HARD TRAVELLING (PARIS)

Early one morning, the sun was shining ...

5 Uhr frueh. D. fand sich in einem stickigen Vorortzug, irgendwo in Holland. Dies war Westeuropa, doch man blickte fast ausschliesslich in asiatische oder afrikanische Gesichter. Ein paar Japaner mit 'Business Class' Zettelchen auf ihren stabilen Schalenkoffern, Inder indisch gekleidet, Malayen/Chinesen und Schwarze. Wohin die alle wollten? "Wenn dir das auffaellt, ist das schon latenter Rassismus?" fragte er sich schlecht gelaunt. Egal, er musste sowieso gleich wieder raus, in Den Haag wuerde er nur sieben Minuten haben, um den Express nach Paris zu erreichen.

Der Zug fuhr in eine Station ein. War das Den Haag? Und wenn ja, war das der richtige Bahnhof? Nach den Bezeichnungen auf den Schalttafeln gab es im Haag zwei Haltepunkte, beim Fahrkartenkauf hatte man ihm die genaue Bezeichnung des Umsteigebahnhofs jedoch nicht genannt. Eine Art Panik erfasste ihn. Wenn er den Anschluss verpasste ... Aber so waren sie, die Hollaender, das hatte er schon gemerkt, sie liessen keine Gelegenheit aus, Fremde mit halben oder schiefen Informationen zu aergern.

Sicherheitshalber quetschte er sich durch den Gang zur Tuer und schaute hinaus. Auch dort keine Erleuchtung, nur eine Menge vorwiegend einheimisches Volk war unten auf dem Bahnsteig versammelt, waehrend aussteigende Fahrgaeste an ihm vorbeidraengelten, und weit und breit kein Bahnbeamter in Sicht. Aus der Ferne kam schrilles Pfeifen. Anscheinend wollte sich der Zug schon wieder in Bewegung setzen. - - Und er war noch zu keiner Entscheidung gekommen! Die Panik steigerte sich zur Hysterie, kalter Schweiss benetzte seine Haut. Wenn er hier haengenblieb, wuerde ihn das mindestens einen Tag und alle Termine in Frankreich kosten. Was sollte er tun? 1:1 wuerde jede Entscheidung falsch sein.

Noch befand er sich im Zug. Ein Fahrgast, ein Malaye, hatte sich neben ihn gesellt (oder war's ein Thai, jedenfalls mit derber Visage), und D. bat um Auskunft, jedoch der Andere verstand ihn nicht, und auch, als D. auf Deutsch verzweifelt in die Menge rief, fuehlte sich niemand angesprochen.

"Oh, diese Hollaender!" dachte er aergerlich, "tun immer so, als ob sie kein Deutsch verstehen." Sie waren hartherzig und wollten nicht helfen, ums Verrecken nicht, sie ergoetzten sich insgeheim an seiner Ohnmacht. - Oder sie mochten sich einfach nicht von der Seite anquatschen lassen.

Das Pfeifen wurde lauter und schriller. Der Malaye war von der Tuer zurueckgetreten. Ruede rief er D. an, endlich auszusteigen. - Da loeste sich aus der Menge, wie ein Diamant aus der Asche, wie ein Tautropfen in der Wueste, oder wieimmer man das sonst bezeichnen mag, eine dunkelhaarige dunkelhaeutige Frauengestalt, Ende 20 mit huebschem Gesicht, die in schlechtem Englisch bestaetigte, ja, er muesse hier aussteigen.

Obwohl D. die groessten Zweifel hatte, ob sie verstand, worum es ging, und ihr auch keine so weitreichenden Kenntnisse des Fahrplanes zutraute, gab er nach, inzwischen voellig verunsichert, und sprang aus dem Zug, der sich gleich darauf in Bewegung setzte.

Sie winkte ihn her, erkannte wohl das Innerste seiner Panik, vielleicht weil sie selber fremd war, und mit ruhiger, energischer, wie eine Mutter, dabei samtweicher Stimme, sie haette mit diesen wunderbaren Stimmbaendern gar nicht anders sich artikulieren koennen, wies sie ihn an, ihr zu folgen. Er aber blickte umher und stellte fest, dass auf keinem der Gleise ein abfahrbereiter Zug stand. Wieder kam Angst hoch, doch da ihm nichts besseres einfiel, lief er ihr nach.

Sie fuehrte ihn zu den Anzeigetafeln, und waere er nicht so verzweifelt gewesen, er haette sie schon vorher genauer betrachtet. So nahm er es nur am Rande wahr, seine Not war wie eine schlechte oder beschlagene Brille, und doch drang dies durch sie hindurch: die Frau hatte den schoensten und breitesten Hintern, den man sich denken kann, es liess sich nicht anders sagen, nach hinten rund wie Halbkugeln, und nach oben in eine schmale Taille uebergehend. Und er steckte in so engen Jeans, dass man sich unwillkuerlich fragte, wie sie sich darin bewegen konnte. Es machte ihr anscheinend nichts aus, damit jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

"Sicherlich hat sie schon eine Menge Aufmerksamkeit auf sich gezogen", dachte D. matt. So eine frauliche Figur brachte ihn stets zum Traeumen. Sicher, das Muster war von niederen Trieben gespeist und schon seinen primitiven Urvaetern in die Gene gebrannt, und doch unwiderstehlich wie ... ja wie? Mir will kein rechter Vergleich einfallen, der nicht selber mit der Libido und ihrer Befriedigung zu tun hat. Denn geht nicht alles Schoene, bevor wir es als solches erkennen, durch die Triebwindungen unseres Hirns, und wird dort mit den Hormonen der Empathie und der Leidenschaft garniert, bevor es sich als Vorstellung dem Urteil unseres Bewusstseins aussetzt?

Derart schob sich ihr zuerst nur beilaeufig wahrgenommenes Aeusseres langsam ins Zentrum seiner Sinne. Und wenn er im Nachhinein das Bild vorueberziehen liess und er sich die Situation vergegenwaertigte, wurde ihm klar, fuer die Umstehenden mussten sie das Paar des Jahres abgegeben haben, ein unbeholfener verwirrter Weisser, dem eine ordinaere Schwarze aus der Klemme half. Und doch gab es wenig in seinem Leben, was so frei von Schuld war wie dieser kurze Augenblick.

Auf den Anschlagtafeln war kein Zug nach Paris verzeichnet. Sie liess sich aber dadurch nicht beirren und versuchte ihn gestenreich zu ueberzeugen, dass hier gleich einer abfahren werde.

D. mochte das nicht glauben. "I want to go to Paris", sagte er beschwoerend, mit einer seltsamen Mischung aus kritischer Verzweiflung und Sympathie in der Stimme.

"Yeah, it's okay, I just came from Paris", beharrte sie nachdruecklich, gleichsam als waere sie damit zur Expertin fuer alle Zuege von und nach der Hauptstadt avanciert.

Aber wenn Sie gerade aus Paris kam, warum stand sie dann noch hier auf dem Bahnhof herum? "But I want to go to Paris, to PARIS." rief er erregt und rueckte dabei unwillkuerlich naeher an sie heran, seine Stirn in bedenklichen Falten.

"Yes, it's okay." Geduldig empfahl sie ihm, sich dessen am Schalter zu vergewissern. Wieder in beruhigendem Tonfall, mit jener weichen fraulichen Stimme, in deren Klang ein Mann verloren gehen muss; Verheissung eines Nirvanas der Liebe ohne Alltagssorgen und nervtoetende Geschaeftstermine.

Doch hastig und grusslos wandte D. sich von ihr ab, und erfuhr, als er den hinter einer Litfasssaeule und einer Parfuemerie versteckten und zum Glueck (oder Unglueck?) schon besetzten Schalter endlich gefunden hatte, ja, der Zug nach Paris, von Gleis 6, in 3 Minuten.

Auf dem Weg zum Bahnsteig begegnete ihm nochmals seine Freundin. "Yes, there is a train to Paris, in 3 minutes", warf er ihr atemlos-dankbar hin. Sie war wirklich im richtigen Moment erschienen, Botin des Schicksals, und hatte ihn von beissenden Qualen erloest, seine Seele gereinigt. Das mag laecherlich klingen, doch genau so empfand er. Denn nichts laesst uns mehr verzweifeln als eine momentane Aussichtslosigkeit, die wir fuer absolut halten.

Sie stoppte. Da blieb auch er stehen und erkannte im klaren Weiss ihrer Augen eine Zuwendung, und ploetzlich verschob sich sein innerer Horizont. Anstelle harmloser Hilflosigkeit und Konzentration auf seinen Zeitplan begannen die Triebe zu rechnen. Wenn er sie nun fragte ... doch wie sollte das gehen, er musste ja fort.

Da fielen ihm die Adresskarten ein, schnell zog er eine aus der Tasche und hielt sie der Frau vor die Nase. "Here is my telephone number", sagte er eindringlich. "Please phone me, if you like." Zoegernd griff sie danach, sie schien nicht zu verstehen, bis er wiederholte "Please phone me." Da laechelte sie unsicher; er aber fand, es sei Zeit zum Bahnsteig zu rennen.

Tatsaechlich, jetzt stand dort ein Zug, daneben 2 feixende Bahnbeamte. Ob sie die Szene beobachtet hatten? Egal, die gehoerten, wenn nicht wirklich, so doch prinzipiell, zu jener boeswilligen schweigenden Meute, die ihn vorhin seinem Schicksal ueberlassen hatte, ihn bis Rotterdam haette weiterfahren lassen. Nur hinein also, gar nicht beachten die Leute, einen Sitzplatz gesucht und die Augen geschlossen.

Draussen rauschte das flache gruene Land pfeilschnell vorbei, er aber lehnte mit der Schulter gegen den Fensterrahmen und traeumte, und stellte sich vor, wie das waere, wenn sie anrufen wuerde, wo sie sich treffen koennten usw, - und im naechsten Moment zweifelte er schon, ob er je wieder etwas von ihr hoeren wuerde. Der fluechtige Augenblick ihres Zusammentreffens war jetzt schon verlorene Vergangenheit, um die er sehnsuchtsvoll trauerte.

So schnell aendern sich unsere Empfindungen! Vor einer halben Stunde noch war dieser Zug Grund seiner Panik und das aeusserste Ziel seiner Wuensche gewesen. Nun er drinnensass, ueberkam es ihn, dass er ihn besser verpasst haette, um sich mit der Schoenen bekannt machen zu koennen.

Doch D. ergab sich in sein Schicksal, er zog nicht die Notbremse und stieg auch nicht an der naechsten Station aus. Was haette das bringen sollen, sie war ohnehin ueber alle Berge, verschluckt von den unendlichen Windungen der Welt. Die naechste Stunde stierte er vor sich her, wieder reisemuede, waehrend der Zug durch die einsame Leere der Normandie eilte, a deuxieme terreur de jour.

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Nachmittags am Gare du Nord: Die Waggons spuckten wohl tausend Fahrgaeste aus, welche sich ueber die Bahnsteige ergossen und mit menschlichen Querstroemen aus Eingaengen und U-Bahnschaechten vermischten.

D. war ruhig und sorglos, schliesslich hatte er noch anderthalb Stunden bis zum Anschlusszug. Kein Problem, in der Zeit mit der Metro zum Gare de Lyon zu kommen, dachte er.

Er irrte gewaltig. Es fing damit an, dass sich unten in der Haupthalle kein Hinweis fand, wohin er sich wenden musste. Allein die Frage, welche U-Bahn-Linie zum Gare de Lyon fuehrte, konnte ihm anscheinend niemand beantworten. Die Franzosen koennen sich nicht vorstellen, dass ihre vergoetterte Hauptstadt fuer manchen Reisenden nur ein x-beliebiger Transitpunkt ist, den er so schnell wie moeglich hinter sich lassen will.

Obwohl er mehrere Passanten befragte, traf er niemanden mit Deutsch- oder Englischkenntnissen, manche hielten nicht einmal an, ueberall spuerte er Ablehnung, sie wollten nicht helfen, es war wie im Haag, wie eine Mauer, ja eine Verschwoerung. Konfus lief er hin und her; die SNCF Information schickte ihn mit vagen Fingerzeigen nach unten, das Metropersonal wieder hinauf.

Endlich befand er sich zwar im richtigen Tunnelabschnitt; aber nun hatte er keine Fahrkarte; und die benoetigte er, denn wenn kontrolliert wurde, wuerde er ohne Billet aufgehalten werden und womoeglich den Zug verpassen. Also wieder hinauf.

Er hatte gestern keine Francs gewechselt und besass schon gar keine Muenzen. - Aber irgendwo musste es doch eine Wechselstube geben! Und vielleicht, bitteschoen, ein Fahrkartenschalter, der sonntags besetzt war.

Aber vergeblich. Auf seiner Suche landete er schliesslich in einer grossen Seitenhalle mit einer Kuppel wie eine Kathedrale, ueber und ueber mit vanille-gelben Fliesen ausgekleidet. Hier war wenig Publikumsverkehr, nur in einer Ecke lungerten ein paar Nordafrikaner herum.

Einer von ihnen kam auf D. zu und ueberredete ihn gestenreich, ihm zu folgen. Es ging eine einsame Treppe hinab, und ploetzlich wurde D. Angst und Bange, wer weiss, was ihn am andern Ende erwartete. Vielleicht waren sie Raeuber und auf Faelle wie ihn spezialisiert? Er drehte bei und rannte zurueck in die Halle, der Andere rief ihm noch hinterher, aber da war D. schon ausser Sichtweite und stand endlich keuchend vor der Barriere, die sich nur mit Billet oeffnen liess.

Blick auf die Uhr, noch 35 Minuten. Fast eine Stunde hatte er hier sinnlos verplempert. Die fruehmorgendliche Panik kehrte zurueck.

Hier war keiner, der ihm helfen wuerde, jetzt musste er selber aktiv werden. Er wartete auf einen guenstigen Moment, wuchtete seinen Koffer hoch und sprang ueber die Absperrung. Satisfaction! Ohne sich umzudrehen oder um irgendetwas anderes zu kuemmern als das eigene Vorwaertskommen, hastete er in den Schacht, es war ihm gleich, keine Fahrkarte zu haben; wenn er noch laenger zoegerte, wuerde er den TGV auf jeden Fall verpassen.

Ein paar Minuten spaeter ruckte die Linie RERb an, was immer 'RERB' zu bedeuten hatte, mit D. an Bord. Niemand hatte ihm bisher schluessig den Weg zum Gare de Lyon erklaert, wie weit es war, ob und wo er noch einmal umsteigen musste, doch nach den rudimentaeren Informationen, die er erhalten hatte, war dies erstmal der richtige Zug.

Chaussee d'Elysee, Place de la Concorde, Place Pompidou, warum nicht den jungen Auslaender mit den wachen Augen und dem schwarzen Hut fragen, der ihm zufaellig gegenuebersass. Sein abgewetzter Nadelstreifenanzug und der von einer braunen Schnur zusammengehaltene Koffer wirkten hier, im Zentrum der Moderne, seltsam und deplaziert.

Tatsaechlich erfuellte sich D.s stille Hoffnung. Der Andere nickte freundlich, auch er wollte zum Gare de Lyon. Und vor allem besass er ein magisches Zettelchen, auf dem nachzulesen stand, wie man dorthin gelangte, zum Beispiel, dass man schon beim naechsten Halt umsteigen musste ... Also nichts wie 'raus hier.

D. schob sich durchs Gedraenge hinter dem Jungen her; ohne dessen kleine Nachhilfe waere er treubrav sitzengeblieben und mit RERb nach Ingoschetien weitergefahren. - Er wollte sich jetzt einfach hinter den Fremden klemmen, dessen Informationen und schnelle Auffassungsgabe wuerden ihn schon ans Ziel bringen.

Nach dem Umsteigen atemlose Konversation. Der Junge wollte wissen, woher er kam und was er machte, ob er geschaeftlich unterwegs sei, "on business", das Wort schien ihn zu faszinieren wie D. und seine Freunde einige Jahre und zwei Generationen vorher die klassenlose Gesellschaft, ein sonderbares Licht lag ueber seinem Gesicht, ein Eifer, der D.'s Interesse weckte, er fand den Jungen sympathisch, auch wenn er die falschen Ideale hatte. Naja, vielleicht wuerden sie ihn reich machen, eines Tages, dann taugten sie besser als jede Utopie, oder? ... oder sollte man verachten, was zuletzt nur Gier nach Geld war? D. hatte aufgegeben, ueber solche Probleme nachzudenken, er tat seine Arbeit und ueberliess den Ueberbau Anderen.

Als er ihm von seinem Job erzaehlte, war der Junge schwer beeindruckt, um so mehr da er mit dem teuren Zug weiterfahren wuerde. Und er revanchierte sich (um seinerseits D. zu beeindrucken) er komme aus oder wolle nach oder wasimmer, so gut war sein Englisch nicht und die Metro zu laut - AMERIKA. Und betonte diese vier Silben wie Schlagsahne. Fuer mittellose Einwanderer ist es das gelobte Land, dessen alleinige Erwaehnung die Stimmung hebt und behagliche Vorstellungen von Wohlstand, Reichtum und Freiheit weckt. D. hatte nichts gegen die USA, er liebte ihre Landschaften und Verwegenheiten; doch Wehmut war in seine Gefuehle gewebt, nicht allein einer alten Liebesgeschichte wegen; so manches dort, zuallererst liberty, war verbogen und gegens schwere Wetter der Gewinnsucht kaum zu reparieren.

In Chatelet wartete der Anschluss am Bahnsteig gegenueber, und am Gare de Lyon wies ihm der Fremde den Weg zu den Fernzuegen; er selbst bestieg eine der Vorortbahnen. D. wollte sich eben bedanken, doch Joseph ging grusslos davon, mit verschlossener Miene; so ist das in Momenten des Nimmerwiedersehens, beim Abschied fluechtiger Bekanntschaften, die nichts mehr voneinander erwarten und vielleicht schon bereuen, sich zuviel gesagt, zuweit geoeffnet zu haben.

D. erreichte rechtzeitig sein Ziel und konnte dort alle Termine wahrnehmen. Noch lange reflektierte er die Bedeutung jenes Tages. Die ihm geholfen hatten, wuerden ihr Leben schon machen. Der Kaduke war er.


Bemerkung: diese Kurzgeschichte eignet sich auch als Ausgangspunkt fuer einen langen komplizierte Krimi, D. koennte z.B. als Anwalt und Kurier fuer einen Industriespionagering arbeiten.


Copyright: B. Lampe, 1998

e-mail: Lampe.Bodo@web.de

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