taktischen Waffen auseinander halten.

    WARENNIKOV Vielleicht. Aber ...

    GORBATSCHOW Vielleicht lassen Sie mich fuer die Laien unter den Zuhoerern doch meinen Ueberblick zu Ende fuehren.

    WARENNIKOV Bitte.

    GORBATSCHOW Neben den Langstreckenwaffen gibt es die Mittelstrecken-, die Kurzstrecken- und die taktischen Systeme. Die schwierigsten Probleme bestanden bei den Mittelstreckenraketen und den taktischen Systemen. - Bei den taktischen Waffen waren wir eindeutig ueberlegen. Die Nato sagte zurecht: man kann nicht nur die in Europa stationierten Raketen zaehlen, weil wir unsere asiatischen jederzeit nach Europa verlegen koennen. Sie diskutierten ernsthaft Neuanschaffungen. Mit meinen Vorschlaegen habe ich diese Ueberlegungen unterlaufen.

    WARENNIKOV Sie meinen, Sie haben taktische Besitzstaende preisgegeben.

    GORBATSCHOW Besonders Deutsche und Franzosen waren sehr froh ueber unseren Vorschlag, weil sie von der SS23 am staerksten bedroht werden. Sie hatten sich den Plaenen der Englaender und Amerikaner nur widerwillig angeschlossen.

    WARENNIKOV Was heisst 'nur widerwillig'? Soviel ich weiss, ist der Nato-Plan fuer die Modernisierung der taktischen Atomwaffen immer noch aktuell.

    GORBATSCHOW Aber auch der neue INF-Vertrag ist unterschriftsreif. Und man hat mir zu verstehen gegeben, dass die Modernisierung garantiert nicht weiter verfolgt wird, wenn meine Vorschlaege vertraglich besiegelt sind. Es sieht ganz danach aus, als ob ich mich durchgesetzt haette.

    WARENNIKOV Die Nato versucht, weitere Zugestaendnisse herauszuholen.

    GORBATSCHOW Sie trauen uns nicht ...

    WARENNIKOV Wir haben viel mehr Grund, Ihnen zu misstrauen, siehe SDI und ABM Vertrag.

    GORBATSCHOW Sie wollen sehen, ob wir mit der praktischen Umsetzung auch wirklich ernst machen, das ist das einzige ungeloeste Problem bei den Verhandlungen. Sie bestehen auf Inspektionen, um die Verschrottung zu ueberwachen.

    WARENNIKOV Diese Anmassung ist vom Verteidigungsminister zu Recht abgelehnt worden.

    GORBATSCHOW Man wird sehen. - Bei den Mittelstreckenwaffen hatten wir aehnlich grosse Probleme. Auf die wuerde ich auch gern naeher eingehen.

    WARENNIKOV Dem steht nichts im Wege.

    GORBATSCHOW Die Mittelstreckenraketen, also unsere SS20 und die amerikanischen Pershings, sind ein besonders schwieriges Kapitel, weil sie Anfang der 80er Jahre die neue Ruestungsspirale ausloesten. Breschnew hatte 1979 die neuen SS20 in ganz Osteuropa stationieren lassen; und man muss sich darueber klar sein: Die Einfuehrung der SS20 bedeutete tatsaechlich eine neue Bedrohungslage fuer den Westen. Meine Vorgaenger haben das uebersehen. Die Militaers haben ihnen gesagt, die alten Mittelstreckenwaffen muessen ersetzt werden, und Breschnew und Gromyko haben zugestimmt, ohne zu erkennen, dass die neuen SS20 den alten Systemen meilenweit ueberlegen waren und das Bedrohungspotential fuer die Nato wesentlich erhoehten. Kein Wunder, dass der Westen mit der Einfuehrung der Pershing 2 Raketen reagierte.

    WARENNIKOV Mir faellt auf, dass Sie sich immer wieder westliche Argumente zu eigen machen. Erst bei den taktischen Waffen, wo wir jahrelang darauf bestanden haben, die asiatischen separat zu zaehlen. Und jetzt bei den Pershings. Auch Andropov, ihr Foerderer, hat die SS20 damals gutgeheissen.

    GORBATSCHOW Auch er hat diese Zusammenhaenge nicht erkannt.

    WARENNIKOV Das ist Ihre Sicht der Dinge. Als die Pershings stationiert werden sollten, war ich zufaellig in Berlin und habe mitbekommen, wie die westdeutsche Bevoelkerung dagegen protestiert hat; grosse beeindruckende Demonstrationen ...

    GORBATSCHOW ... die die westdeutschen Politiker kalt liessen. Es ging nicht anders. Der fruehere Bundeskanzler Schmidt hat mir erst kuerzlich in einem privaten Gespraech gesagt, er haette gern anders entschieden, viele in seiner Partei haetten ihn dazu gedraengt, aber ein Verzicht sei objektiv nicht moeglich gewesen.

    WARENNIKOV Bei SDI haben wir ebenso gute Gruende, auf unserer Position zu beharren wie die Nato damals auf ihre Pershings.

    GORBATSCHOW Bezueglich SDI war meine Hoffnung, wenn die Amerikaner sehen, dass wir es ernst meinen mit der globalen Abruestung, werden sie von selber auf ihr Raketenschild verzichten.

    WARENNIKOV Hoffnung! Einseitige Abruestungsschritte sind schoen und gut. Aber dem Gegner schenkt man damit einen unnoetigen Vorteil.

    GORBATSCHOW Nicht in einer Welt, in der die Politik zunehmend durch die Propaganda der Medien bestimmt wird.

    WARENNIKOV Wenn es hart auf hart gekommen waere, haetten die Amerikaner ihren Vorteil gnadenlos ausgenutzt. Glauben Sie nicht?

    GORBATSCHOW Wir haben ihnen keine Gelegenheit zur Haerte gegeben.

    WARENNIKOV Reagan verletzt in aller Ruhe den ABM-Vertrag und Sie stoeren sich nicht daran. Hat dieses Nachgeben gegenueber unseren Feinden, inneren wie aeusseren, nicht Ihre ganze Amtszeit gekennzeichnet? Ein ewiges Zurueckweichen, bis alles verloren war. Es kennzeichnet uebrigens auch ihre Haltung in der Deutschlandfrage. Und in der Innenpolitik ist es genauso. Und darum haben zuletzt nicht nur die Kommunisten, sondern auch die Demokraten die Geduld mit Ihnen verloren. Mehr muss daruber nicht gesagt werden. Ich bin fertig, Genossen.

    VORGOV Meinen Dank, General. - Bevor wir die Sitzung schliessen, habe ich noch eine Frage hinsichtlich der Massenmedien. Genosse Gorbatschow, welche Rolle hat bei Ihren Vorschlaegen das Lob gespielt, das Sie von den westlichen Medien einheimsten?

    GORBATSCHOW Eine grosse. Wissen Sie, ich habe meine Abruestungsideen mit einem unheimlichem Tempo lanciert und konnte dabei fest auf Presse und Fernsehen zaehlen. Sie haben den Druck auf die Nato enorm verstaerkt. Von einem bestimmten Punkt reagierten ihre Strategen voellig kopflos. Ich meine, sie verloren das Feindbild, mit dem sie ihren Militarismus rechtfertigen.

    VORGOV Meine Frage zielte auf etwas anderes. Was ich meinte, war, ob Sie es genossen haben, in den westlichen Zeitungen als grosser Held gefeiert zu werden, der alle Mauern zum Einstuerzen bringt.Ob das Lob Ihrer Eitelkeit geschmeichelt hat.

    GORBATSCHOW Nun, ich weiss nicht. Ich glaube, jeder von uns fuehlt sich durch Lob geschmeichelt.

    WARENNIKOV Genosse Vorgov fragt nach den Motiven Ihres Handelns. Es kann doch nicht sein, dass uns ein paar positive Reportagen im Fernsehen des Klassenfeindes in allem voellig nachgiebig machen.

    GORBATSCHOW Sie stellen es dar, als sei ich der Buettel der Medien gewesen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich habe mir ihren Einfluss fuer meine Aussenpolitik zunutze gemacht.

    VORGOV Was ich meine ist, inwieweit Ruhm- oder Geltungssucht Ihr Handeln bestimmt hat. Ob nicht Ihr einziges Ziel darin bestand, sich persoenlich vor der Weltgeschichte zu profilieren?

    GORBATSCHOW Ich bestreite dies.

    WARENNIKOV Sie koennen viel bestreiten. Es ist doch offenkundig! Hochverrat aus Eitelkeit! Und dabei haben Sie die Unergang unseres Landes in Kauf genommen. Den inneren Zerfall, Zunahme der Kriminalitaet, der Prostitution, des Drogenhandels, Verlust aller Werte, die Abspaltung der Republiken ... Seien Sie sicher, man wird Sie dafuer zur Rechenschaft ziehen. Und wenn die Gerichte dazu nicht in der Lage sind, wird die Partei selbst das Urteil faellen.

    GORBATSCHOW Ja, ich bin an allem Schuld. Als naechstes werfen Sie mir das schlechte Wetter vor oder, ... oder den Rueckzug aus Afghanistan.

    PUTOV Niemand bezweifelt, dass Afghanistan eine weise Entscheidung war, Genosse.

     

     

  11. Szene
  12. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 6. TAGES: SAPAD, ETO CHARASCHO. - IST DER WESTEN DAS GUTE?

    (Warennikov allein auf der Buehne. Er spricht in das Mikrofon des Aufzeichnungsgeraetes)

    WARENNIKOV Ich komme jetzt zur Zusammenfassung meiner Ausfuehrungen. Aus dem Gesagten ergibt sich: erstens, der Marxismus-Leninismus muss in unserem Land wieder die fuehrende Rolle uebernehmen. Das heisst, weg mit dem Vielparteiensystem, der Pressefreiheit und dem Pluralismus, weg mit dem kranken und krankmachenden Gezaenk der politischen Richtungen. Die Partei muss wieder zum Rueckgrat des Staates werden. Zweitens, Partei und Regierungsapparat muessen von verderbten Elementen radikal gereinigt werden, und zwar bis auf die unterste Ebene.Drittens, dies alles kann nur durch eine neue Fuehrungsmannschaft erreicht werden. Viertens, Gorbatschow als Anstifter der Subversion muss durch ein ordentliches Gericht verurteilt werden, ein einfaches Untersuchungsverfahren gegen ihn reicht nicht aus. Das Urteil sollte eine abschreckende Wirkung haben. - Ich hoffe, dass meine offene Analyse der Nachwelt ein besseres Zeugnis gibt als ...

    (Vorgov erscheint in der Tuer)

    VORGOV Sie sind noch bei Ihrem persoenlichen, aeh, Bekenntnis?

    WARENNIKOV Nein, nein. Ich bin fertig. Kommen Sie nur herein.

    VORGOV (blickt auf die Uhr) Die anderen muessten auch bald hier sein. - Nun, wie sind Sie mit dem Verlauf der Vernehmungen zufrieden.

    WARENNIKOV Es koennte besser laufen. Die Zeugen sind ... naja, und Gorbatschow ist viel zu selbstbewusst. Er tut so, als ob er immer noch der grosse Vorsitzende ist.

    VORGOV Was soll man machen? Er ist es gewohnt, der Chef zu sein.

    WARENNIKOV Wir gehen viel zu zimperlich mit ihm um. Meines Erachtens muesste man ganz andere Massnahmen ergreifen. Auch Prokofjew ist dieser Meinung.

    VORGOV Sie haben mit Prokofjew gesprochen?

    WARENNIKOV Wir haben uns auf dem Flur getroffen, als er ankam.

    VORGOV Er ist ein echter Lichtblick, oder?

    WARENNIKOV Ja, nicht wahr.

    VORGOV Leider der einzige im Notstandskommittee mit konsequent kommunistischen Ansichten.

    WARENNIKOV Eine Ärgernis sondergleichen. Ich kann nicht verstehen, wie sich die Kommunisten so in die Ecke draengen lassen.

    VORGOV Von Jasow hatte ich mehr erwartet.

    WARENNIKOV Ich kenne Jasow. Er ist alt und nicht mehr so durchsetzungsstark wie frueher. Die Jahre unter Gorbatschow haben uns allen geschadet.

    VORGOV Was ist Prokofjews Meinung? Wie geht es in Moskau voran?

    WARENNIKOV Schleppend. Sein Einfluss im Kommittee ist begrenzt. Die Mehrheit will eine parteiuebergreifende Loesung. Es gibt aber eine noch schlimmere Tendenz.

    VORGOV Und welche?

    WARENNIKOV Die allgemeine Lustlosigkeit. Krjutschkow hat angeblich in kleiner Runde geaeussert, er bereue den Coup.

    VORGOV Hat er auch gesagt, warum?

    WARENNIKOV Ja. Weil er nur an seine Karriere gedacht habe und nicht ueberlegt, was auf ihn zu kommt.

    VORGOV Das hoert sich nicht gut an.

    WARENNIKOV Prokofjew meint, es besteht die grosse Gefahr, dass sie Jelzin das Feld ueberlassen. Und was dann geschieht ...

    VORGOV Ich kenne Jelzin. Seine Radikalitaet ist nur Show. In Wirklichkeit ist er Realpolitiker.

    WARENNIKOV Prokofjew meint, wenn dieser Fall eintritt, muss schnell etwas unternommen werden, um wenigstens das Problem Gorbatschow aus der Welt zu schaffen. Sonst haben wir ihn noch jahrelang am Hals.

    (Die anderen kommen herein. Ein kurzes Schweigen. Dann beginnt Gorbatschow ungefragt zu sprechen.)

    GORBATSCHOW Sie haben mich gestern nach den Prinzipien meiner Aussenpolitik gefragt. Neben der Gewaltfreiheit war das die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheit anderer Staaten.

    VORGOV Womit der Boden der Breschnew-Doktrin verlassen wurde.

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Fuer das Protokoll: Was besagte die Breschnew-Doktrin?

    GORBATSCHOW Sie betraf unsere Verbuendeten und besagte, dass bei Anzeichen eines Ausscherens aus dem Warschauer Pakt militaerisch zu intervenieren ist. Sie rechtfertigte insbesondere den Einmarsch in Prag 1968.

    STAGOV Plechanow hat ausgesagt, Sie haetten Druck auf die DDR-Fuehrer ausgeuebt? Widerspricht das nicht dem Prinzip der Nichteinmischung?

    GORBATSCHOW Wir haben keinerlei Druck ausgeuebt, jedenfalls nicht mehr als zulaessig.

    STAGOV Plechanow hat das Gegenteil behauptet.

    GORBATSCHOW Man muss sich die damalige kritische Lage vor Augen halten. Wir wollten zwar auf keinen Fall intervenieren, beobachteten aber zwei Tendenzen mit grosser Sorge.

    STAGOV Welche?

    GORBATSCHOW Die Stimmung in der Bevoelkerung und die Stimmungen Honeckers.

    STAGOV Was war an Honeckers Stimmung so besorgniserregend?

    GORBATSCHOW Ich meine nicht nur Honecker. Die damalige DDR-Fuehrung war eine Riege von Greisen, die es gewohnt waren, von uns Befehle in Empfang zu nehmen. Kein Wunder, dass sie kopfscheu wurden, als die Befehle ausblieben und zur gleichen Zeit das Volk auf die Strassen ging. Es bestand die grosse Gefahr, dass sie militaerisch gegen die Demonstranten vorgehen.

    STAGOV Was haben Sie gegen diese 'Gefahr' unternommen?

    GORBATSCHOW Wir haben Ihnen zu verstehen gegeben, dass Gewaltanwendung der neuen Politik widerspricht. Ausserdem haben wir natuerlich versucht, sie zu beruhigen.

    STAGOV Waere es fuer die DDR-Fuehrung nicht ein leiches gewesen, zumindest in der Anfangsphase, die Konterrevolution im Keim zu ersticken?

    GORBATSCHOW Vielleicht. Ich weiss nicht.

    STAGOV Aber es widersprach Ihren Prinzipien.

    GORBATSCHOW Unser Prinzip war die Nichteinmischung.

    STAGOV Jedenfalls haben Sie sich Sorgen gemacht, Honecker koenne sich fuer die militaerische Option entscheiden.

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Grosse Sorgen?

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV So dass Sie Krenz anstifteten, ihn zu stuerzen.

    GORBATSCHOW Wir haben niemanden zu irgendetwas angestiftet.

    STAGOV Ist 'ermutigt' das bessere Wort?

    GORBATSCHOW Ich sagte doch, ich habe mich nicht eingemischt. Natuerlich war ich froh, als Krenz Generalsekretaer wurde. Ich hielt ihn fuer einen besonnenen Politiker, der die Lage schnell in den Griff bekommen wuerde.

    STAGOV Ein Irrtum.

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Irrtum aufgrund mangelnder Weitsicht oder bewusstem Augen-verschliessen?

    VERTOTSKI Einspruch, Herr Vorsitzender.

    VORGOV Einspruch stattgegeben.

    STAGOV Haben Sie sich mit Krenz abgestimmt?

    GORBATSCHOW Ja, natuerlich. Wir haben mit ihm Gespraeche gefuehrt. Er schien fuer alles offen und durchaus in der Lage, Glasnost und Perestroika in der DDR einzufuehren.

    STAGOV Warum hat er sich dann nur ein paar Monate halten koennen?

    GORBATSCHOW Es gab einen immensen Druck von der Strasse. Die Leute trauten ihm nicht, weil er in ihren Augen zum alten Regime gehoerte. Leider wurden sie vom westdeutschen Fernsehen in ihrer Haltung bestaerkt.

    STAGOV Haette man diese Entwicklung nicht vorhersehen koennen?

    GORBATSCHOW Vielleicht. Ich weiss nicht.

    STAGOV Wuerden Sie im Nachhinein sagen, man haette Krenz zu einem entschiedeneren Vorgehen raten sollen.

    GORBATSCHOW Das war allein eine Entscheidung der SED. Die SED hat sich zu einer Koalition mit den neuen demokratischen Parteien entschieden, in welcher fuer Krenz kein Platz war.

    STAGOV Warum war fuer ihn kein Platz?

    GORBATSCHOW Wie ich schon sagte, die anderen Parteien trauten ihm nicht. Er war ein Zoegling Honeckers. Man beschloss, ihn durch Modrow zu ersetzen.

    STAGOV Bei naechster Gelegenheit wurde die SED dann das Opfer ihrer eigenen Beschwichtigungspolitik. Bitte berichten Sie, wie Sie das erlebt haben.

    GORBATSCHOW Wir hatten mit Modrow dieselben guten Kontakte wie mit Krenz, und waren ueber seine Ideen bezueglich einer Konfoederation von BRD und DDR genau informiert. Wir dachten, alles liefe in einem ruhigen Gleis und wurden von Kohls 10-Punkte Plan voellig ueberrascht.

    STAGOV Was hatte es mit diesem Plan auf sich?

    GORBATSCHOW Ende November 1989 kam Kohl ploetzlich mit einem voellig neuen Vorschlag, mit massiven Forderungen an die DDR Regierung, die mit uns in keiner Weise abgestimmt waren. Sie liefen auf baldige Wiedervereinigung hinaus und bedeuteten einen massiven Eingriff in die Souveraenitaet der DDR-Regierung.

    STAGOV Warum, glauben Sie, sind Sie von ihm nicht rechtzeitig informiert worden?

    GORBATSCHOW In Westdeutschland standen Wahlen vor der Tuer. Anscheinend wollte er sich vor den Hardlinern seiner Partei profilieren.

    STAGOV Ein Grund, die Sowjetunion hinters Licht zu fuehren?

    GORBATSCHOW Nein. Ich muss sagen, ich bin in diesem Punkt von ihm getaeuscht worden. Ich glaube, es war Anfang November, also knapp 14 Tage vor dem 10-Punkte-Plan, da habe ich mit ihm telefoniert, und er hat mich in allem voellig beruhigt und nichts von seinen Absichten verlauten lassen. - Allerdings muss man sehen: Ueberall in der DDR brodelte es. Kohl wie auch Modrow standen unter enormem Druck. Das Land stand kurz vor der Zahlungsunfaehigkeit. Jeden Tag zogen 2000 DDR-Buerger auf dem Umweg ueber die Botschaft in Budapest gen Westen.

    STAGOV Trotz aller Zugestaendnisse, die der Bevoelkerung gemacht worden waren. Wuerden Sie das nicht als Argument gegen ihre Art der Politik werten?

    GORBATSCHOW Nein. Das waren die Folgen jahrzehntelanger Unterdrueckung durch Breschnew und Stalin. Die Ostdeutschen sind uns Russen gegenueber aeusserst negativ eingestellt und wollten uns so schnell wie moeglich los sein. Allerdings war ich ueber das eigenmaechtige westdeutsche Vorgehen veraergert.

    STAGOV Sie waren veraergert. Aber was fuer Konsequenzen haben Sie gezogen?

    GORBATSCHOW Wir haben uns mit der deutschen Regierung in Verbindung gesetzt, und ihr klargemacht, dass eine Politik des Vertrauens anders aussieht. Ich hatte eine ziemlich scharfe Auseinandersetzung mit Genscher, der dann nach Moskau kam. Ich habe gesagt, eine Wiedervereinigung kommt fuer mich nur bei strikter Neutralitaet in Frage, das heisst Austritt aus der NATO.

    STAGOV Sonst haben Sie nichts unternommen?

    GORBATSCHOW Was haette ich Ihrer Meinung nach tun sollen?

    VORGOV Bitte Genosse. Das ist keine Frage, die der Staatsanwalt beantworten kann.

    STAGOV Vielleicht sollte ich im Konjunktiv fragen. Koennte ein unvoreigenommener Beobachter nicht den Schluss ziehen, da Sie mit Ihrer Deutschlandpolitik bereits Monate vorher in eine Sackgasse geraten waren, blieb an einem bestimmten Punkt nichts anderes uebrig, als sich zurueckzulehnen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, wenn man keinen Buergerkrieg riskieren wollte? Koennte der unvoreingenommene Beobachter nicht den Eindruck gewinnen, Sie haetten es bewusst soweit kommen lassen?

    GORBATSCHOW Es gab einen breiten Konsens in der Partei, dass wir den Dingen ihren Lauf lassen mussten, wie Sie es nennen. Ende Januar letzten Jahres hatte ich eine Besprechung mit Ryschkow, Schewardnadse, auch Krjutschkow war dabei, den Sie hier dauernd als Vorbild preisen, wo wir gemeinsam festgestellt haben: Erstens, die Wiedervereinigung ist unvermeidlich, und zweitens, der Rueckzug der sowjetischen Truppen aus der DDR ist dringend zu pruefen, mit allem was dazugehoert, einschliesslich der komplizierten Logistik, und auch den sozialen Folgen, die das haben wuerde. Ich meine die vielen Soldaten, die bei uns jetzt auf der Starsse stehen usw. Drittens haben wir vorgeschlagen ...

    STAGOV Mussten Sie nicht befuerchten, dass die leeren sowjetischen Kasernen in Ostdeutschland umgehend von den Amerikanern eingenommen werden?

    GORBATSCHOW Nein. Wir haben gefordert, keine NATO-Soldaten auf dem Boden der DDR, und Bush hat mir das verbindlich zugesichert.

    STAGOV Hat er sich daran gehalten?

    GORBATSCHOW Soweit ich informiert bin, ja.

    STAGOV Aber Bundeswehrsoldaten duerfen dort einziehen.

    GORBATSCHOW Es ist das gute Recht der Deutschen als souveraene Nation, eigene Truppen auf ihrem Territorium zu stationieren.

    STAGOV Die Deutschen haben den Weltkrieg angezettelt und verloren. Darf man ihnen solche Rechte nicht beschneiden?

    GORBATSCHOW Der Weltkrieg ist lange vorbei. Sie haben ihren Militarismus abgelegt.

    STAGOV Was ist bei der erwaehnten Besprechung mit Krjutschkow und Schewardnaze noch herausgekommen? Sie haben gesagt 'Drittens...'

    GORBATSCHOW Ach ja. Wir sind auf die Idee mit den 2+4-Gespraechen gekommen. In Uebereinstimmung mit Krjutschkow, wie ich betonen moechte. STAGOV Was verstanden Sie unter 2+4?

    GORBATSCHOW Wir meinten, ueber die inneren Aspekte der Vereinigung sollen die Deutschen selbst entscheiden. Was darueber hinaus geht, muss mit den Siegermaechten des 2.Weltkrieges abgesprochen werden, also Frankreich, England, Amerika und Sowjetunion.

    STAGOV Also doch der 2.Weltkrieg?

    GORBATSCHOW Ja. Auf dieser Ebene ja.

    VORGOV Wenn ich kurz zwischenfragen duerfte. 2 plus 4, das macht 6.Sechs Delegationen, aber nur ein Stimme fuer die UDSSR. Glauben Sie, ein anderer Staatsmann haette sich mit solchen Randbedingungen zufrieden gegeben?

    GORBATSCHOW Ich habe Ihnen doch erklaert, eine Politik des gegenseitigen Vertrauens ... Im Februar kam Baker nach Moskau. Er hat unseren Vorschlaegen zugestimmt und geschworen, dass die USA sich keine Vorteile aus der Entwicklung in Deutschland verschaffen werden.

    STAGOV Koennte der unbeteiligte Beobachter nicht der Ansicht sein, dass Sie die ganze Zeit nur beschwichtigt und am Ende ueber den Tish gezogen worden sind - wie direkt nachweisbar im Falle Kohl.

    GORBATSCHOW Nein. Ich kenne Kohl aus vielen Gespraechen und halte ihn im Grunde fuer vertrauenswuerdig.

    STAGOV Trotz seines 10-Punkte-Plans?

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Ein bisschen naiv.

    GORBATSCHOW Nein. Ich sagte schon, Kohl stand damals maechtig unter Druck, ich meine von seiten seiner Landsleute. Er ist sogar von den westlichen Verbuendeten angegriffen worden, zum Beispiel im Figaro, er haette mit dem 10-Punkte-Plan die Grundlage der NATO verlassen, weil die Nato-Vertraege die deutsche Teilung voraussetzten.

    STAGOV Also gut. Kohl war fuer mich nur ein Beispiel. Eigentlich geht es mir um die Zugestaendnisse, die Sie bei den 2+4 Gespraechen gemacht haben. Hat nicht die Wiedervereinigung der Nato das Tor nach Osten geoeffnet?

    GORBATSCHOW Nein. Das Gebiet der ehemaligen DDR ist bis heute neutrales Territorium, auf dem weder die Truppen noch die Rechtsprechung der Nato erlaubt sind.

    PUTOV Der KGB hat Informationen, dass die Nato sich nach Osten ausdehnen will.

    GORBATSCHOW Ich kann mir das nicht vorstellen. Das waere ein Bruch ihrer Versprechungen.

    STAGOV Koennte der unvoreingenommene Beobachter nicht meinen, dass niemand so naiv sein kann wie Sie es gewesen sind, und andere Motive hinter Ihrem Handeln vermuten?

    GORBATSCHOW Sie sprechen von Naivitaet ... Am Ende werden Sie sehen, dass ich recht behalte.

    STAGOV Warum haben Sie nicht auf der Forderung nach Neutralitaet Gesamtdeutschlands bestanden?

    GORBATSCHOW Ich denke, diese Forderung war von vornherein utopisch. Und auch gar nicht wuenschenswert.

    STAGOV An Genscher haben Sie sie gestellt.

    GORBATSCHOW Die deutsche Neutralitaet ist ein langgehegter, auch von mir gehegter, russischer Traum. Aber die Amerikaner haben mich ueberzeugt, dass sie keineswegs ideal fuer uns waere.

    STAGOV Bei welcher Gelegenheit hat man Sie ueberzeugt?

    GORBATSCHOW Baker kam nach Moskau und wir hatten ein ziemlich langes Gespraech.

    STAGOV Das Gespraech im Kradnoworskaja-Park, das Plechanow erwaehnt hat?

    GORBATSCHOW Ja.

    STAGOV Plechanow hat es als 'ominoes' bezeichnet. Ist es ominoes, solche wichtigen Besprechungen auf Parkspaziergaengen abzuhalten?

    GORBATSCHOW Nein. Vielleicht hatte ich eine unbewusste Ahnung, dass ich abgehoert werde.

    STAGOV Warum wollten Sie nicht abgehoert werden?Gab es etwas zu verbergen?

    GORBATSCHOW Es gab absolut nichts zu verbergen. Ich habe lediglich etwas dagegen, wenn wichtige Gespraeche von Unbekannten belauscht werden.

    STAGOV Schon gut. Wie hat Baker Sie ueberzeugt, dass Deutschland in der Nato bleiben muesse?

    GORBATSCHOW Er hat mich nicht von der Nato ueberzeugt. Er hat aber zurecht argumentiert, dass ein neutrales Deutschland auch grosse Nachteile haette, nach allem, was man aus der Geschichte weiss.

    STAGOV Vorhin haben Sie gesagt, die Deutschen haetten ihrenMilitarismus abgelegt.

    GORBATSCHOW So ist es. Und das Land ist auch keineswegs von geostrategischer Bedeutung. Trotzdem muss man es im Auge behalten. Deutschland ist eine Mittelmacht, eine ziemlich einflussreiche Mittelmacht, und die Existenz eines neutralen Deutschlands wuerde Unsicherheiten mit sich bringen, insoweit stimme ich mit den Amerikanern ueberein. Natuerlich habe ich gegen die westlichen Vorstellungen opponiert, und gefordert, dass sowohl Nato als auch WVO durch eine neue gesamteuropaeische Sicherheitsstruktur ersetzt werden.

    STAGOV Die Amerikaner haetten dem wohl kaum zugestimmt.

    GORBATSCHOW Fuer die Amerikaner war das einer dieser voellig neuen Gedanken, an die sie sich wie alle Konservativen nur schwer gewoehnen koennen.

    STAGOV Es ist doch klar, warum die Amerikaner gegen die deutsche Neutralitaet sind. Sie fuerchten, Russland koenne auf lange Sicht einen Keil zwischen sie und die Deutschen treiben.

    GORBATSCHOW Mag sein. Dennoch bin ich ueberzeugt, dass ein gesamteuropaeisches Buendnis am Ende kommen wird. Wir leben im gemeinsamen Haus Europa, und auch wenn wir Russen es im Moment schwer haben, aus Gruenden, die in der Geschichte zu suchen sind. Eines Tages werden wir zu diesem Buendnis dazugehoeren.

    STAGOV Ein Buendnis unter Vorherrschaft der Amerikaner?

    GORBATSCHOW Jedes Land wird sein eigenes Gewicht einbringen.

    STAGOV Unseres ist im Moment nicht besonders gross.

    WARENNIKOV Was Ihre Schuld ist. Sie haben den Niedergang der Sowjetunion zu verantworten.

    GORBATSCHOW In diesem Punkt werden wir uns nicht einigen.

    WARENNIKOV Wie auch immer. Das Ergebnis Ihrer Aussenpolitik ist klar: wir sind draussen und die Amerikaner sind drin. Und das nicht nur in der DDR. Auch Polen und Ungarn, Tschechien und das Baltikum haben wir verloren, alle Errungenschaften des grossen vaterlaendischen Krieges.

    GORBATSCHOW Laender, die wir jahrzehntelang mit Gewalt an einer eigenstaendigen Entwicklung gehindert haben.

    WARENNIKOV Laender, die ein Puffer zwischen uns und den Imperialisten gewesen sind.

    GORBATSCHOW Am Ende wird sich ein Gleichgewicht des Friedens in Europa einstellen, glauben Sie mir. -

    STAGOV Noch einmal zurueck zu den Vorgaengen vor der Wiedervereinigung. Ich habe mich informiert. Der eigentliche Schlag wurde der SED nicht durch Kohls 10-Punkte-Plan, sondern durch die Volkskammerwahl im Maerz 1990 versetzt. - Es war das uebliche Spiel: Die Mehrheit wurde mit falschen Verheissungen gelockt. Dasselbe Prinzip, nach dem die Demokraten hier bei uns auf Stimmenfang gehen. Ich kann nicht verstehen, dass Sie es blauaeugig zugelassen haben, dass Bonn antikommunistische Kraefte bei der Volkskammerwahl so massiv unterstuetzt. DAS war doch eine Einmischung in innere Angelegenheiten, und fuehrte dazu, dass diese Kraefte zwei Drittel der Stimmen erhielten, was das Schicksal der Modrowregierung besiegelte.

    GORBATSCHOW Ich habe das Verhalten der westdeutschen Parteien verurteilt und mich offiziell bei Kohl und den Allierten beschwert.

    VORGOV Ansonsten haben Sie wieder die Haende in den Schoss gelegt.

    GORBATSCHOW Was hatten wir denn fuer Druckmittel in der Hand? Falin hat versucht, Ihnen einzureden, unsere Militaers seien unberechenbar, und im Falle einer Wiedervereinigung koenne er fuer nichts garantieren. Es gebe Miglieder im Politbuero, die mich entmachten wollten und auch einen dritten Weltkrieg in Kauf nehmen wuerden. Aber Kohl wusste, wie es bei uns aussieht und hat die Drohungen nicht ernst genommen.

    PUTOV Wenn ich fragen darf, wer ist Falin?

    VORGOV Unser ehemaliger Botschafter in Deutschland.

    PUTOV Der Falin, der morgen als Zeuge hier auftreten wird?

    VORGOV Genau der.

    STAGOV Ich frage Sie nochmals, naehrt Ihre Untaetigkeit nicht den Verdacht, dass Sie insgeheim im Auftrag fremder Staaten handelten?

    GORBATSCHOW Ich wuesste nicht, warum.

    STAGOV Von den Deutschen wurde die Einheit als grosses Geschenk gefeiert. Als ein Geschenk, das SIE ihnen gemacht haben, und zwar auf Kosten russischer Interessen.

    GORBATSCHOW Das ist eben der alte Irrtum. Ein falsches, ueberholtes Verstaendnis russischer Interessen. Warum sollen wir ihnen die Einheit missgoennen?

    STAGOV Gegenfrage: Die Deutschen haben den Krieg verloren. Warum sollen wir sie auf diese Weise entschaedigen?

    GORBATSCHOW Ich denke nicht, dass die Einheit eines Volkes von so grosser Bedeutung ist, wie die Nationalisten sagen. Aber es gibt das Selbstbestimmungsrecht der Voelker, das im Kern ein Selbstbestimmungsrecht der Buerger eines Volkes ist, und da die ueberwaeltigende Mehrheit fuer den Zusammenschluss war ...

    (Das Telefon laeutet. Vorgov nimmt den Hoerer ab.)

    VORGOV Was meinen Sie? - Ja, ist gut. Ja, in Ordnung. Ich kuemmere mich darum. (legt auf) Genossen, ich wuerde die Sitzung aus dringendem Anlass gern fuer eine halbe Stunde unterbrechen. Das heisst, wenn keine wichtigen Fragen mehr sind.

    PUTOV Ich haette eine kurze Frage zur Breschnew-Doktrin. Was mich interessieren wuerde: Haben Sie sich wirklich von Anfang an von der Breschnew-Doktrin verabschiedet?

    GORBATSCHOW Was meinen Sie mit 'von Anfang an'?

    PUTOV Ich meine, gleich als Sie Ihr Amt antraten. Oder hat sich Ihre Haltung im Laufe der Jahre geaendert?

    GORBATSCHOW Die Grundhaltung war von Anfang an da. Allerdingshabe ich nicht damit gerechnet, dass die ostdeutsche Bevoelkerung das SED-System so vehement ablehnt.

    PUTOV Sie haben die Erhaltung der DDR also nicht von vornherein fuer aussichtslos gehalten?

    GORBATSCHHOW Richtig.

    PUTOV Gab es einen Punkt, wo Sie gesagt haben, lasst die Leinen los?

    GORBATSCHOW Ja und nein. Ich wusste intuitiv, so weit wie Breschnew in Prag wuerde ich nie gehen. Vielleicht haben die Voelker das gespuert und ihren Druck solange erhoeht, bis sie frei waren. Ich erinnere mich, beim Ansturm auf die Budapester Botschaft, Genscher hat mich angerufen und ueber die Situation informiert. Und das war fuer mich so ein Punkt, wo ich eingesehen habe, da ist nichts mehr zu machen. - Um auf die Zeit kurz nach meinem Amtsantritt einzugehen: Natuerlich war es ein grundsaetzliches Problem fuer mich, dass ich meine Ueberzeugungen nicht von einem Tag auf den anderen realisieren konnte, sondern mich mit manchen Gegebenheiten arrangieren musste. Ich haette gern vieles sofort in Angriff genommen, hatte aber ein schwieriges Erbe uebernommen und konnte gewisse eingefahrene Muster oder Reflexe nicht gleich abschaffen. Unser Vorgehen in Litauen oder in Tiflis hat mir keineswegs behagt. Aber ich musste es eine Zeitlang hinnehmen, auch wenn ich offiziell dafuer verantwortlich war. Oder die schaebigen kleinen Tricks des Geheimdienstes, es gab sie auch unter meiner Fuehrung. Militaer und KGB haetten es sich nicht bieten lassen, wenn ich mich ueberall eingemischt haette. Was glauben Sie, hat es mich an Ueberzeugungsarbeit gekostet, unsere Truppen aus Afghanistan abzuziehen?

     

     

  13. Szene
  14. Es wird der folgende Text projiziert: AUS DEM VERHOER DES 7. TAGES

    (Putov und Vorgov allein im Verhandlungszimmer. Putov spricht ins Telefon.)

    PUTOV Ja, Boris Nikolajewitsch. Ich werde es ausrichten. Bis morgen dann. (Legt den Hoerer auf.)

    VORGOV Haben Sie ihm ins Gewissen geredet?

    PUTOV (lacht) Er ist sie alle los. Auf einen Schlag.

    VORGOV Das kann er nicht machen.

    PUTOV Habe ich ihm auch gesagt. Ich habe gesagt, das kannst du nicht machen, Boris. Soviel Ruecksicht, wie sie auf dich genommen haben. - Er macht es trotzdem. Er ist einfach so. Warum teilen, hat er mich gefragt, wenn man das ganze Steak haben kann?

    VORGOV Ich glaube es nicht. - Haben Sie nicht versucht, ihn umzustimmen?

    PUTOV Natuerlich habe ich es versucht; aber keine Chance.

    VORGOV Ich habe mir gleich gedacht, dass es klueger gewesen waere, in Moskau zu bleiben. Sie und ich, wir haetten ganz gut zwischen den Hardlinern vermitteln koennen.

    PUTOV (schuettelt den Kopf) Wenn ueberhaupt, wuerde sich Jelzin nur durch harte Fakten umstimmen lassen. Die Fakten sprechen dagegen. Erstens: Das Kommittee besteht in seinen Augen aus lauter Feiglingen und Flaschen, die mit wirren Dekreten um sich schiessen, sich aber nicht trauen, richtig Druck auszuueben. Zweitens: Er weiss, die Bevoelkerung ist strikt gegen Verhandlungen mit dem Kommittee. Er wuerde sich kompromittieren und den Status des Volkshelden verlieren.

    VORGOV Fuer mich ist das eine Art von Verrat. Krjutschkow und Jasow sind serioese Maenner, die sich nie auf einen Staatsstreich eingelassen haetten, wenn Sie nicht angenommen haetten, dass Jelzin bereit ist, mit ins Boot zu steigen. Sie glaubten ...

    PUTOV Glauben! Annehmen! Wenn sie wirklich serioes waeren, haetten sie sich auf ein derartiges Vabanque-Spiel nicht eingelassen.Er sagt, es gibt keinerlei feste Abmachungen.

    VORGOV Mag sein. Aber was sollten Sie tun? Gorbatschow hatte bereits verschiedene Leute entlassen, als naechstes sollten Krjutschkow und Jasow dran glauben. Sie mussten handeln, wenn Sie ihr Dasein nicht als Rentner beschliessen wollten.

    PUTOV Da haben sie jetzt die besten Aussichten. Es koennte allerdings ein recht beengtes Dasein in einer Gefaengniszelle werden.

    VORGOV Keine Witze, Oberst.

    PUTOV Ich gebe ja zu. Geheimdienst- und Militaer-Chef gleichzeitig abzusetzen, dazu gehoert schon Chuzpe.

    VORGOV Oder Dummheit.

    PUTOV Ihm blieb nichts anderes uebrig. Die Entlassungen waren mit Jelzin ausgehandelt.

    VORGOV Zumindest hat Plechanow das behauptet.

    PUTOV Jelzin ist jedenfalls froh, wenn er die Leute los wird, und fragt sich natuerlich zurecht, warum er ihnen aus der Patsche helfen soll. Es gibt keinen Grund dafuer.

    VORGOV Weil nach Gorbatschows Abgang die Karten neu gemischt werden.

    PUTOV Ja, und zwar von Jelzin, wie es im Moment aussieht.

    VORGOV Das heisst, wir muessen damit rechnen, naechste Woche alle hinter Gittern zu sitzen.

    PUTOV Ueber den begangenen Verfassungsbruch muss sich jeder im klaren sein.

    VORGOV Jelzin ist doch am Verfassungsbruch genauso beteiligt, wenn er die Uebergabe aller Machtstrukturen an seine Regierung fordert. Damit zerstoert er das Modell 'Sowjetunion'.

    PUTOV Jelzins Sieg ist die logische Konsequenz aus dem Versagen des Kommittees, und keineswegs ein Verfassungsbruch. Der Unionsvertrag ist doch gar nicht unterschrieben worden. Es ist das gute Recht der wichtigsten Teilrepublik, also Russlands, ihren eigenen Weg zu gehen.

    VORGOV Mit Jelzin als Praesident.

    PUTOV Natuerlich.

    VORGOV Und dem Kommittee im Gefaengnis.

    PUTOV Gut moeglich.

    VORGOV Schoene Aussichten.

    PUTOV Das haben Sie sich mit ihrer unueberlegten Aktion selbst zuzuschreiben. Allerdings, wenn es zu keinem Blutvergiessen kommt, und davon gehe ich aus, werden am Ende wohl kaum lange Strafen verhaengt.

    VORGOV Noch weigere ich mich, diese Konsequenzen zu akzeptieren. Vielleicht hat Prokofjew doch noch Truempfe in der Hand.

    PUTOV Wir werden sehen.

    (Vorgov oeffnet die Tuer und holt die anderen herein. Man setzt sich.)

    VERTOTSKI Wenn es moeglich ist, Herr Vorsitzender, wuerden wir es vorziehen, nach Falin Schewardnaze hier im Zeugenstand zu haben.

    VORGOV Das ist sicher moeglich. Koennen Sie ihn erreichen?

    VERTOTSKI Das ist kein Problem. Er haelt sich im Hotel Lobkowitz bereit. Hier ist seine Telefonnummer. (Er gibt den Wachtposten einen Zettel)

    VORGOV Bevor wir Falin hereinholen, moechte ich Sie bitten, Ihre Befragung zu straffen, da wir etwas unter Druck stehen, unter Zeitdruck meine ich. - Also, wenn Falin bereit ist, dann bitten wir ihn in den Zeugenstand.

    (Falin wird hereingebeten.)

    VORGOV Bitte. - Genosse Falin, wollen Sie unter Eid aussagen.

    FALIN Ja.

    VORGOV Dann schwoeren Sie, dass Sie die Wahrheit sagen werden.

    FALIN Ich schwoere.

    VORGOV Sie haben einige Jahre als Botschafter der Sowjetunion in Bonn gearbeitet.

    FALIN Ja, von 1971 bis 78.

    VORGOV Und sind seit 1986 Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkommittees.

    FALIN So ist es.

    VORGOV Dann bitte, Genosse Stagov, Ihre Fragen.

    STAGOV Genosse Falin. Kann man sagen, als Bonner Botschafter waren Sie unser wichtigster Mann im Westen.

    FALIN Das kann man moeglicherweise sagen.

    STAGOV Ein exzellenter Deutschlandkenner.

    FALIN Ja.

    STAGOV Gab es Rivalitaeten mit unserem Vertreter in Ostberlin.

    FALIN Eigentlich nicht. Er hatte die eng begrenzte Aufgabe, in Ostdeutschland Partei und Regierung zu beaufsichtigen.

    STAGOV Sie haben Ihren Posten waehrend der sogenannten Entspannungspolitik innegehabt. Danach sind Sie abgeloest worden und in der Versenkung verschwunden.

    FALIN Nun, nicht gerade in der Versenkung.

    STAGOV Bis Gorbatschow Sie 1988 ueberraschend ins ZK berufen hat.

    FALIN Fuer mich kam das keineswegs ueberraschend.

    STAGOV Ich meinte, weil gleichzeitig andere, verdiente Leute im selben Alter entlassen wurden. Ausserdem waren Sie, wenn man so sagen darf, ein Schuetzling Gromykos.

    FALIN Ich war kein Schuetzling. Ich kam mit Gromyko gut aus, jedenfalls in den 70ern. Spaeter weniger. Ich komme mit Gorbatschow gut aus. Ich komme mit den meisten Menschen gut aus. Das ist alles.

    STAGOV Kommen Sie auch mit Jelzin gut aus.

    FALIN Mit Jelzin? Ja. - Auch mit Prokofjew.

    STAGOV Gibt es ueberhaupt jemanden, mit dem Sie nicht auskommen?

    FALIN Eigentlich nicht.

    VORGOV Herr Staatsanwalt, ich weiss nicht, was diese Fragen mit unserem Thema zu tun haben?

    STAGOV Entschuldigen Sie. Jedenfalls kann man sagen, Sie waren mit Gorbatschow vertraut genug, um alle aussenpolitischen Probleme mit Ihm zu besprechen.

    FALIN Was Westeuropa betraf, auf jeden Fall.

    STAGOV Genau wie frueher mit Gromyko.

    FALIN Ja.

    STAGOV Hat Gromyko je die deutsche Wiedervereinigung ins Auge gefasst?

    FALIN Eigentlich nicht. Wenn ueberhaupt, dann nur zu unseren Bedingungen, also entsprechend den Vorschlaegen, die Stalin Adenauer gemacht hatte. Wir waren mit dem Status Quo recht zufrieden, besonders nach Brandts Ostvertraegen. Wir hatten mehr als genug investiert - ich meine auch nachrichtendienstliche Massnahmen - um eine CDU-Regierung zu verhindern, die die Vertraege rueckgaengig gemacht haette. Warum sollten wir uns mit Diskussionen ueber die deutsche Einheit beschweren.

    STAGOV Wie oft haben Sie mit Gorbatschow die deutsche Einheit eroertert?

    FALIN Sehr oft. Spaetestens seit die Ostdeutschen sie mit ihren Demonstrationen auf die Tagesordnung gebracht hatten. Wir versuchten, einen Weg zu finden, sie zu vermeiden.

    STAGOV War Gorbatschow besorgt wegen der Entwicklung?

    FALIN Sehr.

    STAGOV Hielten Sie es fuer moeglich, sie aufzuhalten?

    FALIN Ja.

    STAGOV Hielten es andere ZK-Mitlgieder auch fuer moeglich?

    FALIN Ja.

    STAGOV Was waren die Argumente, die man vorbrachte?

    FALIN Da war nicht viel zu argumentieren. Die DDR gehoerte zu unserem Buendnis.

    STAGOV Sind Sie der Ansicht, dass Gorbatschow sich einer Straftatschuldig gemacht hat, als er auf die sowjetischen Ansprueche verzichtete?

    FALIN Ich bin mir nicht sicher. Wissentlich wohl nicht.

    STAGOV Und unwissentlich?

    FALIN Es sind Vertraege gebrochen worden, soviel ist klar.

    STAGOV Danke, Genosse Falin, das wars schon. Ihr Zeuge, Herr Anwalt.

    VERTOTSKI Danke. Herr Falin, denken sie wirklich, die Entwicklung haette sich damals aufhalten lassen.

    FALIN Ganz sicher bin ich mir nicht. Es ist allerdings kein Argument, auf historische Rechte zu verzichten, weil man sich vor Auseinandersetzungen fuerchtet.

    VERTOTSKI Haben Sie Gorbatschow das gesagt?

    FALIN Ja. Ich habe ihm noch viel mehr gesagt.

    VERTOTSKI Naemlich?

    FALIN Ich schlug vor, die Deutschen ein bisschen zu verunsichern.

    VERTOTSKI Auf welche Weise?

    FALIN Indem ich Kohl vor Augen fuehrte, dass er mit seinem 10-Punkte-Plan ein ziemlich grosses Risiko eingeht. Ich wollte ihm drohen.

    VERTOTSKI Wie reagierte Gorbatschow auf ihren Vorschlag?

    FALIN Er war damit einverstanden.

    VERTOTSKI Haben Sie mit Kohl gesprochen?

    FALIN Ja. Ich suchte ihn auf. Ich warnte ihn, es gebe Strategen bei uns, die sich seinen Kurs nicht bieten lassen wollten. Wir koennten in kuerzester Zeit eine Million Truppen schicken, um die Grenzen wieder dichtzumachen. Wenn wir in eiserner Manier vorgingen, wuerde die ganze Aktion nur wenige Stunden dauern.

    VERTOTSKI Da Gorbatschow Ihrem Vorschlag zustimmte, kann man ihm wohl kaum vorwerfen, er haette die deutsche Einheit gefoerdert.

    FALIN Naja. Im Grunde waren die 'Drohungen' an Kohl so etwas wie unser letztes Aufgebot. Ein reichlich schwacher Versuch. Er durchschaute mich. Besonders nach Schewardnadses Aeusserungen.

    VERTOTSKI Welche Aeusserungen?

    FALIN Schewardnadse hatte am Vortag ein Interview gegeben, worin er sagte, dass wir auf keinen Fall einen dritten Weltkrieg riskieren wuerden.

    (Das Telefon klingelt. Vorgov nimmt ab.)

    VORGOV Ich hatte gebeten, keine Gespraeche durchzustellen. - Ach so, gut. - Ja, Anatoli Vorgov. - Was? - Ist das endgueltig? - Ja. - Wissen Sie schon, wie es weiter geht? - Ach, Jelzin. - Gut dann. - Ein Telegramm? Nein, ich habe nichts erhalten? - Ja, auf wiederhoeren. (legt auf) - Meine Herren. Das war der Genosse Prokofjew. Das Notstandskommittee ist zurueckgetreten.

    STAGOV Unmoeglich!

    WARENNIKOV Ich habe es geahnt. Die Feiglinge.

    VORGOV Wie es aussieht, hat Jelzin die Kontrolle uebernommen.

    (Die Tuer oeffnet sich. Ein Soldat uebergibt Vorgov das Telegramm. Er liest es. Er steht auf.)

    VORGOV Dies ist ein Telegramm aus Moskau. Am besten, ich lese es vor. Auch die Genossen Falin und Gorbatschow sollten informiert sein. Also: "Notstandskommittee zurueckgetreten STOP Alle Dekrete ungueltig erklaert STOP Panzer aus Moskau abgezogen STOP Jelzin Fuehrung des Landes uebergetragen STOP Truppen unterwegs nach Sewastopol STOP Sollen Gorbatschow nach Moskau bringen STOP Weitere Anweisungen folgen." (Er setzt sich.) Was koennen wir jetzt noch tun?

    PUTOV Ich denke, bevor wir uns ueber die Konsequenzen besprechen, sollten wir dem Zeugen danken und seine Befragung beenden.

    VORGOV Ja. Es gibt keine weiteren Fragen? Also, vielen Dank, Genosse. (Falin verlaesst den Zeugenstand und die Buehne.) - Und nun?

    PUTOV Wie ich auf meiner Liste sehe, haetten wir jetzt noch drei weitere Zeugen, zwei von Herrn Stagov und einen, den die Verteidigung benannt hat. Aufgrund der neuen Entwicklung waere es vielleicht angebracht, auf die Zeugen zu verzichten und die Befragungen abzuschliessen. Ich denke, wir muessen unsere Einstellung insgesamt ueberdenken. Ob nicht die Grundlage fuer diese Untersuchung entfallen ist. Nach unseren Verhoeren sehe ich ohnehin keinen Hinweis auf Vergehen Gorbatschows.

    WARENNIKOV Ich moechte dem entschieden wiedersprechen, Genosse. Es gibt uebrigens auch keinen triftigen Grund, warum Sie die Leitung des Ausschusses uebernehmen sollten. Bitte, Genosse Vorgov ...

    VORGOV Nein, gewiss. (besinnt sich) Ich denke, wir muessen systematisch vorgehen. Zuerst die Frage, ob wir die Verhoere abschliessen wollen.

    STAGOV Genosse Vorsitzender, die Staatsanwaltschaft verzichtet auf ihre Zeugen.

    VORGOV Was ist mit der Verteidigung?

    VERTOTSKI Ich wuerde mich gern mit dem Generalsekretaer darueber beraten.

    VORGOV Eine gute Idee. Auch der Ausschuss sollte sich ueber die veraenderte Lage klar werden. Ich unterbreche die Sitzung.

    (Man erhebt sich. Ploetzlich wird die Tuer aufgerissen. Ein Major und mehrere Soldaten stuermen auf die Buehne. Sie draengen die beiden Wachen zur Seite und pflanzen sich breitbeinig vor dem Ausschuss auf.)

    MAJOR Bitte entschuldigen Sie unser Eindringen. Wir kommen aus Moskau und haben den dringenden Auftrag ...

    VORGOV Ich weiss, wir haben Sie erwartet - wenn auch nicht so frueh.

    MAJOR Woher wissen Sie?

    VORGOV Uns ist eine entsprechende Nachricht zugegangen.

    MAJOR Das wundert mich. Aber um so besser. Wenn Sie nichts dagegen haben.

    VORGOV Was sollten wir dagegen haben? Unsere Untersuchungen sind im wesentlichen abgeschlossen. Um so wichtiger, den Generalsekretaer so schnell wie moeglich nach Moskau zu bringen.

    MAJOR Ach so. Ja genau.

    (Gorbatschow erhebt sich)

    VORGOV Genosse Generalsekretaer, ich weiss nicht, wie das alles enden wird. Vielleicht sollte ich ...

    GORBATSCHOW Ich habe Sie gewarnt. Ein Staatsstreich ist kein Kavaliersdelikt.

    VORGOV Sie sollten Verstaendnis haben. Wir mussten unserePflicht tun ...

    GORBATSCHOW Sie werden sich fuer Ihr Handeln vor einem ordentlichen Gericht verantworten, dafuer werde ich persoenlich sorgen. - (zu den Soldaten:) Und nun bringt mich endlich hier weg.

    MAJOR (nickt seinen Maennern zu) Ihr wisst, was Ihr zu tun habt.

    (Zwei der Soldaten sehen sich an. Sie nehmen Gorbatschow in die Mitte und verlassen die Buehne. Der Major bleibt mit mindestens zwei anderen Soldaten in der Mitte des Raumes stehen.)

    VORGOV (nach einer kurzen Pause) Nun, Major?

    MAJOR Ich muss Sie bitten, noch einen Moment sitzen zu bleiben.

    (kurze Pause)

    PUTOV Was geht hier vor?

    MAJOR Was wir tun, duerfte durchaus in Ihrem Interesse sein.

    PUTOV (erhebt sich) Was tun Sie denn? Was haben Sie vor?

    MAJOR (zieht seine Pistole) Ich muss Sie nochmals bitten, sitzen zu bleiben und Ruhe zu bewahren.

    PUTOV Ich protestiere auf das Schaerfste gegen diese Zwangsmassnahme. Wer sind Sie?

    VORGOV (lacht) Ja. Ich wuerde auch gern wissen, was hier vorgeht.

    (draussen faellt ein Schuss)

    MAJOR Also gut. Wenn Sie so neugierig sind. Wir sind nicht die, die Sie wohl erwartet haben. Wir gehoeren nicht zur regulaeren Armee, auch wenn wir normale Uniformen tragen. Unser Auftrag war, das Problem Gorbatschow aus der Welt zu schaffen. Ich schaetze, das ist uns gelungen.

    (Die Soldaten verlassen die Buehne. Der Vorhang faellt.)